Manchmal kommen sie von allen Seiten. Morgens schon die Schlagzeilen in der BILD, auf die ich beim Brötchenholen einen Blick werfen kann. Sätze, die mich anschreien - und ich möchte zurück schreien: Das stimmt doch so nicht, das ist nicht so einfach, wie ihr das gerne hättet.
Beim Mittagessen die Nachrichten aus dem Radio, sachliche Informationen. Manchmal sind sie so sachlich formuliert, dass sich erst bei ein wenig Nachdenken überhaupt eine Reaktion einstellt.
Als wäre ich schon leicht örtlich betäubt, nehme ich wahr, was mir beispielsweise über die wirtschaftliche Situation in unserem Land mitgeteilt wird: Über das Armutsrisiko etwa, das hier bei uns deutlich höher ist als in anderen Bundesländern. Über die immer noch deutlich geringeren Einkommen im Osten Deutschlands, die hohe Zahl der Hartz IV-Empfänger in unserem Land und in meiner Stadt, das drohende Auseinanderfallen der Gesellschaft in Arm und Reich.
Und abends die Nachrichten, die mir noch einmal in Bildern vor Augen führen, was ich am Tag vielleicht schon gehört habe über Krankheit und Hunger und Krieg und Terror in der Welt. Beängstigende Perspektiven bei fast allen Themen, die für meine und die Zukunft meiner Kinder wichtig sind und noch wichtiger werden. Der Klimawandel ist dabei ja noch das Harmloseste, viel schlimmer die nicht abreißenden Nachrichten über die Flüchtlingskrise, den IS-Terror, den Krieg in Syrien…
Wenn ich dann umschalte, sehe ich auf allen Kanälen so eine Art Ablenkungsmanöver, auf unterschiedlichem Niveau: Herbstfest der Volksmusik, Bergdoktor und Landarzt, „Sturm der Liebe“ und „The Voice“. Umschalten oder abschalten, das ist eine Lösung für den Abend. Sich ein dickes Fell zulegen, sich ein bisschen ducken, so, dass man nicht immer so getroffen wird, eine Lösung für den Tag. Denn manchmal kommen sie von allen Seiten, die Pfeile.
Eine Lösung, auch für die Predigt am Sonntag. Es reicht, wir wissen es doch, wir kennen die Ungerechtigkeit und den Unfrieden in der Welt. Wir wissen, welches Unheil uns droht, welcher Ungeist sich breitmacht in unserer Welt, welche Unwahrheit laut verkündet wird und welcher Unglaube herrscht. Das alles muss nicht am Sonntagmorgen noch einmal auf uns abgeschossen werden. Die Predigerin abschalten, das geht ja nun leider nicht, aber sich ein dickes Fell zuzulegen, sich ein bisschen zu ducken, es an sich vorbei zu gehen lassen, das geht durchaus - auch im Gottesdienst. Nicht immer so getroffen werden von den Pfeilen.
Werdet stark im Herrn und in der Kraft, die von seiner Stärke ausgeht!
Zieht die Waffenrüstung Gottes an, damit ihr dem Teufel und seinen Machenschaften entgegentreten könnt!
Denn wir kämpfen nicht gegen Fleisch und Blut, sondern gegen die Mächte, die Gewalten, die Fürsten dieser Finsternis, gegen die Geister des Bösen in den Himmeln. Greift darum zur Waffenrüstung Gottes, damit ihr widerstehen könnt am bösen Tag und, nachdem ihr alles zu Ende gebracht habt, bestehen bleibt. Seid also standhaft: Gürtet eure Hüften mit Wahrheit, zieht an den Panzer der Gerechtigkeit, tragt an euren Füßen als Schuhwerk die Bereitschaft für das Evangelium des Friedens und, was auch kommen mag, ergreift den Schild des Glaubens mit dem ihr alle brennenden Pfeile des Bösen abwehren könnt.
Empfangt den Helm des Heils und das Schwert des Geistes, der Gottes Wort ist. (Eph 6,10-17, Zürcher Bibel)
Es gibt offenbar noch eine andere Möglichkeit, außer abzuschalten, wegzuducken oder sich ein dickes Fell zuzulegen. Eine Möglichkeit, die beim ersten Hören fremd klingt. Militärische Bilder werden da benutzt, ein Aufruf zur Aufrüstung: Schwerter statt Pflugscharen, Entscheidung und Kampf statt Ausgleich und Frieden, Widerstand statt Ergebung. Eine Ausrüstung für uns Christen soll das sein – aber passt sie uns, passt sie zu uns?
Zögernd stehen wir da und sehen uns an, was da vor uns steht und liegt: Panzer und Helm, Schwert und Schild. Nur unsere Kinder würden da vielleicht freudig zugreifen. Sie kennen das, sie sind klein und meistens die Schwächeren. Sie haben Freude an der Stärke, die eine Rüstung und ein Schwert ihnen verleiht, wenn es auch nur im Spiel ist.
Wir tun uns da schwerer. Aber wie bei den Kindern, geht es auch bei den Kindern Gottes um eine geliehene Stärke, ein Stärke, die von Gott kommt. Seine Kraft, seine Waffenrüstung steht uns zur Verfügung. Ein Gedanke, mit dem ich mich anfreunden kann.
