Jesaja 42,1-9 (im Gottesdienst als Lesung)
Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter, an dem meine Seele Wohlgefallen hat. Ich habe ihm meinen Geist gegeben; er wird das Recht unter die Heiden bringen. Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen, bis er auf Erden das Recht aufrichte; und die Inseln warten auf seine Weisung. So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs, der dem Volk auf ihr den Atem gibt und Lebensodem denen, die auf ihr gehen: Ich, der Herr, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker. Ich, der Herr, das ist mein Name, ich will meine Ehre keinem andern geben noch meinen Ruhm den Götzen. Siehe, was ich früher verkündigt habe, ist gekommen. So verkündige ich auch Neues; ehe denn es sprosst, lasse ich’s euch hören.
Um diese Zeit im Jahr. Die meisten Christbäume haben jede Festlichkeit verloren. Sie türmen sich neben den Glascontainern auf dem Ablageplatz. Zweige zeigen ins Nirgendwo. Kümmerlich nasses Holz, als vergösse es nadelnd Tränen.
Aber nur so lange, bis ein vergessener Strohstern meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von feinem, rotem Garn zusammengehaltene Strohstrahlen. Am goldenen Band, das eine Hand erwartungsvoll über die Nadeln schob. Ein vergessener Stern genügt. Schon sehe ich den ganzen Baum wieder dastehen. Wie sie in einem Wohnzimmer vor ihm saßen. Satt vergnügt. Oder sattsam melancholisch. Meine Phantasie ist nicht mehr zu bremsen: Jeder Baum auf dem wilden Haufen Bote einer fremden Welt.
Vielleicht liegt es an mir: Wenn ich durch eine fremde Ortschaft spaziere, blitzen manchmal ganz ähnliche Gedanken auf. Besonders im Dunkeln. Wenn die leuchtende Wärme der Fenster ringsum das einfache Geheimnis illuminiert: Dass hinter jedem Fenster die gleiche Heimatbedürftigkeit wohnt. Meine Phantasie geht dann oft noch weiter. Wie es wohl wäre, auch hier zu leben. In dieser Stadt mit ihren Brücken. Es ist nicht so, dass ich dann gleich meinen Umzug plante. In mir erwacht nur die sachte Ahnung von einer fremden Welt.
Um diese Zeit im Jahr liegen solche Phantasien in der Luft. Du musst kein Typ sein, der Neujahrsvorsätze fasst. Es genügt schon, dass es Dir etwas schwerfällt, Dich an diese dritte 2 zu gewöhnen, wenn Du ein Formular ausfüllst: 2-0-2-2. Es liegt in der Luft, weil die Kalenderrücken noch ganz glatt sind und alle Termine noch pure Möglichkeit. Es liegt etwas in der Luft, von ungelebtem Leben. Von der Macht unserer Erwartungen, von schwebender Aufmerksamkeit.
Die jung gestorbene amerikanische Kinderbuchautorin Amy Krouse Rosenthal hat ihre Bedeutung in einem Tweet auf den Punkt gebracht: „An alle, die herausfinden möchten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollen: Achte darauf, worauf du achtest. Pay attention to what you pay attention to. Das enthält so ziemlich alle Informationen, die du brauchst.“
Es ist von Belang, was ich erwarte. Für welche Möglichkeiten ich Phantasie entwickele.
Jesaja liefert Worte für Gottes klare Vorstellung davon, welche Möglichkeit die entscheidende ist. Eine höchstpersönliche Vorstellung. Die Vorstellung einer Person, die wir in der Lesung hörten:
Siehe, das ist mein Knecht, den ich halte, und mein Auserwählter. Er wird nicht schreien noch rufen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen. In Treue trägt er das Recht hinaus.
Klar, dass Christinnen und Christen diese große Möglichkeit, diesen göttlichen Traum vom Knecht Gottes, gleich mit dem Krippenkind gleichsetzten. Mit dem mächtig sanftmütigen Christus. Aber durch diese klare Identifikation geht auch etwas verloren. Schwindet die Phantasie. Die schwebende Aufmerksamkeit dafür, wie die Vorstellung dieses Knechtes eine weltverändernde Kraft freisetzt.
