Predigt zu 1. Thessalonicher 5,1-6 von Eugen Manser
5,1-6

Predigt zu 1. Thessalonicher 5,1-6 von Eugen Manser

Liebe Gemeinde,

knapp 20 Jahre nach dem Tode Jesu gründete der Apostel Paulus die Christengemeinde in Thessalonich, dem heutigen Saloniki. Er verließ sie als eine lebendige Gemeinde, die von der Hoffnung auf den „Tag des Herrn“, der Wiederkunft Christi, lebte. „Unser Herr kommt!“, das war ihr Ermutigungsgruß untereinander. Da geschah das Unerwartete: Einige Gemeindeglieder starben und die Welt bestand ungerührt fort. Die Gemeinde geriet in Unruhe. ‚Wann kommt ER? Was wird mit den Verstorbenen?’ Paulus hörte von diesen besorgten Fragen. Er schrieb einen Brief. Ein Abschnitt daraus lautet so:

 

1.Thess. 5, 1-6

 

Der Tag des Herrn wird kommen wie ein Dieb in der Nacht. Von den einen herbei gesehnt, von den anderen herbei gefürchtet und dann kommt er doch völlig unerwartet.

Einen schwachen Abglanz vom Tag des Herrn habe ich heute vor 25 Jahren erlebt.

Es war ein Donnerstag, der 9. November 89. In unserer Gemeinde waren die Festtage zum 60sten Kirchweihjubiläum im Gang mit Tanz auf allen Sälen. Keiner hat geahnt, dass an diesem Abend die Mauer fallen würde. Selbst dem Sprecher dieser Nachricht schien der Inhalt nicht ganz klar zu sein. Ein kleiner Tag des Herrn – wir Menschen stolpern ahnungslos in ihn hinein.

Nicht auszudenken, wenn uns das beim Jüngsten Tag auch passiert!

Der Jüngste Tag, das ist ja der letzte Tag. Das ist der Tag meines Überganges von der Zeitlichkeit in die Ewigkeit. Es ist der Tag, an dem ich das Zeitliche segne. So wie Abraham und Jakob vor ihrem Sterben die Ihren gesegnet haben, segne ich die Meinen. Aber ich tue noch mehr. Ich bitte mit der Autorität dessen, der nichts mehr für sich bittet, der schon mit einem Fuß in der Ewigkeit steht, Gott um den Segen für das Zeitliche, das ich verlasse.

Das ist der Jüngste Tag. Wir werden ihn alle erleben so sicher wie wir geboren wurden. Ob wir aber an diesem Tag das Zeitliche segnen oder uns als zum Tode Verfluchte empfinden, das entscheidet sich daran wie viel Liebe und Barmherzigkeit wir in unserem Leben zulassen und verschenken.

 

In einer Geschichte von Franz Werfel wird von der ungeheuren Kraft der Liebe als Fürsorge erzählt. Sie heißt „Der Tod des Kleinbürgers“:

Es war nach dem Ersten Weltkrieg. In einer lichtarmen Hinterhofwohnung Wiens schlägt sich die Familie Fiala mehr schlecht als recht durchs Leben. Der Hausvater erinnert sich wohl an gute Zeiten vor dem Krieg; damals war er bei einer angesehenen Firma. Doch jetzt ist Schmalhans Küchenmeister.

Herr Fiala wurde vorzeitig pensioniert – schlechte Zeiten. Sie mussten die große Wohnung aufgeben, gute Stücke verkaufen und in den Dunstkreis der Armen ziehen. Mit Not fand Herr Fiala als 64jähriger noch eine Halbtagsbeschäftigung in einem Magazin. Das Geld muss reichen für ihn, die Frau und den 32jährigen Franzl. Der ist Epileptiker und wird nie eine Arbeit finden.

Doch Herr Fiala hat ein großes Geheimnis, ein Geheimnis, das seine Frau und vor allem den Franzl einmal vor dem Armenhaus bewahren wird, wenn er, der Vater, nicht mehr ist. Ganz im Verborgenen hat er eine Lebensversicherung abgeschlossen. Die Prämie nach seinem Tode wird für Frau und Sohn ausreichen. Eine kleine Klausel enthält die Police: Das Geld wird ausgezahlt unter der Bedingung, dass Herr Fiala das 65ste Lebensjahr erreicht. Doch was vermag schon eine kleine Klausel – er ist doch schon 64 und, Gott sei Dank, gesund.

