Das Vater Unser - Predigt über Matthäus 6, 7-13 von Matthias Wolfes
6,7
Das Vater Unser - Predigt über Matthäus 6, 7-13 von Matthias Wolfes
Das Vater Unser
„Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viel Worte machen. Darum sollt ihr euch ihnen nicht gleichstellen. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet.Darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir unseren Schuldigern vergeben. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen [andere Übersetzung:Übel]. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.“
Liebe Gemeinde,
das Vater Unser! Die Mitte, Kern und Stern unseres Gebetes. Von diesen Worten aus kann man den ganzen Inhalt des christlichen Glaubens entfalten. Nimmt man hinzu, wer sie spricht, zu wem sie gesprochen werden und wodurch sie uns überliefert worden sind, so lassen sich außer diesem wesentlichen Inhalt an das Vater Unser auch noch die drei Dimensionen der theologischen Lehrbildung, der Gemeinschaftsbildung und der Geschichte des Christentums anknüpfen.
Mit gutem Grund beten wir es in jedem Gottesdienst, oft auch sonst im Gemeindeleben und in vielen seelsorgerlichen Situationen. Es in der Gemeinschaft zu sprechen, auch wenn Jesus es für den Einzelnen vorgesehen hat, bedeutet eben auch, ein Bekenntnis der Zugehörigkeit zu geben. Von dem Gebet geht eine Kraft aus, wie von kaum einem anderen biblischen Text, vielleicht den Psalm 23 ausgenommen und natürlich solche Passagen, die dem Einzelnen in seinem geistlichen Leben zugewachsen sind.
Den meisten von uns ist das Vater Unser seit Kindertagen vertraut. Nicht selten haben sie es im Gottesdienst, sozusagen nebenher, gelernt. Es ist Teil ihrer christlichen Biographie, vielleicht sogar eine Art Anker oder Säule ihrer Verbundenheit mit Glaube, Gemeinde und Kirche. An dem Vater Unser hängt bei manchen geradezu die Realität Gottes: Sie glauben an den Gott, den Jesus als Adressaten unseres Betens gelten läßt. Man kann in jeder Hinsicht die Bedeutung des Vater Unsers gar nicht zu hoch veranschlagen.
Das ist nun keine neue Einsicht. Mühelos ließen sich ein oder zwei ansehnliche Bibliotheksregale mit Titeln anfüllen, die allein nur der meditativen Auslegung dieses Gebetes, „das die Welt umspannt“, gewidmet sind. Viele sogenannte „Einführungen“ in den christlichen Glauben oder das Christentum legen es zugrunde, ganz mit recht, und wollte ich etwas derartiges schreiben, so täte ich es ebenso. Dazu gibt es gewaltige Mengen an exegetischer Literatur zu dem Abschnitt selbst oder auch zur Bergpredigt im ganzen.
Ungeachtet der Kürze, ist die Vielfalt der Gedanken erstaunlich. An jedes einzelne Motiv knüpft sich eine Masse von Bildern, Assoziationen und Erinnerungen. Beflügelt werden die Interpreten durch den Umstand, daß der Text auch von der kritischen Seite her hochzuschätzen ist. Kaum bezweifelt wird, daß tatsächlich Jesus, also die historische Jesus-Gestalt, nicht ein christologisches Konstrukt aus der nachösterlichen Überlieferung, sein Urheber ist. Es ist Jesus selbst, der aus der Bergpredigt spricht. Und eben dieser historische Jesus versieht gerade diese Gebetsanweisung mit dem größten Gewicht: Er gibt eine Wegweisung für den Umgang mit Gott. Es ist der Geist seiner eigenen Gottesnähe, in Worte gefaßt. Er spricht aus dem Innersten seiner Verbundenheit mit Gott.
Was nun in den letzten Jahrzehnten auch klar herausgearbeitet worden ist, das ist der Kontext, in dem Jesu Gebet und die Bergpredigt – das „Regierungsprogramm des Himmelreichs“ – im ganzen stehen. Und auf diesen Punkt möchte ich ganz besonders hinweisen. Die Einbettung von Jesu Glauben und Denken in den Raum der jüdischen Frömmigkeit seiner Zeit ist nun auch endlich für uns wieder sichtbar geworden.