Dabei ist sie so nötig. Jedenfalls kann ich das von mir sagen. Und wir haben zwar unter unterschiedlichen Bäumen gefeiert und wohnen hinter unseren eigenen Fenstern. Aber ich glaube doch, dass wir uns darin gar nicht so sehr unterscheiden. In der Frage, worauf wir normalerweise vor allem achten. Von wem wir etwas erwarten. Das Entscheidende erwarten. Wenn es drauf ankommt.
Sicher: Der eine liest zum Frühstück die MZ, die andere in der Mittagspause BILD. Du in Reihe vier vielleicht permanent Spiegel Online. Aber auf Schlagzeilen sind die meisten gepolt.
Die eine hört gerne jemandem bei YouTube zu und der andere Radio. Aber wir alle hängen an den Lippen von Menschen. Meistens den Eloquenten, Schönen, Klugen. Auch den Lauten. Ich nerve mich selbst damit – aber es wäre gelogen, wenn ich sagte, ich überhöre sie souverän.
Wir warten gespannt, was die neue Regierung so zuwege bringt. Lassen uns beeindrucken, von geistreichen Sätzen. Und kommen nicht drumherum, wenn montags welche mit ihrer Wut lauthals „spazieren gehen“, auch direkt vor dieser Kirche.
Ja, kann ich nur seufzen: Achte darauf, worauf du achtest!
Er wird nicht schreien noch rufen, und seine Stimme wird man nicht hören auf den Gassen. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen. In Treue trägt er das Recht hinaus. […] und die Inseln warten auf seine Weisung.
Die Worte Jesajas sind zu geheimnisvoll, um sie schnell mal abzuhaken. Wie fremd-vertraute Möglichkeiten eines neuen Jahrs. Wie das vertraute völlig Unbekannte eines erleuchteten Fensters. Wie – und so stimmt es dann doch – der Weg, den Jesus geht. Sie sind ja für diesen Planeten gesagt. Für diese Zeit. Für Euch. Für die Frage, worauf Ihr achtet. Wovon ich etwas erwarte. Und von wem Du. Was ich, was Du als Macht begreifst. Was Dich überzeugt.
Denn so stellen es diese Gottesworte ja vor: Keine Alternative zur Macht. Sondern: Einen schüchterleisen Machtmenschen. Keinen Inbegriff von Ohnmacht. Sondern: Herrschaft im Dienst des wundflatternden Lebens, der Tränenzeiten.
Achte nur mal darauf!
Als virtuose Pianistin hat Hélène Grimaud höchste Auszeichnungen erhalten. Sie spielt auf den ganz großen Bühnen. Man kann in ihr ein Musterbeispiel für Erfolg, Karriere, Leben im Scheinwerferlicht sehen. Aber fragt man sie selbst, wo die Größe ihrer Kunst herkommt, sagt sie Sätze wie: „Ich werde eins mit der Musik, mit dem Werk, und ganz klein. […] Ich […] fühle ich mich wie ein Staubkorn im Universum. Und das ist ein sehr angenehmes Gefühl. Es ist nämlich überhaupt nicht demütigend, sich klein und unbedeutend zu fühlen, sondern wundervoll. […] Es ist manchmal eine Gratwanderung – zwischen dem Selbstvertrauen, das man braucht, um da rauszugehen, sich hinzusetzen und zu spielen, und der Unsicherheit, ob man auch stark genug ist.“
Achtet darauf!
Aber – geht davon Macht aus, auf diesem Planeten? Desmond Tutu, der am zweiten Weihnachtstag gestorbene Erzbischof von Kapstadt, scheute die klaren Worte nie. Dem rassistischen Regime Südafrikas gegenüber. Aber auch, als die einst Unterdrückten Regierungsverantwortung übernahmen. Zäh mahnte Tutu Recht an, das zuerst die Schwächsten schützt. Nach dem Schlüsselmoment seines Lebens befragt, erzählte er von dem Tag, an dem er als Neunjähriger mit seiner Mutter die Straße entlanglief. Apartheid war die zum Himmel schreiende Normalität. Dazu gehörte: Von Menschen schwarzer Hautfarbe wurde selbstverständlich erwartet, in die Gosse zu treten, wenn Weiße entgegenkamen – und den Kopf zu senken. An diesem Tag aber kam ein Mann entgegen, ein „Weißer“, der selbst Platz machte, die Hand zum Gruß an seinen Hut legte. „Das ist ein Mann Gottes“, sagte Tutus Mutter. Das entschied die Sache für Tutu: Auch ein Mann Gottes werden zu wollen. Ja, die Geste dessen, der zurückweicht, verändert die Welt!
