Predigt zu Offenbarung 3,7–13 von Eberhard Schwarz
7 Und dem Engel der Gemeinde in Philadelphia schreibe: Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf:
8 Ich kenne deine Werke. Siehe, ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft und hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.
9 Siehe, ich werde schicken einige aus der Synagoge des Satans, die sagen, sie seien Juden und sind's nicht, sondern lügen; siehe, ich will sie dazu bringen, dass sie kommen sollen und zu deinen Füßen niederfallen und erkennen, dass ich dich geliebt habe.
10 Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird über den ganzen Weltkreis, zu versuchen, die auf Erden wohnen.
11 Siehe, ich komme bald; halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!
12 Wer überwindet, den will ich machen zum Pfeiler in dem Tempel meines Gottes, und er soll nicht mehr hinausgehen, und ich will auf ihn schreiben den Namen meines Gottes und den Namen des neuen Jerusalem, der Stadt meines Gottes, die vom Himmel herniederkommt von meinem Gott, und meinen Namen, den neuen.
13 Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!
Liebe Gemeinde,
im Winter 1992 / 1993 rannte der kleine Yasmin mehrere Male am Tag um sein Leben. Wenn er Wasser holte oder Holz suchte; oder wenn er Ausschau hielt nach etwas Essbarem für seinen Hund. Yasmin war damals dreizehn Jahre alt. Seine Heimat war das von bosnisch-serbischen Truppen belagerte Sarajewo. Sein Alltag war der Kampf ums Überleben. Schnell losrennen, sich wegducken oder zu Boden werfen, wenn Scharfschützen in der Nähe waren oder Granatenbeschuss. Eineinhalbtausend Kinder starben in diesen Monaten gewaltsam. Mehr als 11.000 sollen es bis jetzt im syrischen Bürgerkrieg sein. Yasmin gehörte zu denen, die überlebten. Was ihn am meisten berühre, wenn er sich erinnere, wird er 20 Jahre später gefragt. Die Antwort kommt ohne, dass er überlegen muss: „Dass ich lebendig bin“, sagt er. Dass ich lebendig bin!
Was Leben ist, grundsätzlich, in seinem Wesen, das können wir nur schwer beschreiben. Aber was lebendig Sein ist, das wissen wir aus Selbsterfahrung. Yasmin weiß es. Und wir wissen es auch. Besonders deutlich wissen wir es dort, wo unser Freiheit, unsere Entfaltungsräume eingeschränkt, bedroht oder gefährdet sind. Und das sind sie ja nicht nur im Krieg. Überall, wo unser Leben klein und eng wird, wo unser Dasein wert- und ziellos zu werden droht, spüren, ahnen wir: wir sind gar nicht mehr wirklich lebendig.
Noch einmal: Was Leben ist, das wissen wir nicht wirklich. Sogar die Wissenschaften haben oft nicht viel mehr als ein paar biochemische Formeln und tun sich schwer, es zu beschreiben und zu erklären. Aber Lebendigkeit: davon haben wir alle eine Ahnung.
Heute, an diesem zweiten Sonntag im Advent, geht es darum, dass wir unsere Lebendigkeit nicht verlieren; dass wir sie nicht übersehen oder schlimmer noch: verleugnen. Wir kommen dabei sehr nahe zu den Kleinen, zu den Schwachen, sehr nahe zu Yasmin und zu den Kindern dieser Welt. Zu denen, die kaum eine Chance haben in dieser Welt des Kämpfens. „Du hast eine kleine Kraft!“ Wer sieht sie? Durch diesen alten biblischen Text hindurch sehen wir sie: wie sie um ihr Leben laufen müssen, wie sie um ihr Dasein und um ihre Würde kämpfen in den blutigen Spielen aller Zeiten um Macht und Geld. Damals, am Ausgang des ersten christlichen Jahrhunderts war das so. Immer war das so. Diesen Menschen mit einer kleinen Kraft gilt die Verheißung: Sie sollen Leben.
Ihnen gilt das Evangelium dieses Sonntags: Du wirst nicht untergehen, du wirst leben, du, mit deiner kleinen Kraft, wirst zur tragenden Säule in einem neuen Lebenshaus, in einer Stadt der Lebendigen!
Sieben Briefe sind es, sieben Sendschreiben in diesen ersten Kapiteln der Johannesoffenbarung, sieben Botschaften an die sieben Gemeinden Kleinasiens! Diese Briefe mahnen und trösten und unterweisen die jungen Kirchen in schwierigen, bedrohlichen Zeiten. Es sind, genau besehen, auch unsere Kirchenthemen: Müdigkeit und Erschöpfung steht neben spirituellem Reichtum und großen Zeugnissen von Menschlichkeit. Perspektivlosigkeit und Lauheit stehen neben Standhaftigkeit und Mut. Lasst Euch nicht entmutigen. Bleibt Lebendig. Bleibt Botschafterinnen und Botschafter von Ostern. Das ist immer wieder die Mahnung dieser Sendschreiben.
