Predigt zu Lukas 6,36-42 von Walter Meyer-Roscher
6,36-42

Predigt zu Lukas 6,36-42 von Walter Meyer-Roscher

Liebe Gemeinde,

„Seid unbequem, seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Welt“, hat der Schriftsteller Günther Eich meine Generation am Beginn unseres Berufslebens aufgefordert.“ Denkt an das, was ihr für euch und für eure Gesellschaft erreichen wollt“, hat er gemahnt.

Wir haben es damals gehört. Wir haben uns beeindrucken, motivieren, herausfordern lassen. Wir sehen heute: Diese Herausforderung ist aktuell geblieben. Sie ist angesichts einer sich ausbreitenden Politikverdrossenheit gerade unter jungen Menschen vielleicht noch drängender geworden: „Seid unbequem, seid Sand und nicht Öl im Getriebe der Welt“.

Das ist zuerst ein Aufruf, Verantwortung zu übernehmen für die, mit denen wir zusammen leben wollen und zusammen leben müssen, für die Gemeinschaft, in der wir zu Hause sind, und für unsere Gesellschaft, in der alle menschenwürdig leben sollen.

Wer zu dieser Verantwortung bereit ist, muss auch bereit sein, unbequeme Kritik zu üben. Keine Gesellschaft kann auf ihre Kritiker verzichten. Ohne kritisches Mitdenken gibt es keine Veränderung, auch keine Warnung vor falschen Weichenstellungen für unsere Zukunft. Ohne kritisches Mithandeln werden wir letzten Endes zu einer sterilen Gemeinschaft der Angepassten, der müden, stumpfen Mitläufer. Dann unterwerfen wir uns einer Ordnung, die eine freie und von allen Normen und Werten befreite Wirtschaft, ein technischer Fortschritt ohne Ethik, eine Politik ohne Rückfragen nach den geistig-kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft uns vorgibt .Das darf nicht sein! Kritik, auch  unbequeme Kritik bleibt notwendig.

 Aber Kritik kann schnell in verletzende, zerstörende Verurteilung umschlagen. Da geht es plötzlich nicht mehr um das, was allen nützt und für das Gemeinwohl notwendig bleibt. Da werden gegenteilige Meinungen regelrecht verteufelt, andersdenkende Kritiker als gemeinschaftsschädigend abgestempelt, Menschen mit einer anderen religiösen Überzeugung ausgegrenzt – gnadenlos.

Ja, jeder von uns muss sich durchaus selbstkritisch fragen, wie oft auch er mit seiner Kritik richtet und zu einem gnadenlosen Richter wird, obwohl er nicht besser ist als die, die er verurteilt. Was ist das für ein Richter, der selbst auf Gnade angewiesen ist und doch keine Gnade mit anderen kennt?!

Jesus wendet sich an solche Richter: „Du siehst den Splitter im Auge deines Gegenübers. Alle Aufmerksamkeit richtest du darauf, und den Balken im eigenen Auge übersiehst du. Du willst einen Blinden führen, wie kannst du das, wenn du selbst blind bist? Du willst den Balken im eigenen Auge oder die eigene Blindheit nicht wahr haben. Aber das hält keiner durch, irgendwann kommt der Augenblick der Wahrheit.“

Da steht ein Mann eines Nachts in Paris auf einer Brücke, die über die Seine führt. Eben ist vor seinen Augen eine Frau in den Fluss gesprungen. Nun ist sie verschwunden. Und er? Er ist ihr nicht nachgesprungen. Er hat nicht versucht, sie zu retten. Nun ist er da, dieser Augenblick der Wahrheit.

Albert Camus, Literaturnobelpreisträger, hat ihn in seinem Roman „Der Fall“ beschrieben. Darin lässt er seine Hauptperson erkennen: Die eigentliche Antriebskraft in seinem Leben war immer die Sorge, Recht zu haben und Recht zu behalten, über die Unzulänglichkeiten anderer, ihre Fehler, ihr Versagen urteilen zu können, erhaben zu sein über alle anderen. Macht wollte er haben über sie, bewundert wollte er werden.

