Zeitenwende
Der Feigenbaum im Hof
Meist nimmt sie den Hintereingang zum Büro. Der Hof liegt versteckt, mit dem Fahrrad rollt sie direkt auf die Mülltonnen zu. Dort, zwischen Raucherecke und Fahrradschuppen steht diese Bank, auf der nie jemand sitzt. Oft steht dort Herr K. aus dem Erdgeschoss, nippt schweigend am Kaffee und grüßt nur zurück, niemals selbst.
Manchmal ist dies der Ort, an dem sie kurz anhält und die Regenhose überzieht, wenn es bei schlechtem Wetter nachhause geht. An allen anderen Tagen eilt sie vorbei: Das Summen des Öffners, das Klappern der Tür, diskret und neutral erfasst ein grauer Pieper ihre Arbeitszeit.
Es hat Tage, nein, Wochen gebraucht, bis sie ihn zum ersten Mal richtig gesehen hat, den riesigen Feigenbaum mit seinen großen Blättern und den kleinen grünen Früchten. Erst als Christiane aus dem ersten Stock im Herbst von Marmelade sprach, war ihre Neugier geweckt. In diesem Jahr hat sie zum ersten Mal selbst von den süßen Früchten geerntet. Ihr klebriger Saft war ein bisschen wie eine Mahnung: Vergiss uns nicht.
Inzwischen ist Winter. Die Tage sind dunkel und kurz. Im Büro ist es kalt, in den Wohnungen auch. Dicke Pullis und Decken, wenig Licht. So lang und so heiß war der Sommer in diesem Jahr. Jetzt, im November, rückt das alles in sehr weite Ferne.
Der Predigttext (Markus 13,28-37)
„An dem Feigenbaum aber lernt ein Gleichnis: Wenn seine Zweige saftig werden und Blätter treiben, so wisst ihr, dass der Sommer nahe ist. Ebenso auch, wenn ihr seht, dass dies geschieht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist. Wahrlich, ich sage euch: Dieses Geschlecht wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht. Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen. Von jenem Tage aber oder der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist. Es ist wie bei einem Menschen, der über Land zog und verließ sein Haus und gab seinen Knechten Vollmacht, einem jeden seine Arbeit, und gebot dem Türhüter, er sollte wachen: So wacht nun; denn ihr wisst nicht, wann der Herr des Hauses kommt, ob am Abend oder zu Mitternacht oder um den Hahnenschrei oder am Morgen, damit er euch nicht schlafend finde, wenn er plötzlich kommt. Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!“
Vom Ende der Tage
Das Markusevangelium erzählt hier vom Ende der Tage. Gott ist der Schöpfer des Alls, und er ist der Herr unserer Zeit.
Der Gedanke an das Ende fällt uns nicht leicht. Niemand weiß, wann es so weit ist, und plötzlich ist der Zeitpunkt da. Jede und jeder, der im persönlichen Umfeld schon einmal mit dem Tod konfrontiert war, kennt solche Gedanken. Wir wissen nicht, wann die Zeit kommt. Meist scheint sie uns viel zu früh. Dann sind wir erschrocken, komplett überfordert.
Und so ist es gut, sich das immer wieder einmal ins Gedächtnis zu holen: Lebenszeit ist begrenzt. Die der anderen und die eigene auch. Die gemeinsame Zeit mit Familie, Partnerin oder Partner, die Zeit mit den Kindern, mit Freundinnen, Freunden: Sie wird nicht für immer sein. Wachet! Und genießt, solange es möglich ist.
Und das gilt auch für die Welt um uns herum. Vieles ist einfach immer da und wirkt unveränderlich. Mit der Zeit merke ich: An alten Häusern bröckelt die Fassade. Der liebste Baum wird einfach morsch. Aus dem Teich meiner Kindheit ist ein Tümpel geworden. Nichts ist von Dauer. Da verändert sich was. Was ich für gewiss hielt, gerät auf einmal ins Wanken.
Vergänglichkeit ist das Thema. Das Ende der Zeit und das Ende des Lebens. Der Gang auf den Friedhof gehört in diesen Tagen für Viele von uns dazu. Mit grünen Tannenzweigen, mit violetten, roten, weißen Lichtern auf dem Grab erinnern wir beides: Die Bitterkeit des Todes und die Hoffnung auf die Ewigkeit. Da ist das, was vorbei ist, und das, was noch kommt.
Ein Gefühl von Untergang
Wenige Tage nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sprach Bundeskanzler Olaf Scholz zum ersten Mal von einer „Zeitenwende“. Das war Ende Februar. Seitdem spüren wir von Woche zu Woche mehr, was das für uns bedeutet: Da ist Krieg in Europa. Das belastet mich und macht Angst. Alles ist teurer geworden – wie warm kann ich heizen, damit die Rechnung noch bezahlbar bleibt? In den Nachrichten geht es um Armut und Hunger in den Ländern des Südens – und nun auch bei uns. Der Fortschritt, die Zukunft, die ich für sicher hielt, wird auf einmal in Frage gestellt. Und das geht so schnell – wie komme ich gedanklich da nur hinterher?
