Zeitgewinn
Und nun ihr, die ihr sagt: Heute oder morgen wollen wir in die oder die Stadt gehen und wollen ein Jahr dort zubringen und Handel treiben und Gewinn machen - , und wisst nicht, was morgen sein wird. Was ist euer Leben? Ein Rauch seid ihr, der eine kleine Zeit bleibt und dann verschwindet. Dagegen solltet ihr sagen: Wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.
Liebe Gemeinde!
Auf der Fahrt von einem Jahr zum andern haben wir Halt gemacht in der Kirche. So wie manche es tun bei einer Urlaubsreise, wenn sie ein Gotteshaus aufsuchen und eine Kerze anzünden und ein Gebet zum Himmel schicken für sich selbst und für die Ihren. Heute tun wir das auch, in Gedanken zumindest. Denn „wir wissen nicht, was morgen sein wird“. Da möchten wir uns dem Licht gern anvertrauen. Wenn es seinen Schein hinaufschickt, sind wir dabei mit unserem Hoffen und Sorgen und senden das mit. Wir senden unseren Glauben und unsere Zweifel mit, unser Glück und unsern Kummer. Wir schicken unsere Bitte mit: nimm alles mit hinauf und brenne tapfer in der Dunkelheit. Nimm uns selber mit, nimm das, was uns prägt und kennzeichnet.
Wir haben Halt gemacht, haben eine Kerze angezündet, wir schauen sie an. Wir gleichen ihr ja. Im Grund sind wir selbst diese Kerze. Man könnte darum auch sagen: Wir sind ein Gebet. Wenn nämlich all das, was uns ausmacht, wenn das Wesentliche von uns einfließt in die Bewegung nach oben, dann wäre es nicht falsch zu sagen: wir sind ein Gebet und können uns wiedererkennen in einer Kerze. Unsere Seele glüht. Unser Herz verlangt. Unsere Hände strecken sich aus. Unser ganzes Wesen sehnt sich danach, dass uns einer hört.
Doch nun müssen wir uns plötzlich sagen lassen: „Ein Rauch seid ihr!“
Wie, nur ein Rauch und keine Flamme? Nur dieses Verlöschen und nicht das, was aufleuchtet und hinaufträgt? Wir beten doch! „Dein Reich komme“, beten wir. Und „Dein Wille geschehe.“ Im alten Jahr haben wir gebetet „Unser täglich Brot gib uns heute“, und wir beten es genauso im neuen. „Und vergib uns unsere Schuld“, beten wir, und wir bitten Gott, er wolle uns nicht in Versuchung führen.
Wir beten. Das kennzeichnet uns. Allerdings kann es sein, dass wir dem Gebet nicht recht trauen und heimlich befürchten, unsere Gebete könnten womöglich nicht ganz so lichthell und ungestört aufsteigen. Wir rechnen damit, dass unser Flämmchen ins Flackern kommt. An eine solche Störung denkt auch der Jakobusbrief. Gleich am Beginn des Briefes spricht er davon und verwendet dabei das alte Wort ´Anfechtung´. Eine Anfechtung ist es, wenn sich in unser Wesen etwas einmischt, was eigentlich nicht zu uns gehört. Der Jakobusbrief beobachtet eine solche Einmischung . Er bringt sie in Zusammenhang mit unserem Streben nach Gewinn.
Nun wird man in der Tat kaum etwas finden, was für uns und unsere Zeit so charakteristisch ist wie das Streben, unser Können zu verbessern, unsern Besitz zu mehren und unsern Gewinn zu steigern. Sollte sich das Gewinnstreben auch schon in unser Beten eingemischt haben? Dann müssten beim Beten das Gesagte und das Gemeinte immer wieder auseinander treten. Beim Vaterunser zum Beispiel würde dann gesagt „Dein Reich komme“, aber gemeint wäre vielleicht, es möge kommen, was uns bereichert. Gesagt würde „Dein Wille geschehe“ und gemeint wäre womöglich, Gott wolle alles so wenden, dass es uns Gewinn bringt. Gebetet würde „Unser täglich Brot gib uns heute“, es wäre aber nur mein Brot gemeint und mein Vorteil. Auch würde gebetet „Vergib uns unsere Schuld“, aber gemeint wäre unser Wunsch, selbst dann zu gewinnen, wenn wir schuldig geworden sind.
