Predigtentwurf zu Lukas 24,13-17 von Werner Grimm
(Hinweis: Dieser Beitrag zum Text des Ostermontags 2015 (Lk 24,13-27) ist im strengen Sinn keine Predigt: In Teil A versuche ich, den Text entlang gehend, eine Meditation desselben, in welche philologische und formgeschichtliche Erkenntnisse einfließen. In Teil B kommuniziert die Ostergeschichte von den Emmaus-Jüngern mit Begegnungen und Erfahrungen, die meine Frau, Roswitha Bernius-Grimm, aus ihrer 13-jährigen Tätigkeit als Pfarrerin im Stuttgarter Olgahospital mitbringt. Sie bekräftigen, was wir ohnehin ahnen: dass die österliche Geschichte Lk 24,13-17 vor allem eine Text für Trauernde ist und seelsorgerliche Qualität besitzt.)
A Meditation
Die Ostergeschichte von den Emmaus-Jüngern – eine Weg-Geschichte – versehe ich mit einer Gliederung und Zwischenüberschriften; die Übersetzung folgt weithin Wolfgang Wiefel (Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament).
Exposition
13 Und siehe, zwei von ihnen wanderten am selben Tage zu einem Dorf, sechzig Stadien von Jerusalem entfernt, mit dem Namen Emmaus.
Zwei der Jünger befinden sich auf dem Weg nach Emmaus, ca. 12 km von Jerusalem[1] entfernt. Und wer jemals um einen Menschen getrauert hat, wird es bestätigen: Da geht man einen langen Weg. Doch wollte man mit Gewalt gegen die eigene Seele den Gang beschleunigen oder Abkürzungswege erzwingen, würde man nur ‚zurückgeworfen‘.
Hinzutreten des Seelsorgers
14 Und sie redeten miteinander über alles das, was sich ereignet hatte. 15 Und es geschah, während sie miteinander redeten und nach Erklärungen suchten, dass Jesus selbst sich näherte und mit ihnen ging. 16 Ihre Augen aber wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.
Von vornherein ist die Trostlosigkeit der Situation ein klein wenig aufgebrochen – dadurch dass die beiden Trauernden nicht stumm und beziehungslos nebeneinander her gehen. Nur ohne den mitfühlenden Weggefährten wäre der Weg nach dem Verlust ganz und gar trostlos. Hier dagegen reden sie sich ihr Leid buchstäblich von der Seele – mit drei verschiedenen Verben weist der Evangelist auf die Intensität und auf bestimmte Aspekte eines an Schattierungen reichen Gesprächs hin: homileoo: „sie kommunizieren miteinander“ V.14-15; syzäteoo: „sie suchen zusammen nach Erklärungen“ V.15; antiballoo: „sie widersprechen einander“ V.17. Darf man im Sinne des Erzählers einen Schritt weiterdenken: Wo zwei ihre je eigene Trauer um einen Menschen und ihre je eigenen Erinnerungen an ihn austauschen, da kommt er ihnen auf eine geheimnisvolle Weise „im Geiste“ nahe? Wo zwei sich miteinander in jene Trauer hinablassen, in der sie bis ins Leibliche hinein den Verstorbenen schmerzlich vermissen, da wird er womöglich alsbald hinzutreten wie einst der Bote des HERRN zur verlassenen Hagar (1.Mo 16,7; 21,17). Sie spüren es als eine vorerst noch unbestimmte, aber doch fühlbare Erleichterung.
Und so begleitet Jesus die beiden vor Trauer blinden Jünger, unerkannt, auf dem Weg (vgl. Mt 28,20). Zwischen den Zeilen bedeutet uns der Erzähler: Es gibt da eine Phase im Trauerprozess, in welcher wir einen trauernden Menschen ja nicht „aufstören“, nicht auf seine Trauer ansprechen und schon gar nicht versuchen werden, ihm mit schnellem Trost zu kommen. Jesus dringt hier zunächst mit keinem Wort, mit keiner Geste in die Intimität der beiden Wanderer ein. Sich zurück haltend, erspürt er sorgfältig ihren Seelenzustand – im Hineinhorchen in ihr Zwiegespräch.
