Lieder: EG 245, 1-3 (Wochenlied) – 311 – 497, 1-3.4-6
Lesung: Luk. 5, 1-11 (Evang.)
Liebe Gemeinde,
es ist Nacht über Jerusalem, der Tempelberg mit allen seinen Gebäuden liegt im Dunkeln. Im Schein einer Öllampe sitzt ein Dozent der Jerusalemer Priesterschule und ordnet Schriftstücke. Einige kleinere sind in Tontafeln geritzt, die meisten aber auf Papyrusblätter aufgezeichnet, auf einen eigenen Stapel hat er kleine Holztäfelchen gelegt, auf denen jeweils nur einzelne Sätze stehen.
Manche Texte hat er selbst geschrieben, andere hat er von Kollegen erhalten, die Tontafel in der Bibliothek gefunden. Er gehört zu einer Arbeitsgemeinschaft, die die Geschichte des Volkes aufzeichnen soll, das seit etwa 600 Jahren in Palästina lebt und seit König David Jerusalem als Hauptstadt ausgewählt und ausgebaut hat. Die Gelehrten sammeln, was sie selbst vom Hören-Sagen wissen und sichten das Material, das schon in kleineren und größeren Sammlungen vorliegt.
Es ist eine Auftragsarbeit der Priester am Tempel in Jerusalem, aus dem Mosaik der Aufzeichnungen soll ein zusammenhängender Text entstehen, lesbar für alle, die lesen können, ein Bericht, der die Geschichte des Volkes Israel für die Nachkommen bewahren und verständlich machen soll.
Seit langem, ja eigentlich von Anfang an, seit sie diesen Auftrag zur Bündelung der Überlieferung übernommen hatten, beschäftigt ihn als Leiter der Arbeitsgruppe die Frage: Wie soll er anfangen und wo soll er anfangen. Zunächst hatte er vorgehabt, mit den Lebensgeschichten von Abraham, Isaak und Jakob zu beginnen; davon hatten sie die meisten Daten gesammelt und diese Geschichten hatte er schon seit längerem stimmig in einen Zusammenhang geordnet, so dass sie jetzt wie eine Familien-Saga spannend zu lesen waren. Schon das war eine ziemlich komplizierte Aufgabe gewesen, denn diese ziemlich bunten, oft auch drastischen Geschichten waren als Einzelstücke von verschiedenen Stämmen und aus verschiedenen Gegenden Palästinas überliefert worden.
Aber je länger er an dieser Aufgabe arbeitete, umso mehr gewann er den Eindruck, er müsse weiter ausholen. Und nun ist ihm klar: Er wird die Geschichte seines Volkes in die Weltgeschichte einordnen, wenigstens ansatzweise. Und so hat er auch einige eindrucksvolle Erzählungen zurecht gelegt, die vom Anfang der Welt und des Menschen erzählen, auch der Bericht von der Überschwemmungskatastrophe im Land an Euphrat und Tigris, die schon einige Jahrhunderte zurückliegt, aber immer mal wieder in der Erinnerung hochkommt, und auch die rätselhafte Ruine des großes Turms in Babylon, die einen sagen, das Bauwerk ist eingestürzt, weil es zu groß geplant war, andere behaupten, die Arbeiter hätten gestreikt oder seien miteinander in Streit gerasten. Solche markanten Geschichten will er in die Einleitung aufnehmen, damit seine Leser spüren, was ihnen erspart geblieben ist in ihrem Leben, wovor sie Gott bewahrt hat. Die Dankbarkeit seiner Leser will er wecken und ein Staunen über die Wunder der Welt, in der sie leben, hervorrufen.
Und zur allgemeinen Orientierung über die wichtigsten Personen plant er, Ahnentafeln in diese Einleitung einzufügen, die erste von Adam bis Noah.
So hat er im Grunde schon eine ziemlich gute Übersicht über die Sammlung. Aber abends, wenn es dunkel und still ist auf dem Tempelplatz, dann nimmt er sich das Schwierigste vor: Er sucht nach einer einleuchtenden Verbindung zwischen den eindrucksvollen Geschichten von Schöpfung und Paradies und Flut und Turmbau und der Familiensaga der Ahnen des Volkes, Abram, Isaak und Jakob.
Und er greift wieder zum Mittel der Ahnenreihe: Diesmal die zehn Generationen von Noahs Sohn Sem bis zu Abram. So weit, so gut.