Wirklich nur ein Rauch sind wir und wahrhaftig kein leuchtendes Licht, wenn es sich so oder ähnlich bei uns verhält. Der Jakobusbrief kennt uns natürlich nicht. Er kennt nur seine Zeitgenossen. Denen sagt er aber: „Ihr seid solche, die nichts anderes im Sinn haben, als in die Stadt zu gehen und Handel zu treiben und Gewinn zu machen.“
Wer Handel treibt, muss auch Gewinn machen. Es gibt aber Fälle, wo das Gewinnstreben das Vertrauen auf Gott ersetzt. Wenn das Gebet vom Zweifel begleitet ist; wenn wir nicht wissen, ob das, was wir zu Gott senden, auch irgendwo ankommt; wenn wir uns fremd fühlen auf der Erde und nicht wie Kinder im Elternhaus, dann suchen wir Ersatz. Mutter Gewinn muss dann trösten und Vater Gewinn muss dann schützen, die Sonne Gewinn muss uns lachen und der Himmel Vermehrung des Wohlstands muss sich über uns wölben.
Doch dann brennt die Kerze nicht mehr. Dann raucht sie nur und qualmt. Und der Jakobusbrief ist geneigt, auch uns zuzurufen: „Ein Rauch seid ihr.“
Den Mann freilich, der die Anfechtung besteht, sieht der Jakobusbrief schon fast im Himmel und sagt von ihm: „Selig der Mann!“ Sein Zweifel muss gewichen, sein Gebet muss angekommen sein, und er selbst ist nun dort, wo er hingehört. Wie schafft er das? Wie kann der Rauch weichen, und wie kann sein Licht brennen, ohne dass er dem Streben nach materiellem Gewinn allein es zutraut, sein Leben zu erhellen?
Es dürfte ihm jedenfalls das Sternschnuppenglück, bei dem man schnell, schnell einen Wunsch sagen muss, ebenso wenig genügen wie jedes andere Glück, das nur kurz aufleuchtet und dann schon abgelöst werden muss durch das nächste Event, den nächsten Treffer, den nächsten Triumph.
Das Glück aus materiellem Gewinn ist ein solches Sternschnuppenglück. Darum gleicht es dem kümmerlichen Licht, von dem das arme „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zehren musste. Das Märchen erzählt, dass niemand ihm seine Schwefelhölzchen abkaufen wollte. Niemand schenkte ihm nur auch ein bisschen Wärme. In der kalten Nacht zündete es ein Streichholz an, um sich wenigstens daran zu wärmen. Nach und nach leuchtete von den Hölzchen eins nach dem anderen auf, bis sie alle abgebrannt waren. Immer, wenn das Licht aufschien, hatte das Kind einen kurzen, glücklichen Traum. Am Ende der Nacht war es erfroren. – Es ist eine Geschichte voller Traurigkeit. Hinter dem Glück unserer Tage, das an dem schnellen Gewinn hängt und am schnellen Haschen nach einem Traum, ist auch eine Traurigkeit zu spüren. Denn die Jagd nach Gewinn hat immer die Angst vor Verlust als ihren Schatten bei sich. Es ist die Angst, hergeben zu müssen, die Angst, seinen Gewinn teilen zu müssen, die Angst, am Ende nicht bei den Gewinnern zu stehen, sondern bei den Verlierern. Es ist die Angst, die umgeht in unserem Land. Es ist die Angst unserer Tage.
