„Zimtsterne am offenen Himmel“ – Predigt zu Jesaja 63, 15-19b & 64,1-3 von Wolfgang Grosse
63,15-19b; 64,1-3

Ach du meine Güte, liebe Gemeinde,
wo ist da der Advent? In unserer heimeligen Zeit zwischen Dunkelheit und Licht. Zeit, in der es warm ums Herz wird. Zimt-duftende Tage. Leuchtender Schein. Mit den Liebsten  Vielleicht, und schönem Tee und Gebäck. Der Weihnachtsmarkt. Die Adventsfeiern.
Advent ist doch schön …

Der heutige Predigttext spricht eine andere Sprache. Seien wir ehrlich: Da ist ja nun wirklich Nichts gut für den Propheten. Er geht vor ca. 2500 Jahren durch die Straßen und schaut in die Gesichter der Menschen. Er sieht: keine adventlich-weihnachtliche Beleuchtung und Vorfreude, kein Friede, keine Hoffnung, keine Liebe, sondern Not und Elend. Sein Volk ist fern der Heimat. In der Verbannung. Nichts ist gut. Gar nichts. Der Prophet selbst ist am Ende. Er kann nicht mehr. Ein unbändiger Schrei: “Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich den Himmel auf! Komm herab!”

DAS in unserem Advent. Ein Schrei in unsere Heimeligkeit hinein. Oh!

Aber, liebe Gemeinde: ein Schrei voller Hoffnung! Voller Liebe! Voller Glauben! Wenn nicht du Gott, wer sonst? … (Pause)

Ach du meine Güte, liebe Gemeinde, Schon der 2. Advent! Ich komme gar nicht hinterher. Gar nichts gut! Dabei ist dieses Jahr die Adventszeit sowieso schon so kurz. Sie wissen schon: 4. Advent ist gleichzeitig Hl. Abend. Immerhin: der Adventskranz steht bei mir auf dem Tisch. Frische Zimtstangen auf dem Kaminsims für den Duft. Mein Herrnhuter Stern leuchtet seit einer Woche in die Nacht. Ja natürlich mit Zeitschaltuhr. Sonst würde ich es wohl nicht schaffen jeden Abend. Die Nachbarn freut’s jedenfalls. Frau Meyer von gegenüber grüßt wieder auffallend freundlich.

Aber ich bin ehrlich: ich bin noch nicht wirklich angekommen in dieser Zeit des Advents. Bei Frau Meyer leuchten Schwibbögen in jedem Fenster, die Büsche vorm Eingang tragen Lichterketten, die Haustür ziert ein schöner Kranz, und im Garten habe ich auch schon ihren beleuchteten Rentier-Schlitten entdeckt. Ich weiß, über Geschmack lässt sich streiten … Aber ein bisschen neidisch bin ich auf Frau Meyer schon. Bei ihr ist Advent. Diese heimelige Zeit … sie wissen schon ... Diese Zeit voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Gestern Abend habe ich es versucht auf die Schnelle. Ich war tatsächlich kurz auf dem Weihnachtsmarkt. Ein Hauch von Zimt wehte mir in die Nase. 19 Uhr war’s geworden.

Ein Posaunenchor spielte zufällig „Oh Heiland reiß die Himmel auf.“ Ich erinnerte die 4. Strophe: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.“ Manchmal bin ich ja gefühlsduselig. Da schossen mir für einen Moment die Tränen in die Augen. Ich hätte es so gerne hinausgeschrien in meine kleine Welt: „Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt? Zumindest in meiner? Hey, Gott!“ Oder auch mit dem Propheten: “Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!” ...

Dann entdeckte ich ihn. Er stand etwas abseits. Allein. Schaute. Lauschte. Regungslos. Still. Eigentlich ein ganz normaler Weihnachtsmarktbesucher. Ungefähr mein Alter. Um die 50. Sogar in Anzug und Mantel. Aber: Ein Rollkoffer vor sich. Eine große Umhängetasche. 2 und 2 Plastiktüten in jeder Hand. Alle Last krümmte seinen Rücken. Unsere Blicke trafen sich. Ich ging auf ihn zu. Ein Lächeln huschte über sein unrasiertes Gesicht. Leuchtende Augen. Wir sahen uns. Sahen uns an. „Advent?“ fragte er? „Hmm, ja. Irgendwie schon. Ich versuche es wenigstens“, entgegnete ich. „Ich auch.“ Minuten vergingen.

