Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde! - Predigt zu 1. Mose 1-4a von Henning Kiene
1-4a

Der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm. 1. Mose 12,1–4a

Den Geruch meiner Kindheit habe ich in der Nase. Das Scheuerpulver roch scharf nach Chlor, die Oma nach 4711 und das Schwimmbad nach Kokosnussöl. Wenn die Haustür zuschlug, klapperte das lose Schloss und auf der Straße nagelte der Dieselmotor in einem LKW. Als ich zuhause ausziehen wollte, hatte ich Angst vor den Tränen meiner Mutter und den traurigen Augen meines Vaters. Ich ging, als beide nicht da waren, das hatten wir verabredet. Ein letztes Mal machte ich die Runde durch die Wohnung. Das Scheuerpulver, die Flasche 4711, das Schwimmbad um die Straßenecke werden nun Vergangenheit sein. Beim Zuschlagen der Haustür waren die Augen schwer. Es wird alles gut werden, aber auch schwer sein. In der Magengrube aber spürte ich ein leises Ziehen, es mischte sich als wohliger Kitzel in den Abschied, ich spürte eine kaum zu bremsende Zuversicht. Die Lust auf Zukunft wurde stärker als die Fäden, die mich an Vergangenem festhalten wollten. Es war wie eine unbekannte Kraft, die mich sanft, aber energisch in die Zukunft schob.

Alles was ich für das neue Leben brauchte, trug ich in einem Koffer und der alten Reisetasche. Auch das Büchlein mit dem Gedicht von Hermann Hesse war dabei:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Aufbruch geht, wenn einem eine Verheißung Antrieb gibt, die verspricht Segen und lässt schon im Aufbruch ein Gelingen ahnen. Selbst die Untiefen des Lebens, selbst die Umbrüche, die wie eine Ahnung den Aufbruch begleiten, bremsen nicht. Verheißung gehört in das Lebensgepäck, wie bei Abraham und Lot, die von Ur aufbrechen. Sie verließen die quirlige Metropole im Zweistromland und waren sich der Verheißung Gottes sicher. „Ade, Vaterland, lebe wohl Verwandtschaft“, vielleicht haben auch Abraham und Lot noch einmal zurückgeblickt und gewunken, vielleicht flossen Tränen. Ich bin mir sicher, die Gerüche und Geräusche der Stadt Ur trugen beide mit, aber die Verheißung war stärker. Es ist wie im Evangelium, das wir gehört haben. Die Aufforderung Jesu überwindet die Trägheit, die sich einstellte. Die verzagenden Fischer hören: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ Sie wurden nicht enttäuscht.

Damals habe ich mir im Abschied das Hesse-Gedicht von den „Stufen“ leise aufgesagt und mich selbst ermuntert:

„Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden,
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“

Als Anfang März in diesem Jahr die ersten geflüchteten Frauen und Kinder aus der Ukraine vor unserem Rathaus standen, ahnte ich, wie hart das für sie ist. Abschied im Jahr 2022 heißt: Heimatverlust, vielleicht für lange Zeit, Männer weg, Lebenslust weg, Kreditkarte geht noch, aber dann steht auf dem Display „außer Funktion“, keine Sicherheit, keine Sprache mehr, die Brücke ist abgebrochen. Keine Ermutigung war in ihren Gesichtern zu lesen. Das Wort „Zeitenwende“, mit dem der Bundeskanzler diese Tage beschrieb, passte. Die Gesichter der Kinder waren ohne Neugier, die Augen riesengroß und matt, sie versuchten ein leeres Lächeln und hielten sich an der Mutter fest, klammerten sich an Omas Hand. Welche Gerüche ihnen wohl fehlen? Die kräftigen Gewürze, der Krach der lustigen Schulklasse, das Quietschen der Straßenbahn, das von der Straße in die Wohnung hineindringt. Ein Pass, der Kinderausweis, die Geburtsurkunde waren an der Grenze verloren. Es war, als wäre in der Panik der Flucht auch das Vertrauen auf der Strecke geblieben. Ohne Verheißung aufbrechen, ohne den Rückenwind der Hoffnung in ein fremdes Land gehen? Unvorstellbar! Es ist nicht unser Wohlstand, es ist dieser lange Frieden, in dem wir leben, den ich wie eine persönliche Verheißung nahm, ich dachte, es würde in Europa für immer so bleiben und ich fühlte mich so sicher. Dieses sichere Gefühl ist angeschlagen. Die Ermutigung Jesu aus dem Evangelium heute schiebt die Gedanken in eine neue Richtung. In allem Frust, dass ihre Vorräte schrumpfen, sagt Jesus: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“

Gerne hätte ich unsere Gäste aus der Ukraine nach den Gerüchen und Geräuschen gefragt. Sind es südliche Gewürze, deren Duft durch Charkiw, Odessa, Mariupol, Kiew ziehen? Doch ich schwieg, die Verheißung ist uns abhandengekommen. Abraham hörte „geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, dass ich dir zeigen werde“, ihnen aber dröhnten die Sirenen vom ersten Luftalarm noch in den Ohren, der Duft des geliebten Mannes, der sie beim schnellen Abschied fest mit beiden Armen drückte, ist ihnen noch in der Nase. Verheißung? Fehlanzeige.