Aber der heutige Tag muss nicht traurig sein und steht nicht im Zeichen der Angst. Nach dem großen Feuerzauber der vergangenen Nacht liegt über dem Neujahrstag zwar nur ein bescheidenes Leuchten, ein Funkeln, könnte man sagen. Allerdings verlischt es auch nicht gleich wieder. Sein Funkeln hält an. Die Christenheit hat seit alters den Neujahrstag begangen als den Namenstag Jesu. Es ist der Name Jesu, der für uns und unseren Glauben leuchten will: „In meines Herzens Grunde dein Nam und Kreuz allein funkelt all Zeit und Stunde, des kann ich fröhlich sein.“
Der Name ist das, was uns erreichbar macht. Wir können bei unserem Namen gerufen werden. Weil wir ihre Namen wissen, können wir am Neujahrstag unsere Lieben anrufen und unsere Verbundenheit damit ausdrücken. Der Name Jesu aber ist es, der Gott für uns erreichbar macht. Durch den Namen Jesu wird der Himmel blank für uns und weicht das bedrückende Gefühl, allein auf der Welt zu sein, allein in die Zukunft gehen zu müssen, allein mit seinem Hoffen und Wünschen und Befürchten bleiben zu müssen, das Gefühl also, ein Gebet zu sein ohne Adresse.
Nun aber glüht in uns eine Flamme. Da brennt ein Licht, das nicht abhängt von unserem Erfolg. Es kann den qualmenden Rauch unserer Ängste und Zweifel vertreiben. An uns ist es nur, diese Flamme zu nähren und zu hüten. Dazu gibt uns der Jakobusbrief einen Ratschlag, der eigentlich zwei Empfehlungen enthält: „Ihr solltet sagen: Wenn der Herr will, - werden wir leben.“ Denn die Flamme in uns wird genährt, wo sie sich hineinziehen lässt in den Sog des Gotteswillens und wir sagen: „Wenn der Herr will.“ Und die Flamme wird gehütet, wenn nichts Lebensfeindliches sie mehr anhaucht und wir glauben: „Wir werden leben.“
Das Ziel, das uns dabei vor Augen gestellt wird, ist nun doch ein Gewinn.
Aber es ist weder der Sternschnuppengewinn, den man sich ganz schnell erhaschen muss, und es ist auch nicht der Gewinn eines gleich wieder verglühenden Traums. Der Gewinn, den Jakobus für uns erhofft, ist ein Zeitgewinn. Denn wenn ich sage „so Gott will“, dann kann weder meine eigene innere Unruhe mich durch die Zeiten hetzen, noch dürfen es die von außen aufgezwungenen Terminansprüche mit ihrem Druck. Wenn ich sage „so Gott will“, kann ich gelassen bleiben. Vielleicht ertrage ich dann sogar, dass mein Konkurrent einmal schneller ist als ich. - Und noch ein weiterer Gewinn deutet sich an. Man könnte ihn Stabilitätsgewinn nennen. Weil mich nichts so stabilisiert wie die Gewissheit, meiner inneren Stimme zu folgen bzw. dem, was still in mir leuchtet. Ich weiß, was in mir glüht; ich weiß, wofür ich glühe; ich weiß, wozu ich bestimmt bin. Das ist sozusagen das Glück der geraden Flamme. Manchen Menschen spürt man dieses Glück an.
Aber nicht nur genährt werden will die Flamme in uns, sondern es muss das, was unsere Lebendigkeit bedroht, auch abgewehrt werden. Wenn wir sagen so Gott will – dann werden wir leben. Wir werden dann unser eigenes Leben führen. Wenn ich erst gewiss bin, was meine Bestimmung ist, kann ich mich wehren gegen jede Fremdbestimmung, ob sie nun von außen kommt, wo andere über mich verfügen möchten, oder von innen, wo ich in Gefahr bin, mich ablenken zu lassen.
Ich bete nicht immer. Oft zweifle ich auch. Aber es betet in mir. Da funkelt und brennt eine Flamme. Gott hat sie entzündet. Ich darf sie hüten. Drum spreche ich gerne mit am Beginn dieses neuen Jahres: „So Gott will – werden wir leben und ganz gelassen tun, was zu tun ist, sei es dies, sei es das.“ Amen.