“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!” „Danke“, sagte er in die merkwürdige Stille hinein. „Wofür?“ rutschte es mir hinaus. „Dafür. … Ich heiße Jens-Peter Neuhaus.“ „Wolfgang. Wolfgang Grosse.“ Wieder verging eine gefühlte Ewigkeit, in der wir nebeneinander standen. „Kein Advent Zuhause?“ fragte er mich unverblümt. „Doch schon. Adventskranz und Stern und so …“, ziemlich überrascht und deshalb fast stammelnd kam es aus mir heraus. „Hmm, ich merke schon … Sie warten auch, oder?“ fragte er. Er spürte scheinbar meine Unsicherheit ob der Frage. Dann begann er zu erzählen.

„Ich bin hier aufgewachsen in Bremen. Ist meine Heimatstadt. Dritter Sohn einer echt bremisch-bürgerlichen Familie. Meine ersten beiden Brüder haben Karriere gemacht. Abitur habe ich aber auch, dann eine Lehre bei 'ner Bank. Nebenher noch Fortbildungen und so. Mittlere Führungsebene. Sie wissen schon.“ „Hmm, ja“, erwiderte ich. Ehrlicherweise hätte ich „Nein“ sagen müssen. Ich weiß viel zu wenig darüber. „Dann kam natürlich auch Familie. Liebe Frau. Ganz groß die Hochzeit. Sie kennen doch die Kirche in … , oder? … Na, egal, Dann ein Kind und so. Alles prima. Mein Haus, mein Auto, mein Garten.“„Ja, schon klar. Es war alles gut.“

„Ja. War! Bis vor 3 Jahren. Dann kam die sog. betriebsbedingte Kündigung. Man kann auch Einsparung sagen. Letztendlich Arbeitslosigkeit. Von da an ging’s bergab. Ich war 49. Zu teuer für den Banken-Markt mit meiner Erfahrung und Ausbildung. Wir konnten das Haus nicht halten. Mussten dann das Auto verkaufen.  Schließlich ist meine Frau mit unserem Sohn gegangen. Der Lebensstandard war nicht mehr ihrer. Bekommen sie dann mal ‘ne Wohnung. Meinen Sohn habe ich vor einem Jahr das letzte Mal gesehen. Schließlich wurde ich auch noch von meiner Familie geächtet. Regelrecht verbannt. Rausgeschmissen. Von meinen Brüdern. Selbst meine Eltern kennen mich nicht mehr. Looser, so sagt man doch heute, oder?“

“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!” „Scheisse!“ Etwas anderes fiel mir nicht mehr ein … und dachte: was rege ich mich über meine nicht vorhandene Weihnachtsdeko auf … „Und wo leben Sie jetzt?“ „Nicht auf der Straße. Meine Würde habe ich mir bewahrt. Noch. Und etwas Erspartes. Jeden Abend in ein billiges Hotel hinterm Bahnhof. Verbannung sozusagen. 30€ die Nacht mit Frühstück. Die Diakonie bezuschusst das Hotel für solche „Fälle“ wie mich. Abend für Abend. Ab 20 Uhr kann ich da sein.“ „Hmm, Advent? Warten?“ frage ich.