In dieser Nacht aber auf der Brücke über die Seine gibt es keine Bewunderer. Da gibt es nur die Erkenntnis eigener Unzulänglichkeit und eigenen Versagens. Das aber ist eine andere Wahrheit als die, in deren Besitz er sich wähnte, als er andere mit seiner Kritik beurteilte und so oft gnadenlos aburteilte.

Ja, auf die Wahrheit, die wir zu besitzen meinen, berufen wir uns so gern, und dabei wird unsere Gesellschaft zu einer Bühne, auf der sich die Rechthaber in Fragen von Politik und Wirtschaft, von Wissenschaft und Bildung, auch so viele Rechthaber im religiös-kulturellen Zusammenleben in Szene setzen. Wir sollten  im Blick behalten, dass es einen Augenblick der Wahrheit gibt, der – wie in Camus‘ Roman – den selbstgefälligen Schein zerreißt. Aber was dann?

Der Mann, der eben noch auf der Brücke über die Seine mit der fremden Frau auch das bisherige eigene Leben versinken sieht, glaubt bald darauf, einen genialen Ausweg gefunden zu haben. Er klagt sich selbst an, um dann aber alle anderen zu fragen: „Und Ihr, was würdet Ihr denn tun, wenn Ihr des Nachts auf eine Brücke kämet und vor Euren Augen eine Frau ins Wasser spränge? Ihr nachspringen? Der Fluss ist tief und das Wasser ist kalt. Was würdet Ihr tun?“

Wenn dann die Antwort ausbleibt, kann unser Mann doch aufatmen und denken:“ Ihr seid ja auch nicht besser. Wo ist dann meine Schuld? Muss ich mir überhaupt Vorwürfe machen?“ Würden wir nicht ähnlich reagieren?

Camus gebraucht ein eingängiges, fast zum Lachen reizendes Bild: Man sollte alle Leute unter die gleiche Dusche stellen, um das Recht zu haben, sich selbst ganz an den Rand zu manövrieren, etwas weiter weg von allen anderen. So kann man sich selbst schneller an der Sonne trocknen, während die anderen immer noch unter der Dusche stehen. Ein Geniestreich! Wirklich?

„Du Heuchler“, sagt Jesus. „Er ist ja noch da, der Balken in deinem eigenen Auge. Du kannst die Blindheit nicht leugnen, in der du selbst lebst. Das ist kein Ausweg, sich durch einen Trick darüber hinwegzutäuschen. Das macht die Sache nur noch schlimmer. Wer kann denn in einer Atmosphäre dauernder Selbstrechtfertigung und gegenseitigen Verurteilens noch mit anderen und für andere verantwortlich handeln? Richtet nicht, verurteilt nicht!  Erhebt euch nicht über die anderen. Ihr seid aufeinander angewiesen – nicht als Richter und nicht als Angeklagte, sondern als Menschen, die auch Gnade vor Recht ergehen lassen, die gnädig miteinander umgehen können.“

Vielleicht ist das ein Ausweg, wenn wir zuerst einmal in den Blick bekommen, wovon wir denn eigentlich leben und was unser Zusammenleben überhaupt erst  möglich macht. Ich denke jetzt an alltägliche Erfahrungen, die mancher in der Hetze des Alltags auch leicht wieder vergisst. Wir haben Menschen, die uns lieben und uns verstehen. Wir können mit guten Freunden umgehen. Wir erfahren oft Zuwendung und Fürsorge, wo wir sie gar nicht erwartet haben. Können wir überhaupt existieren, ohne dass andere uns mit solcher Zuwendung und Fürsorge begleiten, ohne dass sie bereit sind, auch einmal Gnade vor Recht ergehen zu lassen?