So besehen schwingt noch eine geheimnisvolle Offenheit mit, in den Worten von Gottes Knecht.
Ich, der HERR, habe dich gerufen in Gerechtigkeit und halte dich bei der Hand. Ich habe dich geschaffen und bestimmt zum Bund für das Volk, zum Licht der Heiden, dass du die Augen der Blinden öffnen sollst und die Gefangenen aus dem Gefängnis führen und, die da sitzen in der Finsternis, aus dem Kerker.
Diese Worte können das ganze Volk Israel meinen. Ein Volk, in dem Gottes Zuwendung Gestalt annimmt, eine Einladung an die weite Welt. Der lang erwartete Messias kann gemeint sein. Oder für uns Christenmenschen: Der in der Krippe zur Welt gekommene Jesus. Diese Worte können aber genauso gut eine zeitlose Möglichkeit in die Luft legen.
Die Möglichkeit, dass das ein und dasselbe ist: Darauf zu achten, wo die Sorge für den glimmenden Docht den Maßstab gibt, für Macht und Recht. Die Sorge ums Leben am seidenen Faden. Am Sauerstoffgerät. Und: Eine Phantasie für Gottes Gerechtigkeit zu entwickeln.
Dass es ein und dasselbe ist: Darauf zu achten, wo das große Wort der Freiheit zuerst gefragt ist. Unter den Eingekerkerten. Unter ängstlichen Gotteskindern, steif gefroren im Grenzstreifen. Und: Eine Phantasie für Gott zu entwickeln, der befreien wird.
Dass es ein und dasselbe ist: Den Knecht Gottes zu erwarten. Und: Seiner Herrschaft Raum zu geben. Der Sinn fürs noch ungelebte Leben, gerade um diese Zeit im Jahr. Und: Offene Augen haben.
Ja, es kann tatsächlich sein! Achte darauf: Die meisten Christbäume haben alle Festlichkeit verloren. Sie türmen sich neben den Glascontainern auf dem Ablageplatz. Zweige zeigen ins Nirgendwo. Aber der Weihnachtsstern geht auf, über aller Zeit.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt halte ich in der Schlosskirche in Lutherstadt Wittenberg. Am Tag vor Schulbeginn nach den Weihnachtsferien, im Übergang in den 'normalen Takt' des beginnenden Jahres also, soweit das die Pandemie zulässt. In den Wintermonaten sind wenige Tourist:innen in der Stadt und ihren beiden Reformations-Kirchen. Ich finde, dass die (im 19. Jh. gemäß dem preußischen Verständnis von Reformationsgedenken) üppig ausgestattete Schlosskirche gerade dann Akzente von Weichheit, Berührbarkeit benötigt.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich eine im Grunde meditative Übung: Für den Moment auszublenden, dass die Gottesknecht-Texte des Jesaja-Buches so oft unter der Frage der Identifikation ("Wer ist damit gemeint?") behandelt wurden. Um dann selbst auf die Suche nach Spuren der Haltung und Wirklichkeit zu gehen, für die diese Skizze von einem "Knecht" steht. Wo Zartheit als Machtfaktor vorkommt, zum Beispiel. Ich habe dann versucht, diese Form der meditativen Phantasie durch die Predigt hindurch spürbar zu machen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Als kritische Rückfrage an mich selbst: Wem schenke ich eigentlich Gehör? Auf wessen Stimme gebe ich etwas? Woran orientiere ich mich, wenn es darauf ankommt? Gewiss keine bahnbrechend neue Entdeckung, aber in dieser Zuspitzung eine Lebensfrage. Ich glaube, ziemlich kompatibel mit der gut evangelischen Idee: Das strengt am Ende gar nicht an. Sondern befreit.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Vor allem ein Gedanke zur Struktur: Figuren "auf der Spur des Gottesknechtes" sind das eine. Und die Möglichkeit, daraus eine inspirierende Haltung für uns alle zu machen, ein Zweites. Auch, wenn es gedanklich eng verbunden ist: Gut zu hören ist es erst, wenn ich es klar benenne. Und, wie immer: schmerzhafte, notwendige Trennung von einigen Seiten- und Lieblingsgedanken.