Zweifelnder Glaube - Predigt zu Johannes 20,19-31 von Isolde Karle
Zweifelnder Glaube
Liebe Gemeinde,
als Predigttext für den heutigen Gottesdienst lese ich Johannes 20, 19-21 und 24-31:
Am Abend aber dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger versammelt und die Türen verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten unter sie und spricht zu ihnen: Friede sei mit euch! Und als er das gesagt hatte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, dass sie den Herrn sahen. [...]
Thomas aber, der Zwilling genannt wird, einer der Zwölf, war nicht bei ihnen, als Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: Wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ich nicht in seinen Händen die Nägelmale sehe und meinen Finger in die Nägelmale lege und meine Hand in seine Seite lege, kann ich‘s nicht glauben.
Und nach acht Tagen waren seine Jünger abermals drinnen versammelt und Thomas war bei ihnen. Kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: Friede sei mit euch! Danach spricht er zu Thomas: Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete und sprach zu ihm: Mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: Weil du mich gesehen hast, Thomas, darum glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben!
Liebe Gemeinde,
Christus erscheint nach der Katastrophe des Karfreitag seinen Jüngern. Es bleibt nicht dunkel, die Ermordung Jesu hat nicht das letzte Wort. Christus zeigt sich seinen Jüngern, er bleibt nicht im Tod. Und doch ist Ostern nicht einfach das Happy-End einer furchtbaren Geschichte. Die Risse, die Spuren des Schmerzes, der Wunden, sie bleiben. Der Zweifel auch.
Die Geschichte mit dem ungläubigen Thomas, wie sie traditionell genannt wird, hat mich schon immer fasziniert. Sie ist so realistisch und bodenständig. Sie vertreibt die Dunkelheit des Karfreitag nicht einfach mit der Helligkeit des Ostermorgens. Sie ist nüchtern und gibt mit der Figur des Thomas der Skepsis und dem Zweifel Raum. Denn nicht immer kann man an die Auferstehung glauben. Nicht immer hat man den Mut zum Sein. Ein Geschehen wie der Flugzeugabsturz in Südfrankreich vor nun genau zwei Wochen kann unser Vertrauen in das Leben grundlegend erschüttern. 150 Menschen starben einen völlig sinnlosen Tod. Und dies nicht aufgrund eines technischen Defekts oder menschlichem Versagen, sondern weil ein junger Copilot das gezielt so wollte und die Katastrophe absichtsvoll herbeiführte. Und das ist nicht die einzige Katastrophe, mit der uns die Medien in diesen Tagen konfrontieren. Das Massaker an der Universität Garissa in Kenia vor wenigen Tagen macht in ähnlicher Weise fassungslos. Etwa 150 christliche Studenten fallen ihm zum Opfer.
Christlicher Glaube ist ein Glaube, zu dem der Zweifel gehört. Der Zweifel ist nicht das Gegenteil des Glaubens, er ist vielmehr Element des Glaubens. Das sehen wir an unsrer Geschichte. Die Zweifel des Thomas werden nicht „gelöscht“. Der peinlicher Unglaube des Thomas fällt nicht der Endredaktion des Evangelisten zum Opfer. Nein, Johannes weiß um die Doppelbödigkeit der Welt, um die dünne Schicht aus Eis, auf der wir gehen, die leicht brechen kann.
Als Jesus den Jüngern erscheint, ist Thomas zunächst nicht dabei. Die Jünger sind voll Trauer, Wut und Resignation. Sie haben alles verloren, worauf sie sich verlassen haben. Ihr Vertrauen ist zerstört: Sind sie doch einem Irrlehrer aufgesessen? Ihr Leben ist zerstört: Haben sie ihre Arbeit und ihre Familien umsonst verlassen? Ihr Ansehen ist zerstört: Gelten sie als Jünger Jesu nun nicht auch als Gotteslästerer? Sie sind Menschen ohne Hoffnung und Perspektive, ohne Vertrauen und Ziel. Sie verschanzen sich hinter verschlossenen Türen und ziehen sich deprimiert von der Welt zurück. Vielleicht kennt der eine oder die andere unter uns das auch: Wir graben uns ein und wollen mit der Welt draußen nichts mehr zu tun haben. Weil wir am Ende sind, weil wir frustriert sind, weil wir Angst haben, weil wir nichts Gutes mehr erwarten.
Da tritt Jesus mitten unter die Jüngerschar und grüßt sie mit dem Friedensgruß: „Friede sei mit euch!“ Jesus kommt seinen Jüngern entgegen. Er macht ihnen keine Vorwürfe, weil sie ihn verlassen und verleugnet haben. Er hält ihnen ihre Furcht, ihre Treulosigkeit und ihren Unglauben nicht vor. Er überwindet vielmehr ihre Verschlossenheit, er nimmt sie an in ihren Ängsten und ihrer Verzweiflung und schenkt ihnen seinen Schalom: „Friede seit mit euch!“ Mitten in der Friedlosigkeit bringt Christus den Jüngern seinen Frieden.