Dann aber sucht er wieder, wie schon manches Mal nach Worten zur Einleitung der Familiengeschichten, würdige Worte, die die große Bedeutung der Väter den Nachkommen, den kommenden Generationen für alle Zeiten unauslöschlich in der Erinnerung befestigen. Und so schreibt er:
Und der Herr sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden. Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte. (Gen. 12, 1-4a)
Liebe Gemeinde,
Sie waren Einwanderer, die Israeliten. Das war dem Gelehrten auf dem Tempelberg, dessen Namen wir nicht kennen, bekannt und unzweifelhaft. Sie waren als kleine Gruppen nach Palästina gekommen. Manche hatten vorher in der Wüste als Nomaden gelebt, waren von Oase zu Oase gezogen mit ihren Herden, auch aus Ägypten waren einige Familien gekommen, hatten dort als Sklaven auf den großen Baustellen der Pharaonen gearbeitet, an Tempeln und Totenstätten, den Pyramiden mitgeschuftet, aber er war sich auch sicher, dass die Berichte von den Vorfahren aus dem Zweistrom-Land stimmten. Vielleicht waren sie von dort vertrieben worden, vielleicht aber suchten sie eine neue Herausforderung abseits von den luxuriösen, stolzen Städten an der Mündung von Euphrat und Tigris.
Für ihn, den Lehrer und Geschichtsschreiber am Tempel in Jerusalem, aber war dies ganz selbstverständlich und die Grundlage seines Denkens und Lebens: Es konnte nur der Wille Jahwes, des Gottes, den sie im Tempel von Jerusalem seit Jahrhunderten verehrten, es konnte nur sein Wink und Wille gewesen sein, der die Vorfahren aus dem Süden und dem Osten nach Palästina geführt hatte. Und auch daran bestand ja kein Zweifel, dass diese Vorfahren mit ihren Erfahrungen im Kulturland des Ostens zur Blüte des Volkes im Westen wesentlich beigetragen hatten, zur differenzierten Integration der 12 Stämme im Lande Kanaan. Was immer seit jener frühen Zeit mit dem Volk geschehen war, man konnte es nur als Segensgeschichte begreifen. Bei allem, was in den Jahrhunderten auch an Schrecklichem geschehen war, zuletzt war es doch eine vielfältige Erfahrung von Bewahrung und Verschonung, selbst der Tempel war nach der Zerstörung durch die Übermacht der Babylonier wieder aufgebaut worden.
Und aus dieser Gewissheit, aus dem Glauben an den Gott, der den Menschen gut will, schreibt er nun auch voller Zuversicht die ersten Sätze der Geschichte der Vorfahren, wie Gott zu Abraham sagt: Du sollst ein Segen sein. Und mit dieser Verheißung für Abraham wandern seine Gedanken mit einem Mal weit in die Zukunft: Was werden in fernen Zeiten Menschen denken, die diesen Satz lesen und sich sagen lassen: Du sollst ein Segen sein! Und: Ich will dich zu einem großen Volk machen. Ob das nur für Abraham gelten sollte oder nur von seinem Volk Israel ernst genommen wird? Aber gilt es nicht allen Menschen und der ganzen Welt, ist Gottes Segen nicht für alle Menschen aller Zeiten überlebenswichtig?
Ob die Menschheit bewahrt bleibt vor der völligen Selbstvernichtung durch angstvolle Selbstverteidigung? Er fühlt sich hilflos, wenn er an die Zukunft denkt: Wie soll er denn mit seinen Worten - allein mit Worten!! - die Herzen der Menschen in aller Welt bewegen, dass sie sich zum Frieden und zur Vergebung wenden? Aber dann erfasst ihn doch wieder Zuversicht, wenn er die vielen mutigen Menschen vor seinem inneren Auge sieht, die lange vor ihm für die Bewahrung der Schöpfung und der Menschheit eingetreten sind, die die Geschichten gesammelt haben, von der Schöpfung der Welt und von der Bewahrung in der Flutkatastrophe. Es werden andere kommen, weitere Generationen, die die alte Botschaft ganz neu hören werden. Vielleicht kann ja seine Arbeit dazu beitragen, die Menschen zu ermutigen, dass sie Träger des Segens Gottes sind. Wer sonst sollte Gottes Segen weitertragen, wenn nicht die Menschen, die seine Worte lesen und verstehen – und die richtigen Lehren daraus ziehen
Liebe Gemeinde,
jede Leserin und jeder Leser der Verheißung an Abraham stellt sich immer wieder die Frage, ob bewusst oder unbewusst: Gelten diese Worte auch mir? Es ist gar nicht möglich, diese Worte in der fernen Vergangenheit zu lassen. Nicht selten haben Eltern für ihr Kind dieses Wort vom Anfang der Vätergeschichten als Taufspruch gewählt:
Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein.
Diese Verheißung greift weit über ein einzelnes Leben hinaus. Sie bleibt nicht in der Vergangenheit Abrahams, nicht in der nächtlichen Stille am Tempelberg. Diese Verheißung ergreift jeden, der sich davon ergreifen lässt: Gesegnet werden und ein Segen sein. Was können wir uns anderes und besseres wünschen für unser Leben und das Leben aller, die uns anvertraut sind?
Und so ergreife uns der Segen Gottes, der unser Denken und unsere Vernunft übersteigt, und lasse uns zum Segen werden.
Amen.