Sehr lange ist das Christentum an dieser Stelle fatal in die Irre gegangen. Jetzt aber sehen wir, daß es Jesus schlechterdings um seine Identität bringen würde, wenn man ihn aus der jüdischen Welt lösen wollte, jener Welt in und aus der er gelebt, gesprochen und gehandelt hat. Er war ein Teil dieser Welt, und verstehen, ja ihm irgendwie nahekommen können wir nur, wenn wir ihm in dieser seiner Welt nachdenken.
Das gibt uns auch den Schlüssel zu dem Gebet. Auf gewisse Weise wäre es geeignet, heutige christliche und jüdische Gläubige miteinander zu verbinden und sie im Glauben und in der Anbetung des einen Gottes zusammenzubringen. Natürlich ist das Vater Unser ein christliches Gebet, ja es ist das mit Abstand am weitesten verbreitete überhaupt. Aber es ist doch zugleich auch eines, das jedem Juden Zustimmung und Teilhabe offenläßt.
Wenn wir nun den Blick auf das Gebet im näheren richten, dann stellt sich zunächst die Frage: Wie sollen wir vorgehen? Es gibt viele Möglichkeiten. Wir können das Gebet als Ganzes betrachten; wir können es in seinen einzelnen Momenten bedenken; auch ließe sich überlegen, was Jesus im Vater Unser gerade nicht zur Sprache bringt: Das Thema „Glück“ spielt keine Rolle, nichts von individueller Erfüllung, nichts von „Selbstverwirklichung“ oder Autonomie in ethischen Fragen („Selbstbestimmung“), den beiden konkurrierenden Leitlinien der modernen Morallehre.
Aber selbst schon das Nachdenken darüber, wie man sich dem Vater Unser nähern soll, wäre ein schönes Thema. Ich möchte heute in dieser Predigt zwei Dinge tun. Zum einen wähle ich einen ganz persönlichen Weg. Ich will Ihnen sagen, was mir selbst am Vater Unser besonders entgegenstrahlt. Es ist das meine Sicht heute. Mit dem Vater Unser lebt mein Glaube von Anfang an. Aber so, wie ich selbst mich in den Jahren und Zeiten meiner Biographie gewandelt habe, so hat auch mein Glaube sich verändert, und er wird es weiter tun. Deshalb ist auch mein Blick auf diese Worte Jesu nicht immer der gleiche. Es ist, wenn ich mir Gedanken zum Vater Unser mache, auch Ausdruck meines Glaubens in seiner momentanen, seiner unmittelbar jetzt lebenden Gestalt.
Das andere ist der Versuch, alle diese Motive von einem Punkt aus zu betrachten. Ich möchte eine Antwort auf die Frage geben: Was ist das Gemeinsame, was ist die Grundlage oder der Anfangsmoment, von dem aus Jesus diese und gerade nur diese Worte spricht?
I.
Gott wird als „Vater“ angesprochen. In meinen eigenen Gebeten und fast immer in denen zu gottesdienstlichen Zwecken spreche ich lieber von „Herr, mein Gott“ oder „Gott, unser Herr“. Bei Segnungen, zum Beispiel am Grab, benutze ich die Formulierung „Es segne Euch Gott, der Allmächtige“. Aber ich weiß auch um die Bedeutung der Vater-Anrede. Nicht erst die Lektüre psychoanalytischer Schriften mußte mir eröffnen, wie prägend der Eindruck eines liebevollen, zuhörenden Vaters ist für die Entwicklung einer eigenen religiösen Welt, einer lebendigen Beziehung zu Gott, die ihre Wurzeln in der Seele hat.
Daß sich Gefühle des Vertrauens und der Liebe aber immer, wenn sie wirklich kräftig sind, aus einer Gemeinschaft heraus entwickeln, so eigenartig und hinderungsvoll solche Gemeinschaften auch sein mögen, ist genau so klar, wie daß sie nur auf Gemeinschaften hin mit uns mitleben.