Abrahams Aufbruch aus der Stadt Ur bleibt lebendig, seine letzte Runde durch die alte Heimat, ein letzter Blick aus dem Fenster auf den alten Innenhof, ein Winken am Bahnhof, sein Blick in den Rückspiegel, in dem alle Erinnerungen noch einmal auftauchen. Die Verheißung, die Gott ihm mit auf den Weg gab, ist stark. Er wird ein Segen sein. Das hatte er gehört. Diese Zusage lässt ihn tief durchatmen. Selbst dann, wenn die Zukunft anders ist, als ich sie mir gedacht hatte, tut der Moment voller Erwartung gut. Dann fällt hinter Abraham die Tür ins Schloss. Seine Schritte sind fest und sicher. So geht ein Mensch, der voller Zuversicht ist.

Jetzt aber fliehen sie vor Krieg, Angst und Bomben, aus kaputten Häusern, eingestürzten Kirchen, von Arbeitsplätzen, die ausgebrannt sind. Infrastruktur liegt in Schutt und Asche. Verheißungen haben es heute schwer. Zeitenwenden sehnen sich nach Verheißung. Ich will mich nicht von der Angst treiben lassen. Niemand kann es sich leisten, die Angst als Antriebskraft zu akzeptieren. Denn Angst kommt von Enge. Ich muss mich nicht einengen lassen. Und: Gott führt in die Weite, die suche ich. Zeitenwende kann nicht einfach heißen: „Wir liefern Waffen“ „Wir rüsten die Armee auf“. Zeitenwende heißt auch: „Wir suchen Wege zum Frieden und schaffen Zuversicht, öffnen uns neuen Perspektiven, schöpfen Hoffnung.“ Gott malt dem Abraham seine Zukunft mit großen Bildern aus und sagt: „Ich will dich zum großen Volk machen.“ Mehr Verheißung geht nicht.

Heute scheint die Verheißung zu schwächeln. Mit dem Wort von der Zeitenwende stellt sich kein wohliger Kitzel ein, der wie damals die Magengrube durchzieht. Nichts streckt sich neugierig in die Zukunft aus. Es gibt Zeiten im Leben, die sind ohne Perspektive, dann schrumpft das Wort „Verheißung“ zu einer wehmütigen Erinnerung zusammen. Heute ist es einfacher sich zu fürchten als Mut zu gewinnen. Man lebt in heilen Häusern in unversehrten Städten und Dörfern und zittert schon jetzt vor dem kommenden, vielleicht kalten, Winter. Erinnerungen an die Verheißungen sind zu einem kostbaren Gut geworden.

Damals schien das einfach, als junger Erwachsener las ich Hermann Hesse, fühlte mich getragen. Manchmal klingt das, als käme es aus weiter Ferne und ist schon fast vergessen:

„Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“

Heute lese ich von Abraham, der aus der Stadt mit dem Namen Ur aufbrach. Abraham hatte eine Zusage im Gepäck: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Ein sicheres Land, das wäre für viele Menschen schon viel. Hätte die Mutter aus Charkiw einen Bruchteil von diesem: „Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen“, uns allen wäre geholfen. Wären wir unserer Sache und unseres Glaubens nur ein wenig sicherer, uns allen ginge es besser. Vielleicht erleben wir eine Zeitenwende, ohne den starken Rückenwind einer Verheißung zu spüren. Viele Menschen, die ich kenne, sehen die Zukunft nur noch düster. Und ich sehne mich sehr nach der Verheißung und einem Wort Jesu: „Fahrt hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“

Jesus schickt seine Jüngerinnen und Jünger nicht in seichte Gewässer, sondern dahin, wo die See tief ist und dunkel, wo die Abgründe gefährlich drohen. Heute höre ich wieder die Zusage an Abraham, sein: „Geh in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Er hat nie gesagt, dass alles leicht wird und einfach. Dieser erste Mut von damals wird auch bei Abraham mehr als einmal auf die Probe gestellt. Ich erlebe unsere Zeit, als wären wir in schwere See, tiefe Wasser und eine große Herausforderung geraten. Es gibt Zeiten mit reduziertem Mut. Und doch liegt der Duft von 4711 in der Luft und der scharfe Geruch des Scheuerpulvers meiner Mutter häng schwer in der Nase. Abraham hört das Zuklappen der Haustür, er hat diesen Aufbruch nie vergessen.

Es ist eine Zeitenwende. Wieder ist da so ein aufregendes Kribbeln in der Gegend des Magens, das ist wie eine Verheißung, und das Bändchen mit dem Gedicht von Hermann Hesse ist auch noch da:

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“

Das, was nach diesem Aufbruch kommt, heißt immer noch Zukunft. Da ist nicht Untergang angesagt und Einsamkeit, da verspricht Gott seinen Segen. Abraham ist sich sicher, er ist mit Gottes Verheißung unterwegs. Eine Tür fällt ins Schloss, der alte Mut und das uralte Vertrauen melden sich in ihm zu Wort. Wenn er genau hin gespürt hat, dann war da wieder so ein wohliger Kitzel in der Magengrube, voller Zuversicht.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pastor Henning Kiene

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Gemeinde vor Ort ist verreist oder muss auch vom Sonntag für die Gäste, die die Insel Usedom genießen, arbeiten. Die Gemeinde wird sich vorwiegend aus Gästen und Patienten der Kurklinik zusammensetzen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Gedanke, dass Verheißungen bleiben und nicht zu vernichten sind. Auch die Entdeckung, dass Verheißungen in Krisen geraten und wieder an Gewicht gewinnen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Wiederentdeckung des Gedichtes „Stufen“. Es ist ebenso schlicht, wie ermutigend.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Coach hat mir exegetisch eine Richtung vorgeschlagen, die mir sehr geholfen hat. Das etwas Schwebende, das zu einer Zeitenwende dazu gehört, wollte ich jedoch erhalten.

 

Perikope
17.07.2022
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