An dieser Stelle unterbreche ich unseren Weg mit den Jüngern, um ihn einzuordnen in ein urbiblisches Muster des seelsorgerlichen Anteilnehmens an Kummer oder Leid eines Mitmenschen.[2] Es ist ein Muster mit Wert bis in die Gegenwart, Ausdruck eines liebevollen Miteinanders, vor und auf dem Grunde aller professionellen Seelsorge. Die erste biblische Gestalt, die es uns musterhaft vorlebt, ist Elkana, wie er auf das Leid seiner Ehefrau Hanna eingeht – Hanna war ein ums andere Mal gekränkt worden von ihrer Rivalin Peninna, die ihr genüsslich vorhielt, dass sie noch kein Kind zur Welt gebracht hatte. „Und da weinte sie und wollte nichts essen.“ (1.Sam 1,7b) Und dann heißt es weiter im Text: „Da sagte ihr Mann Elkana zu ihr: „Hanna, warum (lamah) weinst du und warum willst du nichts essen und warum geht es deinem Herzen so schlecht? Bin ich dir denn nicht (halo``)mehr als zehn Söhne?!“ (1.Sam 1,8) Die tröstende Anteilnahme besteht hier wie in anderen Texten (z.B. Jes 40,27-31) aus zwei Fragen. Die (spiegelnde!) Warum-Frage signalisiert einem tief deprimierten Gegenüber, dass ich in seiner Äußerung oder in seiner Miene eine innere Not wahrgenommen habe, Anteil nehmen und genauer verstehen möchte. Das hilft dem so Gefragten, sein Herz auszuschütten, wenn er denn will. Die zweite Frage, halo` = „Ist es denn vielleicht nicht so“, möchte dann dem Kummervollen behutsam, nicht rechthaberisch, einen kleinen Schritt weiterhelfen, einen Perspektivenwechsel nahelegen. Könnte er seine Lage vielleicht doch aus einem anderen Blickwinkel in freundlicherem Licht sehen? Elkana verbindet das vorsichtige Weiterhelfen-Wollen mit einer erneuerten Liebeserklärung. In Jes 40,28ff bringt ein Prophet gegenüber seinen niedergeschlagenen Landsleuten alte Schöpfungsgewissheit ein (Jes 40,28ff). In beiden Fällen bleibt die Wirkung der halo`-Aufmunterung offen. Und damit kehren wir in unsere Ostergeschichte zurück.
Erkundigung des Seelsorgers
17 Er aber sprach zu ihnen: „Was sind das für Worte, die ihr zwischen euch im Gehen wechselt?“ Da blieben sie traurig stehen. 18 Es antwortete aber einer mit Namen Kleopas und sprach zu ihm: „Bist du der einzige, der sich zur Zeit in Jerusalem aufhält und nicht weiß, was dort geschehen ist in diesen Tagen?“ 19 Und er sprach zu ihnen: „Was denn?“
Die zwei Was-Fragen (griechisches ti = „was“, „warum“, „wozu“) haben dieselbe Funktion wie die Warum-Fragen in den alttestamentlichen Beispielen. Sie locken die Jünger aus ihrer Trauer hervor, in der sie sich eingeschlossen haben, sie lüpfen ihnen die Zunge. Die erste Frage bereits fördert ihre Trauer zutage. Ihre relativ heftige Reaktion erklärt sich aus ihrem augenblicklichen Zustand einer mimosenhaften Verletzlichkeit, in der jede Berührung weh tut. Die zweite Erkundigungsfrage, ein gezieltes Zuspiel, löst ihnen dann vollends die Zunge; sie schafft Raum für die Klage, sich zu entfalten.
Klage der Trauernden, entfaltet
Sie sprachen zu ihm: „Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und allem Volk, 20 und wie ihn die Hohepriester und unsere Obersten auslieferten zum Todesurteil und ihn kreuzigten. 21 Und wir hatten doch gehofft, dass er es sei, der Israel erlösen wird. Nun aber ist ja über diesem allen schon der dritte Tag gekommen, seit dieses geschehen ist. 22 Aber auch einige Frauen von uns haben uns aus der Fassung gebracht, denn sie waren früh am Grabe 23 und fanden seinen Leib nicht und kamen und sagten, dass sie eine Erscheinung von Engeln gesehen hätten, die sagen, er lebe. 24 Und einige von denen, die mit uns waren, gingen zum Grab und fanden es so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie nicht.“
Die Klage der beiden Jünger hat die Gestalt eines Kurzberichts über das Jesusgeschehen, angefangen von Jesu Krafttaten über seinen Kreuzestod bis hin zur Auffindung des leeren Grabes.