Zu Philadelphia ist es anders gesagt als zu dem lauen Laodicea, anders als zu der Kirche in Sardes, die behauptet, sie lebe, aber in Wahrheit ist sie tot. Anders als diese selbstbewußten Kirchen erscheint die Kirche in Philadelphia im Herzen Kleinasiens zwar äußerlich schwach – „Du hast eine kleine Kraft“. Aber in dieser Ohnmacht ist sie stark! Sie ist stark, weil sie sich auf ein Wort verlässt und einen Namen nicht verleugnet. Du „hast mein Wort bewahrt und hast meinen Namen nicht verleugnet.“ Der, der hier spricht, das ist der Gekreuzigte und Auferstandene selbst. Seinen Namen haben sie nicht verleugnet und sind deshalb zu angefochtenen, schwachen Menschen geworden. Sein österliches Wort bewahren und tragen sie in ihrem Herzen in ihrer ganzen Zerbrechlichkeit. Und gerade so sind sie Zeuginnen und Zeugen seines Lebendigseins.
Liebe Gemeinde,
wer diese Sendschreiben im letzten Buch der Bibel liest, der liest die ganze Bibel mit. Wir hören im Hintergrund die Worte des Apostels Paulus über Schwachheit und Stärke: „Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark“ (2. Korinther 12,10). Da ist ein Echo aus dem Jesajabuch: Wie der gewissenhafte Hofmeister Eljakim die Schlüsselgewalt über den Königlichen Palast Jerusalem bekommt (Jesaja 22) – auch er ein Angefochtener, Zerbrechlicher; wir hören, wie nun ein anderer in Erscheinung tritt, der die Schlüssel zum Lebendigsein in Händen hält. „Das sagt der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf“. Der Gekreuzigte und Auferstandene selber hat eine Tür zum Leben hin geöffnet, die niemand mehr schließen kann!
Dieses letzte Buch der Bibel ist entstanden, als der römische Kaiser Domitian den Kaiserkult als Religion durchsetzen will. Als „dominus et deus“, - als Herr und Gott lässt er sich anreden und verehren und bringt damit sowohl Juden als auch die frühen Christen in große Not. Sie beten nur den einen Gott an. Sie verleugnen diesen Namen nicht. Und deshalb erklärt ihnen Domitian den Krieg. Aber das Buch der Offenbarung erzählt nun nicht, wie umgekehrt die Christen ihrerseits dem Kaiser den Krieg erklären.
Hier erhebt ein urchristlicher Prophet mit großen Bildern seine Stimme und erklärt dem Römischen Reich das Leben! Ein Leben, das man hier auf Erden nicht mehr kennt. Ein Leben, das sich vom Himmel her durchsetzt. Ein Leben, das gerade in seiner Schwachheit stark ist: Der Gekreuzigte und Auferstandene, das Lamm, Gott selber - gegen unser mörderisches Tun. Das wird hier erklärt. Und am Ende werden die Lebendigen in einer Stadt des Lebens Heimat haben! Kein zweites Rom. Und Gott wird die Tränen von den Augen der Klagenden wischen. Und der Tod wird nicht mehr sein.
Und die Zeuginnen und Zeugen dieses Lebens, denen die Zukunft gehört, sind Menschen wie die in Philadelphia, die in ihrer Schwachheit stark sind.
Es gibt in diesem Sendschreiben an die Kirche von Philadelphia rätselhafte Sätze, die bis heute schwer zu deuten sind. Das gilt besonders für die Warnung vor Leuten aus der "Synagoge des Satans", die, so scheint es, kommen, um die Adressatinnen und Adressaten infrage zu stellen oder gar zu denunzieren. Vielleicht ist damit eine der frühchristlichen Gruppen gemeint, die sich selber als die wahren Juden sehen. Schon im Schreiben an die Stadt Smyrna spielen sie eine Rolle. Wer sie waren: Wir wissen es nicht genau - auch weil die Trennung von Kirche und Synagoge noch nicht vollzogen ist. Aber was zu den Menschen in Philadelphia gesagt ist, das verstehen wir sehr gut: lasst euch auch durch die inneren Kritiker nicht dazu bringen, zu glauben, das ihr nichts wert seid. Dass die mit den kleinen Kräften keine Würde hätten. Im Gegenteil: ihnen gilt die Verheißung des Lebendigseins. Im Hintergrund hören wir wieder deutlich biblische Resonanzen - diesmal aus der Bergpredigt Jesu: „Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen.“
Wir denken noch einmal an Yasmin, wir denken an die Kinder dieser Welt, an die Schwachen, die sich nicht wehren können, an die Opfer. Wir denken auch an den erwachsen gewordenen Mann Yasmin, der von sich sagen kann: Was mich am meisten berührt, ist, dass ich lebendig bin. Wir spüren, das damit nicht nur gesagt ist: dass mein Herz schlägt oder dass ich atme oder dass ich essen und trinken kann und auf zwei Beinen durch diese Welt gehe. Wir spüren, dass dahinter auch ein Wissen vom anderen Leben liegt, vom anderen Lebendigsein in dieser Welt der Gewalt. Und dass ihm dieses Wissen geschenkt ist, weil er seine Ohnmacht gespürt hat. Ihm - uns - ist heute, an diesem zweiten Adventssonntag, gesagt: Bleibe ein Zeuge des Lebens. "Halte, was du hast, dass niemand deine Krone nehme!" Lass dir die Bilder des Lebendigseins nicht stehlen.
Wer heute Ohren hat zu hören, der hört: in dieser mörderischen Welt ist noch die kleinste Kraft ein Zeugnis von Lebendigkeit. Ein Zeugnis der Hoffnung und verheißenen Lebens. Das sagt uns der Gekreuzigte und Auferstandene, der uns in der Taufe seinen Namen schenkt, den wir mit Würde tragen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
Pfarrer Eberhard Schwarz