Doch Thomas fehlt bei der Erscheinung des Auferstandenen. Die Freunde berichten ihm davon, aber Thomas will nicht einfach glauben, weil andere glauben. Er will selbst sehen, sich selbst überzeugen. Sein Glaube soll sein eigener Glaube sein, nicht ein Glaube, der auf dem Glauben anderer beruht. Er will keinen geliehenen Glauben haben, er will sich selbst ein Bild machen. Aber auch auf Thomas geht Jesus zu. Er weiß um seine Zweifel, um seine Skepsis. Er bietet ihm an, seine Wundmale zu berühren. Jesus würdigt damit sein Ringen, seinen Widerstand, seine Bedenken, auch seine Sehnsucht, glauben zu wollen und es doch nicht zu können.
Es gibt Erfahrungen, die den Glauben in Frage stellen. Der Flugzeugabsturz in den französischen Alpen gehört dazu. Die Gewissheit eines Dietrich Bonhoeffer, der sich auch in den finstersten Zeiten von guten Mächten treu und still umgeben wusste, behütet und getröstet wunderbar, sie kann einem dabei abhanden kommen. Wie sollten sich die Jugendlichen aus Haltern und alle anderen an Bord bei dieser entsetzlichen Tragödie noch in Gottes guten Händen wissen? Wie die Eltern und Angehörigen? War hier noch Gott der Herr über Leben und Tod oder nicht vielmehr ein kranker Mensch, der durch seine letzte Wahnsinnstat zu zweifelhafter Berühmtheit zu gelangen suchte? Wie Jesus am Kreuz konnten sich die Opfer dieses furchtbaren Fluges und können sich ihre Angehörigen nur von Gott verlassen fühlen, nur verzweifelt nach dem Warum fragen.
An Ostern wird das Warum Jesu und der Schmerz der Leidenden nicht vergessen, nicht übermalt oder übertüncht. Das zeigt uns die Geschichte des Thomas. Und das ist so stark an ihr – und am österlichen Glauben. Der Auferstandene ist als Gekreuzigter präsent. Er nimmt als Gottessohn die Leiden und Zweifel auf dieser Erde ganz und gar ernst.
Thomas ist deshalb nicht nur als schwacher Jünger zu tolerieren, sondern ein ganz wichtiger Vertreter der Jüngerschar. Er erinnert uns an die Tugend der Skepsis. Nur mit ihr lässt sich das Dunkle wahrnehmen, die Verblendung aufdecken, schöner Schein entlarven und das Gewissen schärfen. Nur so kann sich der Glaube dauerhaft festigen. Glaube und Zweifel sind keine Antipoden, sondern Geschwister.
Jesus kommt nach der Auferstehung nicht zurück in sein altes Leben. Es ist nach Ostern nicht alles wieder wie früher. Der Schrecken des Todes bleibt Schrecken. Die Sinnlosigkeit des Sterbens Jesu bleibt ein Skandal. Die Mörder bleiben Mörder, es wird nichts ermäßigt, der Schmerz bleibt. Der Auferstandene erscheint den Jüngern deshalb nicht unversehrt. Er zeigt den Jüngern seine Wundmale. Thomas fordert er explizit dazu auf, sie zu berühren. Die Spuren des Karfreitag sind noch sichtbar und spürbar. Der Auferstandene ist mit den Jüngern zutiefst verbunden in all dem Schweren, das sie erlebt haben und erleben. Die Realität des Grauens wird nicht geleugnet. Sie ist da, aber sie schnürt die Jünger nicht mehr vom Leben ab. Ostern führt über den Schmerz hinaus. Ostern lässt hoffen, dass nicht die Sinnlosigkeit, nicht der Abgrund, nicht die Dunkelheit das letzte Wort haben, sondern der Glaube, die Liebe und die Hoffnung.
Schon wenige Tage nach dem Flugzeugunglück wird von diesem österlichen Glauben etwas spürbar. Da berichten überlebende Angehörige, wie sehr sie die Zuwendung der französischen Bevölkerung in Seynes-les-Alpes berührt, wie sehr es sie tröstet, dass französische Helfer sie stumm in den Arm nehmen und mit ihnen mitleiden, wie es ihnen hilft zu sehen, wie unermüdlich sich die Polizei und die Bergungsarbeiter einsetzen, um die Toten und ihre Habseligkeiten zu bergen. Sie erfahren in der mitfühlenden Solidarität und konkreten Hilfe anderer Menschen etwas von Ostern. Wir alle hoffen und beten, dass auch die Eltern und Freunde der getöteten Schülerinnen und Schüler aus dem benachbarten Haltern etwas von dieser österlichen Liebe und Hoffnung spüren. Dass sie – wenn auch unter Tränen – Ostern feiern können und damit den Sieg des Lebens über den Tod, den Sieg des Lichts über die Dunkelheit und der Liebe über den Hass.
Paul Tillich sagt, Gott ist uns stets unendlich nahe und unendlich fern. Nur wenn wir beides erfahren, wissen wir wirklich um ihn. Der Auferstandene lässt die Jünger die Nähe Gottes im Moment größter Gottferne erfahren. Er vergewissert sie seiner Gegenwart im Moment größter Ungewissheit. Er überwindet ihre verschlossenen Türen, er weitet ihre verengte Welt.
Wenn das geschieht, wird es Ostern, auch bei uns. Dann kehrt der Mut zum Leben zurück, dann bleibt das Sinnlose nicht sinnlos. Denn Gott liebt seine Geschöpfe und hält zu ihnen, im Leben und auch im Tod. Er eröffnet neue Perspektiven und schenkt uns seinen Frieden. Friede sei mit Euch!