Zu Gott stehen
„Er (Jesus) sagte aber zu etlichen, die sich selbst vermaßen, daß sie fromm wären, und verachteten die andern, ein solch Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, zu beten, einer ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich habe. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben gen Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ (Jubiläumsbibel 1912)
Liebe Gemeinde,
„ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die anderen Leute“. Diese Worte richten unsere Abneigung von vornherein auf den Sprecher, den Pharisäer. Wenn dann der andere, der Zöllner (oder auch „Steuerpächter“), spricht: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ und sich dabei selbstanklagend an die Brust schlägt, dann ist klar, wie sich die Dinge verhalten. Jesu Schlußwort ergibt sich einfach aus der Sache selbst, und wir hören es mit Befriedigung: „Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ So soll es sein in der Welt. Das wäre „gerecht“, und wir würden doch wohl gerne folgen, wenn uns einer eine Wirklichkeit in Aussicht stellte, in der es sich so verhält.
Jesus verkündigt genau diese Lehre. Am Ende der Zeiten – oder vielleicht auch schon früher, je nachdem, wie man die Dinge betrachtet – wird ein Zustand definitiver Gerechtigkeit herrschen. Dann wird die furchtbare Asymmetrie aufgehoben sein, die darin besteht, daß es denen gut geht, die sich am meisten nehmen, während alle darben, die nicht zuerst und zuletzt ihr eigenes Interesse im Auge haben. Dann wird vielmehr derjenige obenauf sein, der sich seiner Unzulänglichkeit bewußt war, der deshalb auch den Anderen sehen konnte und sich nicht vor ihm „erhöht“ hat.
Das ist die christliche Verheißung, und sie bildet den Rahmen unseres heutigen Bibelabschnittes. Man muß aber doch vorsichtig sein. Die Erzählung scheint uns an sich eine einfache Geschichte zu sein, die jeder gleich versteht und deren Wahrheit allen einleuchtet. Wir sollten uns aber hüten, sie für gar zu einfach und ihre Wahrheit für gar zu selbstverständlich zu halten.
Nun ist wohl allerdings kaum zu bezweifeln, daß das Gleichnis in eine bestimmte Richtung zielt. Es handelt sich darum, worin sich die beiden Personen eigentlich unterscheiden, und die Antwort lautet: im Gebet, in der Art und Weise, wie sie sich an Gott wenden. Dieser Frage wollen wir nachgehen. Zunächst aber möchte ich doch wenigstens ein ganz Geringes zu dem Stichwort „Pharisäer“ sagen.
I.
Es ist inzwischen bereits vielfach darauf hingewiesen worden, daß die Pharisäer im Neuen Testament einen zu schweren Stand haben. Ihre dortige Darstellung ist stark von Interessen der Abgrenzung bestimmt, und zwar wohl deshalb, weil sich die christliche Mission zum Zeitpunkt der Niederschrift der Evangelien bereits von den Juden ab- und den „Heiden“ zugewandt hatte. Unter diesen Umständen war es vorteilhaft, ein möglichst negatives Bild vom Judentum zu zeichnen. Die Pharisäer geraten dabei zu einer Karikatur. Ihre tatsächliche Bedeutung für die Entwicklung der jüdischen Religion, für ihr Bestehen in der Zerstreuung, der Diaspora, wird nicht einmal annähernd erkennbar.
Es ist ja zum Glück sehr leicht, sich ein zutreffenderes Bild von dieser hochwirksamen, äußerst bedeutsamen Bruderschaftsbewegung zu machen. Ihre vernünftige, durch und durch praktische Gestaltung des Glaubens steht derjenigen Jesu gar nicht so fern, wie Jesus selbst sich ja auch durchaus an dieser oder jener pharisäischen Gesetzesauslegung orientiert hat. Die zornsprühenden Reden Jesu, die die Evangelien berichten, dürfen wir uns jedenfalls nicht einfach zueigen machen, wenn wir wirklich etwas Trifftiges über die Pharisäer erfahren wollen. Daß die Judenheit zu einer unzerstörbaren Gemeinschaft geworden ist, daß die Gemeinde – und nicht Priester und Leviten – als Trägerin der Religion gilt und auch daß im Judentum viel stärker als im Christentum zwischen Religion und Magie unterschieden wird – alles dies wäre ohne pharisäischen Einfluß undenkbar.
II.
Wie aber werden nun in unserer Erzählung die beiden Figuren, der Pharisäer und der Zöllner, einander gegenübergestellt? Der entscheidende Punkt ist: Von welchem religiösen Innenleben geben die beiden unterschiedlichen Haltungen Zeugnis?