Dabei halten die beiden Jünger das Leersein des Grabes für eine objektive, aber wenig besagende Tatsache, und dem übersinnlichen und deshalb nicht nachprüfbaren Hören und Sehen der Frauen am Grab Jesu messen sie wenig Wert zu.
Lukas hat seine Interpretation des Christusgeschehens in Kleopas‘ ‚Blick zurück in Klage‘ einfließen lassen: dass Jesus ein von Gott ausgewiesener Prophet wie Mose war (vgl. Lk 4,16ff; 13,31ff), dass die Hohepriester für Jesu Tod eine schwere Mitverantwortung tragen, dass auf das leere Grab allein kein Osterglaube zu stützen ist. V.21 bringt den Grund der Klage auf den Punkt. Da kommt heraus, was den besonderen Schmerz der Trauernden ausmacht. Es war nicht nur die an sich schon schwere, noch frische Trauer um einen verehrten und geliebten Menschen. Sondern der so grausam hingerichtete Meister war in exzellenter Weise das gewesen, was auch unsere Zeit einen ‚Hoffnungsträger‘ nennt. Alle Sehnsucht der Armen und Unterdrückten Israels nach Befreiung nicht nur vom römischen Joch, sondern von allen schweren Lasten des Daseins – an diesen Jesus hatte sie sich geheftet: Er könnte, er müsste der Messias sein. Wer sonst! Wenn nicht jetzt, wann dann? Vieles von dem, was die Propheten, die neue Welt ansagend, verheißen hatten, schien sich in ihm zu erfüllen. Schon sahen Blinde, hörten Taube, wurden Aussätzige rein und konnten Lahme gehen (Lk 7,22). Menschen, deren Leben durch ihre eigene und anderer Schuld am Ende schien, durften aufatmen und bekamen die ‚zweite Chance‘. Grundlinien einer gewaltfreien Gesellschaft hatte Jesus gezeichnet, und sie hatten im Jüngerkreis schon mit der ‚Einübung‘ begonnen. Und dann brachen die schönsten Hoffnungen von einem Tag auf den anderen wie ein Kartenhaus zusammen: Gott hatte den Hoffnungsträger nicht aus der Löwengrube der Machthaber gerettet. Hatte ihn seinen Henkern und dem schmachvollsten aller Tode überlassen. Eine brutalere Ernüchterung von Menschen, die sich zu seinem inneren Lebenskreis zählen durften, lässt sich schwerlich denken.
Ist-es-denn-nicht-so-Frage des Seelsorgers
25 Und er sprach zu ihnen: „O ihr Unverständigen und deren Herz zu träge ist, zu glauben allem, was die Propheten gesagt haben. 26 Musste denn nicht der Christus dieses leiden und so in seine Herrlichkeit eingehen?“ 27 Und er fing an von Mose und allen Propheten, ihnen auszulegen aus allen Schriften, was sich auf ihn bezog.
Dem unerkannten Wanderer ist es also mit seinen Fragen gelungen, den Schmerz der beiden Jünger ‚herauszuholen‘. Sie müssen ihn nicht in sich vergraben. (Es besteht ja die Gefahr, dass nicht entsorgter Müll im Keller der Seele Giftstoffe produziert, die dann, dem Trauernden kaum bewusst, seinen All’tag‘ und seinen Umgang mit anderen Menschen verbittern.) Sie müssen nicht in Trauer erstarren, sondern ihr Schmerz fließt und verliert seine tödliche Härte. Und es tut gut, einen bei sich zu haben, der zuhört, der dies aushält, der mit auf dem Weg bleibt und bei dem man das Gefühl hat: Es lässt ihn nicht kalt; es berührt ihn. Lange hat der Unerkannte schweigend zugehört, ist nicht gleich besserwisserisch ins Wort gefallen – jetzt ist er gefragt. Er könnte, ohne etwas zu sagen, schweigend den Weg mit ihnen weitergehen. Das wäre im Sinne des Trostes nicht nichts. Und wäre allemal mehr als leidige und haltlose Vertröstungen und Beschwichtigungen. Aber er hat etwas zu sagen und er trägt es im Stil einer Bibelstunde vor; „er treibt mit den Seinen Bibelauslegung“ (Helmut Gollwitzer). Er erinnert sie, mit eher liebevollem als hartem Tadel, an etwas, was sie eigentlich als in der Schrift Bewanderte wissen müssten: dass „alles, was geschehen ist in diesen Tagen“, nur den (von Gott) gewiesenen, notwendigen Gang ging. Was nichts anderes bedeutet, als dass gerade in der so tief erschütternden Passion Jesu der Welt und ihr Heil gewirkt wurde. Die Heilige Schrift hatte sie doch gelehrt, dass der Messias durch (stellvertretendes) Leiden und Sterben in ein jenseitiges, ewiges Leben gelangen (Jes 53) und zugleich alle Gewalt im Himmel und auf Erden übertragen bekommen würde (Dan 7,13f). Musste es also nicht geschehen, was geschah?