Auffällig ist die Heiligung des „Namens“. Spricht man von Gottes Namen, dann betritt man das weite Feld des göttlichen Mysteriums, das unlösbar zu aller Rede von Gott gehört und niemals wegrationalisiert werden wird. Ein sprachlich faßbar gemachter Gott ist keiner mehr. Die Sprache ist überhaupt kein geeignetes Mittel, um Gottes habhaft zu werden und ihn faßbar zu machen. Das ominöse „Heilig“ ist keine Sache für Theologen, sondern für den Glauben. Dem zweiten Gebot zufolge, soll der Name Gottes „nicht mißbraucht“ werden. Aber wer oder wie Gott ist, wer könnte das sagen? In dieser Hinsicht herrscht viel Anmaßung, und jeder muß hier für sich selber wissen, worum es geht.
Mir ist „Heilig“ etwas sehr Gegenwärtiges und gerade nicht das Abgesonderte, für sich Stehende, nicht das Absolute, das sich mir entzieht. Heilig ist es für mich dann, wenn es eben wirklich „für mich“ heilig ist, sich mir in seiner Heiligkeit erschließt und öffnet.
Ich möchte bei diesem Punkt etwas verweilen, betone aber noch einmal, daß es mir heute darum geht, von mir selbst Zeugnis abzulegen. Ich will niemandem einen anderen Zugang verwehren. Es kann äußerst tröstlich sein, sich an Vorgaben zu orientieren, die unabhängig sind von persönlichen Einstellungen.
Wenn etwa im zweiten Buch Mose die Forderung ergeht, Friedhöfe generell zu respektieren und mit größtem Respekt zu betreten, weil sie „heiliges Land“ seien (Ex 3, 5), dann handelt es sich eben nicht mehr darum, welche Gefühle denjenigen bewegen, der sie aufsucht. Diese Unabhängigkeit der Auszeichnung als „Heilig“ befreit das als heilig Bezeichnete von meiner Einstellung zu ihm und entlastet mich damit ja auch davon, in mir die ihm irgendwie angemessene Haltung hervorzubringen. Und dennoch bleibe ich für mich selbst dabei, daß es auch hier das Entscheidende ist, was mir begegnet und wie ich mich in diesem Moment zu ihm verhalte. Denn die Zuschreibung von außen kann für mich verbindlich erst in dem Moment werden, in dem ich sie auch an mir und für mich gelten lasse.
An dem Tag, an dem ich diese Predigt entwerfe, habe ich auf dem Platz vor der Synagoge zum Weißen Storch in Breslau gestanden. Die Jüdische Gemeinde dieser Stadt, die drittgrößte im Deutschen Reich nach Berlin und Frankfurt am Main, hatte vor 1933 fünfundzwanzigtausend Mitglieder. 1940 waren es aufgrund der Auswanderungen noch viertausend, und diese viertausend Menschen wurden in den Jahren von 1941 bis 1944 in die Vernichtungslager Bełżec und Auschwitz sowie in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Eine der damaligen Sammelstellen, sogenannte „Umschlagsplätze“, wohin also die betroffenen Personen von ihren vorherigen Wohnstätten unter Gestapo- und Polizeieinsatz zusammengebracht wurden, war der Platz vor der Synagoge.
Ich stehe also nun an diesem Ort. Umgeben bin ich von vielen anderen Besuchern. Meist sind es junge Leute, anscheinend auch eine größere Gruppe amerikanischer Schüler, dazu andere Stadttouristen. Der Platz ist eine Art Hinterhof. Man gelangt zu ihm durch einen Torgang von der Ulica Pawla Włodkowica 4 aus, der früheren Wallstraße, wenige Schritte von demjenigen Gebäude entfernt, in dem bis 1938 das Jüdisch-Theologische Rabbinerseminar untergebracht war. An einer Hauswand ist eine Tafel, die darauf hinweist, daß von dieser Stelle die Deportationen der Breslauer Juden ihren Ausgang genommen haben.
Es fällt mir sehr schwer, mir das Geschehene vorzustellen, und ich sehe im Inneren Bilder, die wohl eher aus „Schindlers Liste“ oder „Der Pianist“ stammen. Aber einer meiner Kollegen aus dem Kirchenkreis Berlin-Charlottenburg, mit denen ich unterwegs bin, hat sich intensiv damit beschäftigt und erläutert es, so gut es geht. Und hier muß ich nun einfach sagen: Dies ist ein Ort, den ich als „heilig“ empfinde. Zunächst einfach an und für sich wegen der Begebenheiten, der Geschichte und der Bewegung, die die ganze Holocaustthematik eben in mir erzeugt. Dann aber auch im Rahmen dieser verwüsteten Stadt mit ihrer eigenen Tragik, wenn man als westlicher Besucher mit der allenthalben spürbaren postsozialistischen Desorientierung konfrontiert wird und den sehr ins Auge fallenden Ungleichzeitigkeiten der Entwicklung.