Der Gegensatz besteht in zwei völlig verschiedenen Weisen, sich an Gott zu wenden. Dabei besteht das Besondere weniger in dem „Erlebnis“-Gehalt rein an sich. Für ihn werden sich immer Begriffe und Formeln finden lassen, die sie einander ähnlich machen. Es besteht vielmehr in der Vorstellung von dem Gott, der als Adressat der jeweiligen Mitteilungen gedacht wird. Beide, der Pharisäer und der Zöllner, sind in unserer Erzählung Repräsentanten von Vorstellungen Gottes, und zwar solcher Vorstellungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
III.
Wir nehmen also in diesem Sinne den Pharisäer und den Zöllner jeweils als Vertreter einer bestimmten Haltung Gott gegenüber. Der Pharisäer steht für denjenigen Typ, der sich Gottes bemächtigt. Für ihn ist klar, daß Gott eine Gestalt wie den Zöllner nur disqualifizieren kann. Es fehlt dem Pharisäer daher nicht nur an Demut in sozialer Hinsicht, sondern auch an religiöser Demut. Sie mangelt ihm dem Gott gegenüber, der die Freiheit hat, auch dem Sünder sein Wohlgefallen zuzuwenden. Er nimmt damit aber Gott überhaupt die Freiheit.
Demgegenüber der Zöllner: Er wendet sich vertrauensvoll an Gott, er erniedrigt sich vor ihm, und es käme ihm nicht in den Sinn, Gott in seiner unverfügbaren Freiheit begrenzen zu wollen. Dabei wollen wir wohl beachten, daß solche Selbsterniedrigung, solche Demut vor Gott, nicht bedeutet, daß man die eigene Person entwertet und das eigene Herz notwendig „in Blut schwimmen“ muß. Man muß sich nicht scheuen, in der Ich-Form zu sprechen, wenn man sich Gott zuwendet. Das Ich-Sagen ist nicht moralisch verwerflich. Der Zöllner steht dafür, daß eine realistische Sicht auf sich selbst selbstbewußt und mutig machen kann. Man ist imstande, in die eigenen Abgründe zu schauen und Schuld, die man selbst trägt, nicht auf andere zu projizieren.
Das sind sehr krasse Differenzen im jeweiligen Gottes- und im Selbstbild. Sie treten nun in unserer Erzählung vor allem in der Weise hervor, wie die beiden jeweils als Betende vor Gott treten. Der Pharisäer schreibt Gott im Grunde nur die Bestätigung des Bildes vor, das er von sich hat. Er „dankt“ ihm dafür, daß er so ist wie er ist, nämlich anders als die anderen. Und er erklärt Gott überdies, weshalb er auf eine solche Bestätigung auch alles Recht habe, denn seine Erfüllung des Gesetzes ist tadellos und ohne Lücken.
Signifikant für die vollkommen andere Haltung des Zöllners ist dann zunächst einmal die Angabe, dieser befinde sich „weit entfernt“ und wage „auch nicht einmal, die Augen zum Himmel zu erheben“. Sein Gebet ist nicht, wie beim Pharisäer, geforderte Nähe zu Gott, sondern es ist Ausdruck seiner Sehnsucht nach ihr. Es ist konzentriert auf die eigene prekäre Stellung vor Gott, ohne sich mit anderen zu vergleichen. Der Zöllner setzt sich nicht in Szene, sondern er ruft – als ein Mensch ohne Ehre – den befreienden Gott an. Er spricht zu einem barmherzigen Gott. Er rechnet damit, daß Gott sich auch ihm, allem zum Trotz, zuwenden kann. Sein Gott ist ein freier Gott.
Und hier nun wird vollends klar, worum es in der Erzählung wirklich und am Ende geht: Es geht darum, daß wir in der Erkenntnis Gottes immer auch uns selbst erkennen. Indem wir uns an Gott wenden, sprechen wir uns so aus, wie wir wirklich sind. Gotteserkenntnis und Selbsterkenntnis gehen Hand in Hand.
Im Gebet kommt es eben zutage, ob der Mensch weiß, wie er zu Gott steht, oder ob er es nicht weiß. Es kommt zutage, ob er in seinem Wesen hochmütig ist oder ob er sich wahrhaft selbst zu sehen imstande ist. In einem Wort: Im Gebet stellt sich heraus, ob einer sich selbst kennt oder ob er sich über sich selbst betrügt. Für den aber, der glaubt, ist solche wahrhaftige Selbsterkenntnis kein Anlaß zur Verzweiflung. Denn er setzt auf den barmherzigen Gott, auf den Gott, der ihm nahe ist und auf dessen Beistand er vertraut.
Amen.
Literatur:
Rudolf Bultmann: Lukas 18, 9-14 (4. August 1940), in: Ders.: Marburger Predigten. Zweite Auflage, Tübingen 1968, 107-117.
Thomas Popp: Werbung in eigener Sache (Vom Pharisäer und Zöllner), in: Ruben Zimmermann (Hrsg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 681-695.