In der urtypischen Seelsorge-Frage von V.26 entspricht das griechische ouchi genau dem sanften hebräischen halo` = „Ist es denn nicht so?“ Der Auferstandene tilgt hier noch nicht durch eine alles klärende österliche Offenbarung alle Zweifel. Sondern er spendet einen ersten Trost, indem er einen Sinnzusammenhang bewusst macht: Die sie so erschreckenden Ereignisse der Passion stimmen mit prophetischen Ahnungen und Ankündigungen überein, mit dem Lied vom Gottesknecht (Jes 53), mit anderen Prophetenworten, mit dem Gesamtzeugnis der Schrift. Daraus darf man nicht nur auf die Verlässlichkeit des Prophetenworts schließen, sondern auch auf einen Heilsratschluss Gottes als den letzten Grund des Leidens und Sterbens Jesu. Und wenn das der sinnlichen Wahrnehmung zugängliche Leiden Jesu den Ansagen der Propheten entsprach, dann darf begründet vertraut werden, dass diese Ansagen auch, insofern sie die unsichtbar-transzendente Herrlichkeit (doxa) des Gekreuzigten betreffen, wahr geworden sind. Jesus lebt.
Bemerkenswert: Worüber ‚moderne‘ Theologen kaum Freude empfinden können, am sogenannten Schriftbeweis, das hat für den biblischen Erzähler ausgesprochen tröstlichen Charakter! Dass das Christus-Heil, Kreuz und Auferstehung ebenso wie die Offenbarungsmittlerschaft des Sohnes, in den Texten der Tora, der Propheten und der Schriften vorausgesagt war, hat den damaligen Hörern des Kerygmas sehr viel bedeutet. Es wäre ihnen kaum glaub-würdig gewesen, hätten sie nicht in bestimmten Texten des Alten Testaments, ihrer Heiligen Schrift, einigermaßen zwingende Verweise auf das Leben und Sterben Jesu erkennen können. Wahrscheinlich ist es uns heute nicht mehr möglich, den ‚Schriftbeweis‘ so nachzuvollziehen. Der Trost der hier besprochenen lukanischen Erzählung erreicht uns aber nur dann, wenn auch wir etwas von dem Wunder sehen können, dass die im Alten Testament erzählte Geschichte Gottes mit Israel in den vom Neuen Testament bezeugten Ereignissen zu ihrer logischen Vollendung kommt.
Der Gekreuzigte und Auferstandene aber hat sich damit nicht nur als der seine Jünger in die Mission entsendende Herr gezeigt (Mt 28,16-20), sondern ebenso als ‚Seelsorger‘ – als ‚Bruder‘, der uns anleitet, auf Kummer und Trauer des Mitmenschen ‚einfühlsam einzugehen‘.
B Trost-Momente im Trauerprozess
a) „Und sie redeten miteinander über alles das, was sich ereignet hatte“ (Lk 24,14).
Oft bin ich die einzige Person, mit der die Eltern auch noch Monate und Jahre nach der Beerdigung ihres Kindes (so lang kann der Weg nach Emmaus sein!) über den Verlust sprechen können. Die „Umwelt“ blockt schon wenige Zeit nach dem Begräbnis. „Die Erinnerung wühlt doch nur auf“, sagen die einen; „einmal muss man doch darüber hinweg sein“, die anderen. The games must go on. Aber der mit der Zeit vermeintlich gewachsene Abstand schrumpft bei scheinbar geringsten Anlässen in Sekundenbruchteilen zusammen: Es ist, als ob es erst gestern gewesen wäre.