Es widerstrebt mir nicht, auszusprechen, daß ich einen Platz, einen Ort als „heilig“ empfinden kann, so prätentiös dieses Wort klingt. „Heilig“ umschreibt für mich einen auf besondere, nicht verfügbare Weise geisterfüllten Raum, selbst einen solchen der Erinnerung.
Der Wortlaut des Vater Unsers bestätigt diese Auffassung: Es heißt ja ausdrücklich „Dein Name werde geheiligt“ und eben nicht: „Dein Name ist heilig“. Das Heilige bezeichnet keinen Zustand, sondern ein Geschehen. Es steht für eine geisterfüllte Bewegung. „Heilig“ bezeichnet eine besonders herausgehobene Situation, Ereignisse und Momente, in denen sich die Kraft des Geistes zeigt. Es ist eine Kraftquelle, eine Bündelung mehr als ein lokal fixiertes Zentrum geistiger Präsenz. Das Wort selbst besagt dies ja an sich schon, indem es zum Ausdruck bringt, die Wirklichkeit des Lebens werde momentartig „heil“, ein „Heilsein“, das – wie bei meinem Breslauer Erlebnis – aufscheinen kann selbst als allerschärfste Entgegensetzung zu Leid, Schmerz und Todesqual.
Eine ähnliche Form hat der nächste Satz. Auch hier wird nicht einfach die Behauptung aufgestellt: „Gottes Reich kommt“, sondern es wird gesagt, daß es kommen werde. Gottes Reich ist mir besonders dann gegenwärtig, wenn ich feste Formen und Strukturen (man könnte auch von „Ordnungen“ sprechen) zu erkennen meine, in denen sich die Liebe Gottes verfestigt, verstetigt hat, und zwar in unserem beschränkten, so arg belasteten menschlichen Handeln. In Einrichtungen, die Hilfe bieten, wo bittere Not, heftiger Schmerz, schwere Krankheit, das Sterben einen guten Ort haben sollen, oder auch dem gerade gegenüber: Orte für das Geborenwerden und Aufwachsen des Kindes.
Über allem unserem Handeln steht, daß Gottes Wille es lenken möge. Durch uns, auch durch mich, geschieht es, daß Gottes Wille wirklich wird in dieser Gegenwart mit all ihren körperlichen und geistigen Dimensionen.
Auf die natürliche, materielle und physische Basis des Lebens bezieht sich die Bitte um das Brot. Das ist eine sehr ansprechende Formulierung, und ich spreche sie oft mit einem richtigen Neuansatz aus, auch stimmlich und von der Tonhöhe her.
Der nächste Punkt aber wird dann über einen großen Sprung erreicht: „Vergib uns unsere Schuld.“ Wie kommt man so umstandslos von dem täglichen Brot zur Bitte um Vergebung der Schuld? Gibt es da einen inneren, untergründigen Zusammenhang? Wird damit auf den „Kampf ums Überleben“ angespielt, bei dem ich das zur Erhaltung der eigenen Existenz Notwendige derart mir aneigne, daß ich es einem anderen wegnehme? Daß ich einfach dadurch, daß ich da bin, in der Gefahr stehe, die Integrität anderer anzutasten, scheint eine unabweisbare Wahrheit zu sein, jenseits des religiösen Rahmens. „Schuld“ ist zwar ein beladener Begriff, ähnlich wie „Sünde“. Aber an der Realität des Schuldigwerdens und Schuldigseins kann ja für eine nachdenkliche Sicht auf das eigene Selbst kein Zweifel bestehen. Ebenso wenig wird die Selbstbefreiung aus solchen Bindungen des Schuldigseins als möglich erscheinen. Die Bitte hat ihren guten Grund, genau so wie die Maxime, unsererseits denjenigen zu vergeben, die an uns schuldig geworden sind. Vergebung ist ein christliches Grundkonzept.
