zwischen zärtlichkeit und wut - predigt zu lukas 19,41-48 von tobias götting
19,41-48

zwischen zärtlichkeit und wut

jesus
gottes schönstes gesicht auf dieser erde
unendlich oft beschrieben
gemalt
gedeutet

manchmal mir mit vielen worten
unendlich weit weg gerückt
verborgen unter einer flut von buchstaben
versteckt unter einem berg von bildern

aber hier in dem kürzestmöglichen satz
in nur zwei worten aufgedeckt
jesus ent-deckt
weggenommen die decke von beschreibungen
und theoretischen gedankengebäuden
mir wieder einmal wie schon so oft
endlich unendlich unwahrscheinlich nah gekommen

jesus weinte
lese ich
das ist mein evangelium
das ist frohe botschaft
für mich
trotz der tränen
gerade wegen der tränen

endlich sich der eigenen tränen nicht schämen
sie fliessen lassen
statt sie runterzuschlucken
jesus weinte
wie ich manchmal auch
wie ich manchmal gerade auch nicht

andere feiern starke helden
bewaffnet bis an die zähne
stark bis zum umfallen
bereit zum kämpfen und siegen

jesus weinte
ein schwacher held
ein anti-held
vermeintlich schwach
darin unendlich stark
im verzicht auf macht
mit dem mut zur sanftheit
einer mit der „gabe der tränen“ *

jesus weinte
ohnmächtig den damals mächtigen gegenüber
unbewaffnet
nur mit der kraft der worte stark
seit damals bleibt wahr
„es geht um's tun und nicht um's siegen“ **

jesus
mit seinen tränen andere stärkend
die auch machtlos sich wähnen
denen nur zum weinen zumute sein kann
weil das leben ihnen tiefe kerben
in die seele geschlagen hat

jesus weinte
über jerusalem
den ort der besonderen anwesenheiten gottes
die zerstörung durch die römischen besatzer vorausfühlend

jesus weinte
weil ihm die gier der mächtigen
tränen in die augen treibt
er spürt die unfähigkeit der vielen
ihn zu verstehen

er spürt die ohnmacht
seine ohnmacht
die heilige stadt zu retten

er kann sie nicht aufhalten
die katastrophe
in die sein geliebtes volk hinein geraten wird
damals in jerusalem

er kann die katastrophen nicht aufhalten
die gottes auserwähltem volk
noch bevorstehen sollten
vor allem durch den „meister aus deutschland“ ***
der millionenfach gräber aushob in den himmeln

jesus weinte
in auschwitz
als gottes geliebter augapfel
sein volk
seine jüdischen geschwister
verbrannten

jesus weint
über alle orte
wo die menschen- und gotteswürde mit füssen getreten wird
wo macht die ohnmächtigen bedrängt
wo leben beschnitten und gedämpft wird
wo tränen zurückgehalten und unterdrückt werden
wo starke über die schwachen herrschen
weil sie ihre eigenen schwächen übersiegen wollen

jesus weinte
lese ich
aber nach den tränen geht es weiter
sie haben die herzkammern und die seelenhaut durchspült
sie haben die augen nicht trübe bleiben lassen
sie machen den neuen durchblick möglich

nach den tränen der ohnmacht
kommt das machtvolle handeln
gott sei dank

jesus lehrt mich
nach den tränen
muss nicht starre resignation bestimmend bleiben

tränen bringen ins fliessen
setzen neue energie frei
vielleicht nicht immer
aber es mag sein dass

jesus weint
und jesus wütet
nicht nur sanfter rebell
nicht nur zärtlich
sondern auch wütend

wütend über die vermischung von glaube und kommerz
über die käuflichkeit von gebet und gnade
über den vorrang des geldes vor dem vertrauen
über eine kirche in der die habenichtse unsichtbar sind

jesus wütet
weil es keinen billigen frieden geben darf
weil sein haus ein bethaus sein soll
ein ort der zuerst die herzen öffnet
uns einander wahrnehmen hilft
als gemeinsam dürftige und bedürftige

dass wir uns dort besinnen auf das wort
das in jesus ein gesicht bekommen hat
damit wir es von jetzt an
in den gesichtern der vielen gespiegelt finden

jesus weint
jesus wütet

und ich ahne neu

„zwischen zärtlichkeit und wut
tut das leben richtig gut.

zwischen zärtlichkeit und wut
fasse ich zum leben mut“ ****

 
* dorothee sölle: „gib mir die gabe der tränen, gott“

** konstantin wecker: „die weiße rose“

***paul celan: „der tod ist ein meister aus deutschland“

**** konstantin wecker: „wut und zärtlichkeit“, lied auf der gleichnamigen cd
 

Perikope
09.08.2015
19,41-48