Er antwortet: “ ‘Wo bleibst du, Trost der ganzen Welt, darauf sie all ihr Hoffnung stellt? O komm, ach komm vom höchsten Saal, komm, tröst uns hier im Jammertal.’ Ich hab‘ früher mal im Kirchenchor gesungen. Tenor. Ich kenne das Lied. Aber soll ich es echt hier auf dem Weihnachtsmarkt laut hinaus schreien? Wozu? Wer hört mich? … Ich muss dann mal los. 20 Uhr. Sonst ist kein Raum mehr in der Herberge.“ Er schaut mich an. Reicht mir die Hand. „Danke. Advent für Sie“ sagt er. „Und für Sie. Hoffentlich auch wieder mit dem Kind“, antworte ich. „Ja. er hat mich eingeladen. Weihnachten. Ich darf zu ihm kommen.“ Er lächelt.
„Ja, Gott hört Sie“, sage ich.

“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!”

Ich sehe ihn an. Er weiß was ich meine. Meine Fragen, die Fragen des Propheten, es sind auch seine Fragen. Er hat schon eine kleine Antwort bekommen. Von  dem Sohn. Vielleicht größer als wir Beide es gerade wissen. Ich werde es wohl nie erfahren. Ich schaue ihm hinterher, wie er am Rande des Weihnachtsmarktes vollbepackt davon zieht. Auf dem Weg sein. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Er geht auf einmal aufrecht. Dreht sich um. Leuchtende Augen. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Ich bleibe noch einen Moment stehen. Die Lichter. Der Glanz. Die Fröhlichkeit. Sie haben einen trüben Schimmer bekommen.
Mein Fotografenauge aber sagt mir: Das Leuchten erzählt vom Kontrast.

Gerade das ist Advent. Dieses Noch-Nicht und Doch-Schon. Dieser Moment ... ist wichtig. In der Dunkelheit das kommende Licht wahrnehmen. Schatten und Licht ergeben erst das Ganze. Der Moment des Fotos. Wenn ich den Auslöser drücke und die Gegenwart Eins wird mit Gott. Der Moment ist … Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Der Moment ist Gott.

Ich komme nach Hause, in Gedanken verfangen. Schlage die Autotür zu, drehe mich um … und stolpere fast über Frau Meyer. „Huch Herr Pastor, so stürmisch?“ „Ja, Frau Meyer. Noch unterwegs so spät?“ „Ach, ich sah sie gerade kommen.“ Sie hätte auch sagen können: Ich stehe seit Stunden am Fenster und warte, dass sie kommen. „Feierabend. Der Advent kann kommen!“ Komisch, dass mir gerade so ein Satz einfällt. „Och, das ist schön, Herr Pastor.“ Sie spricht das Wort „Pastor“ immer so wunderbar bremisch breit aus, dass es wie „Pasta“ klingt … „Ich hab‘ da was für Sie und ihre liebe Frau.“ Stolz streckt sie mir den Arm entgegen. In der dunklen Nacht sehe ich nicht viel, aber ... Gibt es Zufälle? In diesem Moment reißt der seit Tagen graue, norddeutsche Himmel auf, das Mondlicht durchbricht die Wolkendecke.

“Wo bist du mit deiner Macht? Wo ist deine Barmherzigkeit, Gott? Reiß endlich auf den Himmel! Komm herab!”

Jetzt sehe ich es. Es knistert. Es duftet. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Die Tüte leuchtet in dunkler Nacht. Oder besser: der Inhalt.
ZIMTSTERNE AM OFFENEN HIMMEL!
Können Zimtsterne das wirklich machen? Machen, dass für mich an diesem Abend Advent wird? Oder hat Gott nicht doch seine Finger im Spiel … den Himmel ein klein wenig aufgerissen?

Oh, Heiland, reiß den Himmel auf … Gewaltige Dinge geschehen, manchmal in so kleinen Begegnungen, die so groß werden können, dass Zimtsterne die Welt verändern. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben.

So klein, wie das Kind in der Krippe damals. Gott ganz klein, wie jedes Kind, für alle die hoffen. Licht in der Dunkelheit. Kontrast. Menschenwürde. Aufrechter Gang. Begegnung.

Er kommt. Voller Hoffnung. Voller Liebe. Voller Glauben. Wenn nicht du Gott, wer sonst? Kommt?  Advent.
Amen.

Lied: EG 7 „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“

 

Perikope
10.12.2017
63,15-19b; 64,1-3