Nun aber kommt die Klippe des Vater Unsers: „Führe uns nicht in Versuchung.“ Ich möchte heute in dieser Predigt diesen Satz einfach so stehen lassen. Er ist Bestandteil des Gebetes und darf nicht übersehen oder weggeflüstert werden.
Lange Zeit hat es in der protestantischen Tradition geheißen: „[...] sondern erlöse uns von dem Übel“, sogar noch im Evangelischen Kirchengesangbuch von 1951. Heute heißt es: „erlöse uns von dem Bösen“. Auch diese Differenz könnte zu weitläufigen Überlegungen hinlenken. Es handelt sich auch nicht in erster Linie um einen exegetischen Sachverhalt, denn der griechische Text (ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ) läßt beides zu. Hier steht vielmehr eine relevante theologische Thematik zur Diskussion. Zwar sind „das Übel“ und „das Böse“ keineswegs das gleiche, aber sie laufen in dieselbe Richtung. Das Böse ist das Irrationale, so unterschiedlich die Erscheinungsformen auch sein mögen. „Böse“ ist das, was alles zunichte macht, die Absicht, die Vorsicht, das Planende, die Verantwortung, die Lebenszuversicht und auch die Liebe. Daß ich in diesem Gebet Gott darum bitte, mich von der Last des Irrationalen zu befreien, entspricht unmittelbar meinem Vertrauen zu ihm.
Mit dieser siebenten Bitte endet der Gebetstext. Es folgt die sogenannte „Doxologie“, die Bekräftigung von Macht und Herrlichkeit Gottes, vom Betenden gleichsam wie zur eigenen Vergewisserung gesprochen. Mir sind diese Worte nicht so wichtig. Bei ihnen angelangt, habe ich fast immer das Gefühl, das Eigentliche sei bereits gesagt. Aber ich behalte mir die Schlußwendung trotzdem gerne vor, vielleicht für spätere Verwendung, so wie man ja auch „auf Vorrat“ hoffen kann. Es wandelt sich ja, so wie alles andere, auch der Glaube, und ich habe an mir selbst erlebt, daß sich die Verhältnisse ändern, die Gewichte verschieben und neue Einsichten aufkommen, andere aber, an denen man gehangen hat, zurücktreten.
II.
Liebe Gemeinde, das ist mein kleiner persönlicher Durchgang. Jeder von Ihnen wird seinen eigenen veranstalten können, und darin kommt der lebendige Glaube zum Ausdruck.
So breit nun aber das Spektrum des Vater Unsers ist, mit seinen einzelnen Bitten: Man kann doch nach dem einen gemeinsamen Ausgangspunkt fragen. Was bringt alle diese Punkte zusammen? Von welcher Perspektive aus faßt Jesus gerade sie hier zusammen, diese und keine anderen. Auch hierzu gibt es natürlich, wenn wir uns nur ein wenig umschauen, Überlegungen, Assoziationen, bibelkundliche Anmerkungen und kulturgeschichtliches Material von unüberschaubarer Fülle.
Läßt man sich nur einen Moment auf dieses Vater Unser-Universum ein, so will es scheinen, als könnte man letztlich jedes einzelne Motiv als einen solchen Dreh- und Angelpunkt betrachten. Nehmen Sie nur die Bitte um das „tägliche Brot“? Manch anderer wird die Bitte um die Vergebung der Schuld nennen. Der Folgesatz ist eine wahre Herausforderung: „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Meint man das wirklich ernst? Und wenn ja, was heißt es konkret? Man hat daran zu arbeiten.
Nun stehen aber den Gebetsworten noch einige Zeilen voran. Und ihnen möchte ich mich zuwenden. Denn hier gibt Jesus selbst gleichsam eine Art Vorwort, vielleicht auch eine Gebrausanweisung und überhaupt eine grundsätzliche Erläuterung zum Gebet und zum Beten. Er antworte nicht nur auf die Frage, was soll ich beten, in welchen Worten und mit welchen Vorbringungen. Mehr noch geht es ihm um die andere: Wie soll ich es tun, in welcher geistigen Haltung? (Die körperliche, auf die andernorts so unendlich viel Gewicht gelegt wird, interessiert ihn nicht. Allenfalls die – urprotestantische – Mahnung, „in sein stilles Kämmerlein“ solle sich der Gläubige zum Gebet zurückziehen, weist in diese Richtung.)