Dabei können auch alte Schuldgefühle hochkommen: Habe ich wirklich alles Menschenmögliche für mein Kind getan? Hätte ich nicht noch jenen Heiler aufsuchen und hätte ich nicht noch dies und das veranlassen können?! Nach dem Tod eines geliebten Menschen wiegt jede Unterlassung, jedes böse, nicht vergebene Wort doppelt, zentnerschwer. Denn Versäumtes ist nun definitiv nicht mehr nachzuholen; solche fast unvermeidliche Schuld drückt zusätzlich aufs Herz. Nicht dass wir selber uns Schuld „von der Seele reden“ können, aber wenn wir sie aussprechen, ist Gott – vielleicht durch einen Wegbegleiter – da und nimmt sie uns von der Seele. So fängt Heilung an: „Und sie redeten miteinander über alles das, was sich ereignet hatte.“
b) „Und es geschah, dass Jesus selbst sich nahte und mit ihnen ging“ (Lk 24,15).
Als die Kindersterblichkeit in früheren Zeiten überhaupt hoch war, da bedeutete der Tod eines Kindes nichts Außergewöhnliches. (Heute erwarten wir bei der Geburt eines Kindes, und sei es unbewusst, mehr oder weniger selbstverständlich, dass es alt werden wird.) Im Mittelalter wurden die gestorbenen Kinder zu Engeln erklärt, da sie ja im Stande der Unschuld starben. Sie bekamen eine neue Rolle, nämlich für die Hinterbliebenen Anwälte im Himmel zu sein, sie in ihren Lebensbemühungen vom Himmel her zu unterstützen. Dieser Trost hat in der Vergangenheit den Trauernden sicherlich geholfen und neue Lebensenergien freigesetzt.
Und heute? Tanja, sechs Jahre alt, erfährt ein paar Wochen vor ihrem eigenen Tod, dass ihre Leidensgefährtin gestorben ist. Nachdenklich sagt sie zu ihrer Mutter: „Gelt, die Andrea wartet jetzt auf ihre Buben.“ (Andrea hatte zwei Brüder.)
Jan, der im Paradies Gärtner werden möchte, schränkt ein: „Es ist bloß blöd, dass ich so lange auf euch warten muss.“
„Und es geschah, dass Jesus selbst sich nahte und mit ihnen ging“: Hat diese geheimnisvolle Nähe etwas mit der unbezähmbaren Sehnsucht zu tun, mit der manche Zurückbleibende nach den Sterbenden verlangen? Ihnen das wohlfeile „Du musst loslassen!“ um die Ohren zu schlagen, ist eine Anmaßung. Nein: Ein Trauernder muss nicht loslassen, er darf seine Sehnsucht zulassen. Die Mutter der 17-jährigen Heide hat ein paar Monate nach deren Tod einen Tagtraum: Heide kommt zu ihr in die Küche, berührt ihre Schulter und sagt zu der mit Gott und der Welt Hadernden: „Du gehst einmal ganz leicht, und ich hole dich ab.“ Überglücklich hat mir Heides Mutter diesen Traum erzählt. Sein Trost kam unmittelbar von der Weggegangenen selbst und berührte heilend den innersten Schmerz der Mutter. Es gibt so etwas wie „ein Einschwingen in die Richtung des gestorbenen Lebens“ (J.Duss-von Werdt).
c) „Und wir hatten gehofft, dass er es sei, der Israel erlösen wird.“ (Lk 24,21)
Wenn ein Kind stirbt, stirbt es gleich zweifach: einmal als Person, als „unser geliebtes, einmaliges Kind“, und das andere Mal als Zukunftsträger der Eltern: Wer wird mir in meinem Alter beistehen? Wer wird einmal mein Haus übernehmen? Meine Hoffnung, meine Pläne, meine Sehnsüchte: sie verbanden sich in der Vorstellung mit einem Leben, in dem dieses Kind einen hervorragenden Platz einnahm, und nun liegen sie mit dem Kind im Grab.