Eine Rüstung, die ein Schutz ist - gerade für die ohne dickes Fell. Denen es noch weh tut, wenn sie wieder von allen Seiten kommen, die Pfeile der Ungerechtigkeit und des Unfriedens, des Ungeistes und des Unheils, der Unwahrheit und des Unglaubens. Eine Rüstung für die, die sich nicht immer nur wegducken, sondern aufrecht und wahrhaftig leben wollen. Ich kann sie nehmen und mich damit schützen und dann auch handeln, anstatt zu resignieren.
Denn die Pfeile kommen aus allen Richtungen. Es ist für uns schwer zu erkennen, wer sie abgeschossen hat. Sie kann man nicht sehen und anfassen, sie sind nicht aus Fleisch und Blut. Sie werden hier Mächte und Gewalten genannt, Fürsten der Finsternis, Geister des Bösen. Vielleicht keine Sprache, aber doch eine Erfahrung, die ich nachvollziehen kann. Wir leben in einer Welt, die so komplex ist, dass es sogar schwer bis unmöglich wird, Feindbilder zu entwickeln. Alles hängt mit allem zusammen. Die Bank, deren Zusammenbruch eine Wirtschaftskrise auslöst, macht ihre Geschäfte über ein paar Ecken vielleicht sogar mit mir, die ich nur ein bisschen Geld für meine Altersvorsorge anlegen wollte. Der Krieg irgendwo in einer staubigen Wüste hängt auch damit zusammen, dass ich die Freiheit haben möchte, mit meinem Auto überall hinzufahren und dafür das Benzin brauche, das aus dem Öl aus der staubigen Wüste gemacht wird. Der Hunger in anderen Teilen der Welt ist auch eine Folge der dauerhaften Preissenkungen bei ALDI und Lidl, die ich erfreut zur Kenntnis nehme. Bedrohungen und Pfeile von allen Seiten, schmerzhaft und konkret und trotzdem nicht wirklich zu fassen, nicht aus Fleisch und Blut.
So wenig, wie ich in der Welt, in der ich lebe, klare Feindbilder entwickeln kann, so wenig weiß ich eigentlich, wann es Zeit ist zu handeln. Vom „bösen Tag“ ist die Rede, aber wann ist denn der böse Tag? Wann ist es genug, wann ist Schluss mit abschalten und wegducken?
Leicht zu sagen, „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Schwer zu sagen, wann es schon zu spät ist oder noch zu früh. Aus meinem eigenen Leben kenne ich diese Unsicherheit gut. Zwischen „Jetzt oder Nie“, zwischen zu früh oder zu spät, zwischen voreilig oder verpasst den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, ist eine Lebensaufgabe. Was in den großen Zusammenhängen dann später einmal ein „historischer Moment“ genannt wird, hat immer auch mit einzelnen Menschen zu tun, die sich für das „Jetzt“ entschieden haben. Die wachsam gewesen sind und Verantwortung übernommen haben, anstatt sich weg zu ducken und zu hoffen, dass die Pfeile sie schon irgendwie verfehlen werden.
Zieht an, was von Gott kommt. Es liegt vor euch. Wahrheit gegen die Unwahrheit, Gerechtigkeit gegen die Ungerechtigkeit, Frieden gegen den Unfrieden, Glauben gegen den Unglauben, Heil gegen das Unheil, Geist gegen den Ungeist. Eine Rüstung gegen all die Pfeile, die uns sonst zwingen, uns zu ducken.
Große Worte. Worte, die wenig konkret zu sein scheinen. Sie sind es auch nicht, denn sie sind von niemand anders als von uns selbst umzuwechseln in die kleine Münze des Engagements, vor Ort, in der Stadt, in dem Land, in dem ich lebe. Auf der Suche bleiben nach dem Besten der Stadt und des Landes. Nicht zu schnell zufrieden sein mit dem, was da ist. Es gibt den bösen Tag und es gibt die Stunde der Wahrheit. Es gibt die Mächte und Gewalten und es gibt den Widerstand von Christen gegen sie.
Immer wieder in der Geschichte der Kirche hat es Christen gegeben, die sich nicht länger wegducken wollten. Die Unwahrheit, Ungerechtigkeit und Unfrieden erkannt und sich nicht abgefunden haben mit dem Unheil, dem Unglauben und dem Ungeist in der Welt. Die Verantwortung von Christen, die eine politische Verantwortung ist, weil sie sich einmischt in die Gesellschaft.
Wer könnte besser davon erzählen als die Menschen, die das in ihrem Leben und am eigenen Leib erfahren haben, vor nun schon fast dreißig Jahren, hier in Wittenberg, in den Kirchen und auf den Plätzen dieser Stadt und der Städte und Dörfer des ganzen Landes. Mittlerweile ein historischer Moment, damals ein ganz normaler Tag.
Und heute ist dies ein ganz normaler Tag und morgen ein historischer Moment.
Manchmal kommen sie von allen Seiten.
Dann zieh an, was von Gott kommt.