Doch am 1. November, dem Tage aller Seelen, hält er es nicht mehr aus. Bislang konnte er es vor der Familie verschweigen. Doch heute, wo seine Frau auf dem Zentralfriedhof bei den Gräbern ist, nutzt er die Gelegenheit. Er packt eine Abreißkalender und einige Wäschestücke in die Tasche und geht steif aufgerichtet ins Krankenhaus.

„Menschenskind, Sie haben 39,3 Fieber!“ herrscht ihn der junge Arzt an. Kaum liegt Fiala im Bett, brechen aus ihm die Krankheiten wie ein Vulkan. Doppelseitige Lungenentzündung, Rippenfellentzündung.

Fiala liegt still im Bett. Er bewältigt die Krankheit wie eine Arbeit. Jeden Tag nur reißt er ein Blatt vom Kalender. Am 5. Januar wird er 65. Die Ärzte wundern sich über den seltsamen Patienten mit der harten Willensfalte in der Stirn, der nicht sterben will. Schließlich übermannt ihn die Bewusstlosigkeit hin und wieder zwischen Fieberschauern. Noch in diesem Zustand wehrt er sich gegen Morphiumspritzen. Es ist kurz vor Weihnachten.

Der Arzt sagt zu Frau Fiala: „Sie müssen sich auf alles gefasst machen. In acht Tagen hat er ausgelitten.“ Fiala wird ins Sterbezimmer verlegt, die Visite übergeht ihn schon. Da hört der Pfleger zufällig am Morgen, wie der Sterbende nach Milch verlangt. Für die Ärzte wird der Kranke zu einem „Fall“. Nach menschlichem Ermessen müsste er längst gestorben sein. Sie kommen von auswärts ans Bett dieses außergewöhnlichen Kranken, der einen schmierigen Kalender in den spindeldürren Fingern hält.

Ein alter Professor sagt zu seinen Studenten: „Das Herz ist nicht nur ein Organ, meine Herren. Da ist etwas in uns, was König des Herzens ist.“

Schließlich, am 7. Januar, stürzt der Haufen von Haut und Knochen, der einmal Herr Fiala war, in sich zusammen.

Zwei Tage über das Ziel war er hinausgerannt wie ein guter Läufer.

 

Liebe Gemeinde,

der Kleinbürger Fiala lebte nicht nur sich selbst. Er lebte in der Sorge für seine Frau und seinen Sohn. Er musste den 5. Januar erreichen, damit die Lebensversicherung seine Familie auszahlt. Die Liebe zu den Seinen hat ihn gegen alles menschliche Erwarten am Leben erhalten. Lediglich der alte Professor ahnte, was in dem gepeinigten Körper vor sich ging: „Da ist etwas in uns, was König des Herzens ist.“

Dieses Etwas trägt durchs dunkle Tal. Paulus gibt dem Etwas Namen: Glaube, Liebe, Hoffnung. Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.

Die Gemeinde in Thessalonich war verwirrt. Sie hatten den Jüngsten Tag zu Lebzeiten als kosmisches Ereignis erwartet. Und nun starben Gemeindeglieder, Todesschatten überdeckten die Hoffnung. Andere kamen und redeten sich und ihren Mitmenschen Mut ein: ‚In dieser  Welt ist es längst Tag, es ist Frieden und keine Gefahr – das Reich Gottes ist längst vollendet unter uns.’

Paulus warnt: Seid besonnen, lasst euch nicht verwirren. Seid wachsam und lasst euch nicht ablenken. Lasst euch den Blick nicht trüben durch die Morphiumspritzen der Schönredner.

Herr Fiala hat Morphium abgelehnt. Er wollte wach den Abreißkalender  kontrollieren können. Durch ihn blieb er in der Zeit. Er wusste, was noch vor ihm lag, und was er schon hinter sich hatte. So sollen auch wir die Zeit, die Gott uns schenkt, nüchtern im Auge haben, den Kalender unseres Lebens aufmerksam verfolgen bis zu dem Punkt, an dem ich bereit bin, die Zeitlichen und das Zeitliche zu segnen.

Liebe Gemeinde, was ich aus dem Bibelwort und aus der Geschichte von Herrn Fiala gelernt habe, kann ich etwas salopp nur so zusammenfassen:

Ich kriege mein Leben und vor allem mein Sterben nur auf die Reihe, wenn mein Leben ein „Leben für“ ist und zwar nicht nur für mich, sondern für die, die mir in meinem Leben anvertraut sind.

Wenn ich sie versorgt weiß, dann habe ich ausgesorgt. Dann kann ich mich auf den Tag des Herrn freuen und das Zeitliche segnen.

Bitten wir Gott, dass er uns dabei hilft!