Was also ist das Prinzip Jesu? So zu fragen ist keineswegs absonderlich, sondern äußerst sinnvoll. Denn die Kraft des Gebetes erwächst ja nicht aus den einzelnen Wendungen und Bitten, sondern eben aus dem, was alle zusammen verbindet. Er sagt: „Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern […]. Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet.“
Wir wollen diese Worte als das nehmen, was sie sind: Eine Überschrift, eine Verstehensregel, der Quellpunkt für das Folgende. Läßt man sich darauf ein, den Gebetstext von dieser Vorbemerkung aus zu verstehen, dann zeigt sich: Es geht im Vater Unser gar nicht in erster Linie um die Bitten selbst, gar nicht um die konkreten Anliegen.
Man hat an dem Gebet die besonders enge Anknüpfung an den Alltag gerühmt, seine lebenspraktische Grundhaltung. In Wahrheit aber ist genau das Gegenteil der Fall: Jesus wendet die Orientierung aus dem Gegenwärtigen ab. Im Mittelpunkt steht der Bezug auf Gott. Er wird angesprochen als der Herr über unser Schicksal, über alles Ergehen, Tun und Lassen. Das Vater Unser spricht es klar aus: Ich gebe mich und mein ganzes Dasein in Deine Hand. Überhaupt keine Rolle spielen die irdischen Lohn- und Strafgedanken, die sonst unsere Berechnungen und Erwartungen so stark prägen. Hinter allen einzelnen Aussagen steht die eine große Bitte darum, daß wir mit unserem Leben und Sein immer tiefer hineinwachsen in das Reich Gottes.
Das Vater Unser ist ein Zeugnis des Vertrauens auf Gottes Macht, auf seine Güte und Treue. Und auch hier zeigt sich also wieder: Dieses Vertrauen ist die christliche Grundüberzeugung schlechthin. Sein Leben Gott anheim zu stellen, wie es früher hieß, ist tatsächlich auch für uns die eine wirklich wesentliche Forderung des christlichen Glaubens.
Daß es nun aber gerade Jesus ist, der uns die richtigen Worte dafür nahelegt, wenn wir sie vor Gott aussprechen wollen, das macht das Besondere des christlichen Glaubens aus.
Weshalb aber sollen wir nun diese Worte (oder doch ähnliche) sprechen? Wir wissen, daß wir die Nähe zu Gott nicht aus uns selbst heraus werden entwickeln können. Sie bleibt ein Geschenk, etwas Empfangenes. Aber wir müssen es uns eben innerlich aneignen, zu eigen machen, uns im Leben damit in Einklang bringen. Und hierfür sind jene Worte Jesu gedacht.
Wir bitten Gott nicht um irgend etwas, was uns gerade beschäftigt. Sondern hier erfahren wir und sprechen es aus, was Gottvertrauen im alltäglichen Leben bedeuten kann. Es handelt sich um einen Rahmen, den wir selbst mit unserer einzelnen Existenz ausfüllen.
Über allem aber steht die Überzeugung: Gott weiß immer zuvor schon an sich selbst, was mich bewegt. Dies ist der schlechthin wesentliche Punkt und das Elementare: „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, ehe ihr ihn bittet.“
Amen.
Herangezogene Medien:
Ulrich Luz: Das Evangelium nach Matthäus. Teilband 1 (Mt 1 – 7). Fünfte, völlig neubearbeitete Auflage (Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament. Band I/1), Düsseldorf / Zürich und Neukirchen-Vluyn 2002.
Pinchas Lapide: Die Bergpredigt – Utopie oder Programm? Zweite Auflage (Grünewald-Reihe), Mainz 1982.
Eine Luftbildaufnahme des Platzes vor der Synagoge zum Weißen Storch sowie der Synagoge und der umliegenden Gebäude aus heutiger Zeit findet sich im Internet unter: http://fotopolska.eu/Wroclaw/b9865,Wlodkowica_4.html.
Perikope
Datum 05.05.2013
Reihe: 2012/2013 Reihe 5
Bibelbuch: Matthäus
Kapitel / Verse: 6,7
Wochenlied: 133 344
Wochenspruch: Ps 66,20