Raue Zeiten, ein „Epochenbruch". Manches, was ich in diesen Wochen höre, erinnert mich an Visionen der Endzeit, wie auch die Bibel sie kennt. Die Zerstörung des Heiligtums, der Weg ins Exil. Unheil, Tod und großes Leid sind den Menschen zur Zeit Jesu vertraut. Gleichzeitig reden sie von Gottes Güte und Treue. Was also bleibt? Was ist mein Anker im Tod und im Leben? Wo ist meine Rettung, wenn alles ins Wanken gerät?
Was bleibt
Aller Vergänglichkeit, allen Veränderungen steht einer entgegen: Der Vater. Gott selbst. Jesus, sein Sohn, dessen Ruf wir im Gleichnis hören: Seht euch vor! Wachet! Beachtet die Zeichen der Zeit. Seid kluge Zeitgenossen, macht euch Gedanken über das Ende, über den Tod und das Leben. Habt keine Angst, aber behaltet im Blick, dass wir zerbrechlich und endlich sind. Wachet! Und passt aufeinander auf. Was immer geschieht und euer Leben durcheinander bringt: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Haltet euch fest daran, sie geben euch Sicherheit.
Worte für die Ewigkeit
Wie aber lauten diese Worte? Gemeinsam können wir sie sammeln: Vielleicht die großen zuerst: Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Zuversicht. Trost.
Und für den Hausgebrauch tun es vielleicht auch schon kleine Worte: Ich komm‘ vorbei, sagt die Freundin. Ein Gefühl von Verbundenheit. Ich hab‘ die Suppe gekocht, die du so gerne magst. Da ist der Gruß auf dem Handy, der sagt: Ich denke an dich. Da ist die Nachbarin, die im Vorbeigehen einen Apfel aus dem Garten schenkt. Ein Anruf am Abend: Wie war denn dein Tag?
Kleine Zeichen, die mich berühren. Kleine Schätze, die bleiben. Worte und Signale, die aufbauen, nicht zerstören. Ich bin in Gedanken bei dir. Ich zünde eine Kerze an. Ich trage das Gute im Gedächtnis, auch wenn es lange Zeit her ist. Anker und Haltepunkte: „Meine Worte werden nicht vergehen.“ Was auch immer geschieht: Es gibt Dinge, Symbole, die tragen uns durch. Bis zum Ende der Zeit und darüber hinaus.
An diesem letzten Sonntag im Kirchenjahr gedenken wir der Menschen, die verstorben sind. Wir vergessen sie nicht, wir bewahren sie in der Erinnerung. Wir legen sie in Gottes Hand, wir nennen ihre Namen im Gebet und stellen Lichter für sie auf.
Erinnerung im Marmeladenglas
Von der süßen, braunen Feigenmarmelade ist genau noch ein Glas da. Sie hütet es wie einen kleinen Schatz in ihrem Vorratsschrank. Vielleicht wird sie es bald mal öffnen. Wie konserviertes Sonnenlicht ist das, Erinnerung und Vorgeschmack zugleich. Ein bisschen Sommer in diesem Herbst.
Der Feigenbaum steht da, in seinem Eck im Hinterhof. Still sammelt er im Boden neue Kraft. Sie denkt an ihn, wenn sie jetzt wieder im Homeoffice sitzt. Himmel und Erde werden vergehen. Der Feigenbaum bleibt. Vielleicht trägt er im Sommer wieder seine süße, klebrige Frucht.
Dunkelheit, Abschied, Trauer und Sorge. Das alles nimmt sich heute seinen Raum. Jedoch, im Kerzenlicht glänzt auch viel Schönes. Kleine Schätze wie das Marmeladenglas. Worte und Bilder, Gerüche und Orte, die sie verbindet mit denen, die ihr fehlen. Und mit denen, die da sind und zu ihr gehören. Glaube und Hoffnung und Liebe.
Und schließlich ist da Gott. Der Ewige. Die Stimme, die sagt: Ich bin da. Ich selbst bin das Wort, das bleibt.
Und da ist Christus, der zu uns spricht: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Ich bin bei euch alle Tage, heute, morgen und in Ewigkeit.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Das Gedenken der Verstorbenen („Totensonntag“) ist vielerorts ein eigener Kasus und daher nicht alleiniges Thema dieser Predigt. Individuelle Trauer und allgemeine Traurigkeit, die dunkle Stimmung des Novembers in diesem krisenhaften Jahr sind zu bedenken – um dann den Blick zu richten auf den und auf das, was diesem Dunkel gegenübersteht: Das Wort des lebendigen Gottes.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Erinnerung an den real existierenden Feigenbaum, aus dessen Früchten ich in diesem Jahr tatsächlich Marmelade kochen konnte. Die Erkenntnis, dass dies ein Bild dafür sein könnte, wie ich Erinnerung bewahren kann, um sie zur Wurzel meiner Hoffnungen zu machen: Erinnerung und Vorgeschmack zugleich.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Ruf zur Wachsamkeit angesichts des nahenden Endes hat nichts Bedrohliches. Er ist Ausdruck von Klugheit und Weitsicht.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Große theologische Einsichten und Begriffe in kleine, alltägliche, persönliche Erfahrungen zu „übersetzen“ – das ist eine lohnende Aufgabe und große Kunst. Dabei gilt jedes Mal: Weniger ist mehr.