Da stehe ich als Kind an der Grenze zu einem wahren Wunderland. In Leuchtbuchstaben steht es groß über der Straße: „Kramermarkt“. Das erste Mal auf diesem Riesenfest in Oldenburg. Die Kirmesorgel gleich vornean begrüßt uns mit lautem Tschingderassabumm. Blinkende Glühbirnen in allen Farben an den Fahrgeschäften, der Duft von Bratwurst und gebrannten Mandeln. Und dann stehe ich kleiner Knirps auf einmal vor dem Riesenrad: So hoch, so groß! Boah! Und der Unterkiefer klappt runter.
„Mund zu. Herz wird kalt.“, sagt mein Vater. Das ist so einer seiner Sprüche. Und der erschloss sich mir als Kind sofort: Wenn durch den offenen Mund die kalte Luft durch den Hals in die Brust kommt, dann wird das Herz ja auch kalt. Und wer will schon ein kaltes Herz haben? Also schnell den Mund zu und weiterstaunen.
Da stehen sie an der Grenze zu einem wahren Wunderland. In den Wolken steht es über ihnen geschrieben: „Das gelobte Land“. Was für ein Moment! Die Herzen klopfen bis zum Hals. Vierzig Jahre lang waren die Israeliten in der Wüste unterwegs und sind nun fast da. Wie wird das neue Land sein? Wie wird es schmecken? Hoffentlich nicht nach Manna und Wachteln, das haben sie über.
Vor dem Volk steht Mose, schon sehr alt, der sie den ganzen Weg geführt hat. Und Mose weiß, dass er nicht mehr hineinkommt in das Land. Für ihn heißt es langsam Abschied nehmen. Und so hält er eine große Rede. Er schaut zurück auf den ganzen Weg, und er gibt dem Volk noch einmal die zehn Gebote mit. Und auch sonstige Gebote, Regeln, Vorschriften, Verordnungen. Er redet und redet und redet und das Volk vor ihm ertrinkt in Worten.
Wie um Gottes Willen soll man all diese Regeln im Kopf behalten? Und wer um Gottes Willen kann all diese Regeln und Gebote überhaupt erfüllen? So stehen sie da, an der Schwelle, fassungslos und mit offenem Mund.
Denn für die meisten ist das alles viel zu hoch. Und viel zu weit weg von ihrem Leben. Zu hoch und zu weit. Und die Zweifel kommen und nisten sich im Herzen ein. Und das Herz wird kalt.
Ich stelle mir vor, wie Mose auf einmal die offenen Münder sieht und erschrickt. Das wollte er doch nicht, sein Volk überfordern. Und darum tröstet er es nun:
„Dieses Gebot, das ich dir heute gebiete, ist dir nicht zu hoch und nicht zu fern. Es ist nicht im Himmel, dass du sagen müsstest: Wer will für uns in den Himmel fahren, und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Es ist auch nicht jenseits des Meeres, dass du sagen müsstest: Wer will für uns über das Meer fahren und es uns holen, dass wir’s hören und tun? Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ (Deuteronomium 30,11-14)
Ich mag diesen Text. Mich berühren diese Bilder, vor allem der Himmel und das Meer. Die Sehnsucht nach unendlicher Weite. Hoch über mir der strahlendblaue Himmel, fern hinterm Meer noch unbekannte Urlaubsziele. Herrlich! Und dann fühl ich mich ertappt. Genau sollen Gottes Worte ja nicht sein. Hoch und fern.
Aber genauso erlebe ich sie immer wieder. Auch ich als Theologe. Manchmal scheinen mir Gott und sein Wort unendlich weit weg.
Viel zu hoch ist mir das, was ich manchmal bei Paulus lese, mit seinem Kopf da oben in den Wolken: Der macht es oft aber auch kompliziert!
Und viel zu weit weg, noch hinter dem Horizont, ist es, was ich an unzähligen Regeln und Vorschriften aus der Tora lese: So uralt und weit weg von meinem Leben heute.
So hoch und so fern, da habe ich selber schon keine Lust mehr mich auf den Weg zu machen. Da schicke ich doch lieber jemanden los, der mir den Paulus aus den Wolken und den Levitikus von jenseits des Meeres holt, und mir das erst einmal übersetzt und ins Heute überträgt. Gibt ja genug kluge Menschen, die genug kluge Bücher geschrieben haben. Das kann ich mir dann ja anhören, mit dann ein Urteil bilden und überlegen, was ich damit mache.
Aber da steht der alte Mose vor mir und schüttelt den Kopf.
Nein, sagt er leise. Du brauchst niemand losschicken. Du brauchst keinen Ballonfahrer und keinen Hochseekapitän, du brauchst keinen Wortholer und keine Übersetzerin, keine Theologin, keinen Uni-Professor, keinen Papst und keine Pastorin.
Denn es ist das Wort ganz nah bei dir. Wie nah? Ganz nah. Wie nah? Wie der Geschmack in deinem Mund. Also: Mund zu. Und schmecken.