„Ich hab die Anna schon als junges Mädchen vor mir gesehen, wie wir zusammen einen Stadtbummel gemacht haben. Ich werd es nie begreifen ... Warum nur?“ Drei Jahre hat die Mutter den Leidensweg ihrer Tochter begleitet, die im fünften Lebensjahr an einem Lymphom erkrankte. Ohne Wenn und Aber hat sie den Kampf um das Leben ihres Kindes aufgenommen, und die Tatsache, dass er verloren ging, bis zum Schluss verdrängt. „Ich wollte es nicht wahrhaben, es war zu schmerzlich.“ „Mein Kind“, brutal trifft sein Tod ins Mark: „als wär's ein Stück von mir“, eine grenzenlose Kränkung: „Ich fühle mich wie amputiert“. „Ein wichtiger Ast unseres Lebensbaumes ist abgehauen“, so formulierten Eltern ihre Trauer um ihre 15-jährige Tochter in der Todesanzeige. Der Hader gräbt sich tief ins Herz ein: „Wieso unser Kind? Was hat es denn Böses getan? Ist es gerecht, dass Kinder, die sich auf das Leben freuen, gehen müssen, sieche Alte aber, die des Lebens überdrüssig sind, bleiben?“ Messerscharf trifft der Verlust, schneidet Zukunft ab, lässt den Hauch unserer Unsterblichkeit („Wir leben in unseren Kindern weiter“) verwehen.
d) „O ihr Unverständigen.!“ (Lk 24,25)
„Oh, ihr Unverständigen...!“, sprach der unerkannte Wegbegleiter die trauernden Jünger an. Das ist weniger ein Tadel ihrer Dummheit, vielmehr ein Eingehen auf ein für Trauernde charakteristisches Verlangen: den Sinn und Ertrag eines Menschenlebens zu verstehen, genauer: den guten Sinn dessen zu verstehen, dass ein Mensch so lebte und starb, wie er lebte und starb. Für die Menschen der Bibel war die Schriftgemäßheit eines Lebens und Sterbens, seine Übereinstimmung mit dem, was Gott zuvor verkündigen ließ, ein Sinnerweis, wie es keinen zwingenderen geben konnte. „Sinnerfüllter“ konnte Jesus nicht sterben, als im Leben und Sterben mit dem Heilsplan Gottes konform gewesen zu sein. So hatte er sein Leben vollendet, sein Werk vollbracht. Und in dem Maße, als sie das verstehen konnten, empfingen die Jünger Trost.
Ob unsere Toten „sinnerfüllt“ gestorben sind, da legen wir heute wohl etwas andere Maßstäbe an: Wir fragen, ob sie ein Lebenswerk vollendeten oder ob sie eine „unvollendete Sinfonie“ hinterlassen haben; wir betrachten ihre Vita daraufhin, ob sie augenscheinlich viel geliebt, viel geschenkt haben und in hohem Maße für andere da waren; wir trösten uns damit, dass sie sich selbst stets treu waren, und manche begnügen sich mit der Feststellung, dass jemand alt geworden ist und genug Erfolg und Lebensinhalte hatte. Immer wieder bezeugen Leidtragende Pfarrern und Pfarrerinnen Dank, die es verstanden, von ihrem Toten am Grab so zu sprechen, dass er wieder „ganz lebendig vor ihnen stand". Während der Ansprache beobachte ich die Angehörigen. Nur wenn ich etwas von dem Kind erzähle, wenn ich dabei versuche, seine Vita in Umrissen darzustellen und den Sinnfaden andeutungsweise freizulegen, kommt Leben in ihre Gesichter. Der christliche Trost ohne ausgesprochenen Bezug auf das Kind dagegen lässt sie nach unten gucken, berührt sie nicht.
Nach drei Jahren begann Heides Mutter zu verstehen: „Diese siebzehn Jahre waren wohl Heides Lebensweg auf dieser Welt.“
[1] Die genaue Ortslage ist in der Bibelwissenschaft umstritten.
[2] Ausführliche Begründung und Darlegung in: Werner Grimm / Roswitha Bernius-Grimm / Margarete Knödler-Pasch, Trost, Biblische Raritäten 5, Tübingen 2012. Weitere Exempla der oben kurz vorgestellten Redeform sind u.a. 1.Mo 4,5-7; 40,6-9; 1.Sam 1,7-8; Jes 40,27-31; Mk 4,40.