Wir leben von solchen Erfahrungen, und wir sollten sie mit offenen Augen wahrnehmen. Dann bleibt unser Blick nämlich nicht mehr an uns selbst hängen.  Dann geht er in eine andere Richtung und konzentriert sich auf das, was wir Gott sei Dank jeden Tag bekommen – trotz manchen Versagens und ohne jeden Rechtsanspruch: Freiraum, Lebensraum!

Dann kommt plötzlich Gott in den Blick, aber nicht als Richter, der Versagen und Schuld aufrechnet und ein gnadenloses Urteil spricht. Jesus redet ja anders von Gott. Er nennt ihn den Vater, der barmherzig ist und gnädig mit uns umgeht, auch wenn wir das nicht verdient haben. Ich erinnere an eine der großen Geschichten, die Jesus von diesem Vater erzählt hat: Er wartet auf seinen Sohn. Der ist vor Jahren auf und davon gegangen, mit allem Vermögen, das ihm zustand. Er hat es durchgebracht, ohne sich damit eine neue Existenz aufzubauen. Jetzt ist ihm nichts mehr geblieben – nur noch die Erinnerung an das Zuhause und an den Vater. Aber wie wird der reagieren, wenn der missratene, verlorene Sohn als mittelloser Versager zurückkommt? Er geht dem Sohn entgegen! Er hat ja auf ihn gewartet. Sein Versagen hält er ihm nicht vor. Seine Vergangenheit rechnet er nicht auf. Im Gegenteil! Er setzt ihn wieder in seine Rechte ein, ein gnädiger Vater.

Das hat Jesus sagen wollen: Gott legt uns nicht fest auf unser Versagen, unsere Versäumnisse, unser Unvermögen. Er verurteilt nicht:  Missraten, höchstens noch bedingt tauglich. Er stempelt uns nicht auf ewig als Versager ab. Er gibt uns vielmehr jeden Tag eine Chance des neuen Anfangs.

Jesus sagt: „Das ist viel, das ist ein überfließendes Maß. Davon lebst du. Du kannst es dir leisten, auf Selbstrechtfertigung und gegenseitiges Verurteilen zu verzichten. Du kannst es dir leisten, die  Zuwendung, die du selbst jeden Tag erfährst, weiter zu geben. Du kannst es dir leisten, gnädig mit denen umzugehen, die dir etwas schuldig geblieben sind. Du brauchst nicht mehr ängstlich auf dich oder dein Gegenüber zu starren. Der Blick auf einen weiten Horizont ist frei geworden.“

Da gehen zwei Menschen an einem Fluss entlang. Sie gehen in die gleiche Richtung. Sie haben das gleiche Ziel. Nur geht jeder auf einer anderen Seite. Wenn sie aufeinander starren, sehen sie nur den breiten Fluss, der sie trennt. Wenn sie aber zurück oder nach vorn auf den weiten Horizont blicken, wird der trennende Fluss zu einem schmalen Strich. Unter dem weiten Horizont laufen die Linien ineinander. Da stehen die Menschen beieinander.

„Seid doch barmherzig“, sagt Jesus, „wie auch euer Vater im Himmel barmherzig ist! Seht das Gemeinsame, unsere gemeinsame Abhängigkeit von der Barmherzigkeit Gottes. Da verlieren die Gegensätze ihre zerstörerische Schärfe. Da können sachliche Differenzen auch sachlich ausgetragen werden. Kritisiert und beurteilt! Es geht nicht anders. Aber werft euch nicht zu Richtern auf, die nur den Splitter im Auge ihres Gegenübers, aber nicht den Balken im eigenen Auge sehen, die sich als Blindenführer gebärden, obwohl sie selbst blind sind.  Verurteilt keinen Menschen. Seid doch barmherzig, denkt daran: ohne Barmherzigkeit ist jede Solidargemeinschaft existenzunfähig und wird nicht überleben. Darum lasst  Barmherzigkeit zu in eurem Zusammenleben. Barmherzigkeit ist ein guter Wegweiser in eine menschenwürdige Zukunft.

Amen