Zutaten:
100 g Korinthen
4 Stangen Staudensellerie
30 g Pinienkerne
40 g Kapern, plus 2 EL Lake aus dem Glas
40 g entsteinte große grüne Oliven
Und dann hör ich schon auf zu lesen. Lauter Zutaten, die ich nicht mag. - Wer hatte mir nochmal dieses komische Kochbuch von Ottolenghi empfohlen? - Ok, die Pinienkerne gehen ja noch. Aber der Rest? Grässlich! Viel zu viel, viel zu intensiv. Salzig, sauer, süß, herb. Wer soll das alles schmecken können? Die totale Überforderung im Kopf. Und doch fasziniert es mich, dieses Rezept einer Pinienkernsalsa zu gebratenem Lachs. Und ich kaufe mir diese ganzen komischen Zutaten und ich probiere es aus.
Und siehe: Was mein Kopf nicht zusammenbekommt, das schafft mein Mund. Der ganze Mund ist voll Geschmack, herrlich, unbeschreiblich, nicht in Worte zu fassen. Und mein Herz wird warm und ich lächle.
Ein jüdischer Theologe sagte einmal, dass Juden und Jüdinnen nicht zuerst nach dem Sinn der Gebote fragen, sondern nach dem ta’am, dem Geschmack, dem Aroma. (Deeg/Schüle: Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte, Leipzig 2018, S. 419 mit Verweis auf Abraham Joshua Heschel)
Die Worte in der Bibel sind für uns Menschen oft viel zu viel, viel zu intensiv, die totale Überforderung im Kopf. Aber Gottes Wort muss man nicht so sehr denken, als vielmehr schmecken, es sich auf der Zunge zergehen lassen. In Psalm 1 heißt es: Wohl dem, der über Gottes Wort nachsinnt Tag und Nacht, wörtlich: der über seine Weisung murmelt tags und nachts. Der Gottes Wort immer wieder in seinem Mund bewegt, der es wiederkäut und schmeckt, wie Schwarzbrot, das nach langem Kauen süß wird.
Und aus dem Geschmack wächst die Tat: „Denn es ist das Wort ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Herz und Mund und Tat und Leben.
Liebe F.,
Fast zwei Jahre bist du mit vielen anderen durch die Konfirmandenzeit gewandert und stehst heute an einer Schwelle. „Erwachsenenleben“ steht in Leuchtbuchstaben über deinen zukünftigen Weg. Und die Orgel spielt heute dazu ein Tschingderassabumm.
Wir haben Euch in der Konfirmandenzeit gezeigt, wofür unser Herz schlägt. Und ihr habt einen kleinen Einblick in das Leben als Christen bekommen. Die Konfirmandenzeit war dabei nur eine Art Vorspeisenvariation, ein Appetitmacher. Das Leben als Christenmensch hält noch viel mehr bereit.
Für den heutigen Tag deiner Konfirmation hast Du Dir einen Satz, nur einen einzigen Satz aus diesem dicken Buch ausgesucht. Und das reicht als Anfang. Durchkaue diesen Satz, schmeck ihm nach. Und irgendwann wird er süß. Und er wird dein Herz wärmen. Und du willst ihn nicht mehr missen.
Das Leben, was vor dir liegt, ist nicht immer Kramermarkt. Aber es ist auch nicht immer Wüste.
Mit dem Segen, den ich dir heute zuspreche, verspricht dir Gott:
Ich bin bei dir, komme, was kommt.
Ich bin nicht droben im Himmel und nicht hinter dem Meer,
Ich bin ganz nah bei dir.
Wie nah?
So nah wie mein Wort.
So nah wie der Geschmack in deinem Mund.
Dass du lebst und schmeckst:
Alles, Wort und Pinienkern.
Dass du schmeckst und so lebst:
Gottes Kind in dieser Welt.
Aus vollem Herzen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Langsam kommt die vertraute Gemeinde wieder zurück in die Kirche und seit drei Wochen dürfen wir auch wieder singen. Die Gemeinde ist gar nicht so bildungsbürgerlich wie es scheint. Viele ha-ben Interesse an den biblischen Texten, aber vielen ist manches auch zu hoch und zu weit weg. In dem Gottesdienst wird F. konfirmiert. Sie hat sich als einzige für diesen Termin entschieden und freut sich auf diesen Tag.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Text ist so schön (als Norddeutscher liebe ich Himmel und Meer), dass ich am liebsten ihn einfach so stehen gelassen hätte. Und dann kam das kulinarische: Wenn Gottes Wort in meinem Mund ist, wie schmeckt es dann?
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Meine Einsicht ist wieder: Weniger ist mehr. Zwei Teile (u.a. zur Corona-Demonstration) sind während der Überarbeitung noch herausgeflogen. Und das Zitat meines Vaters ist durch die Erzählung zu Anfang noch konkreter geworden.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich bin der Predigtcoach dankbar für den Hinweis auf den zunächst indifferenten An-fang und dass ich am Ende konkreter werden könnte. Die Anrede an die Konfirmandin ist ein Versuch dessen.