Großes Licht, große Freude – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Martin Weeber
9,1-6

Großes Licht, große Freude – Predigt zu Jesaja 9,1-6 von Martin Weeber

Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell. Du weckst lauten Jubel, du machst groß die Freude. Vor dir freut man sich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt. Denn du hast ihr drückendes Joch, die Jochstange auf ihrer Schulter und den Stecken ihres Treibers zerbrochen wie am Tage Midians. Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst; auf dass seine Herrschaft groß werde und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Solches wird tun der Eifer des HERRN Zebaoth.


„Euch ist ein Kindlein heut geborn / von einer Jungfrau auserkorn, / ein Kindelein so zart und fein / das soll eu’r Freud und Wonne sein.“ So singen wir, wenn wir Luthers Weihnachtslied singen: „Vom Himmel hoch da komm ich her / ich bring euch gute neue Mär / der guten Mär bring ich so viel, davon ich singen und sagen will.“ Das ist die gute neue Mär, die gute Nachricht, die uns zugesagt wird in der Christnacht: „Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Und diese gute Nachricht soll es hell werden lassen in unseren Herzen. Licht in der Finsternis: Das ist es, was das Christfest uns bringt. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird.“ Licht in der Finsternis. Ein großes Licht und eine große Freude. Und dieses große Licht und diese große Freude: Sie gehen aus von einem kleinen Kind. Welch eine Freude, wenn ein Kind geboren wird! Welch eine Erleichterung für die Mutter, wenn die Geburt gut überstanden ist! Schlimme Zustände müssen herrschen, wenn die Geburt eines Kindes kein Anlass zur Freude ist. Solange Kinder geboren werden, besteht Anlass zum Vertrauen und zur Hoffnung. So lesen wir es bei der jüdischen Philosophin Hannah Arendt:

„Daß man in der Welt vertrauen haben und daß man für die Welt hoffen darf, das ist vielleicht nirgends knapper und schöner ausgedrückt als in den Worten, mit denen die Weihnachtsoratorien die frohe Botschaft verkündigen: ‚Uns ist ein Kind geboren.‘“1 „Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“

Wenn wir diese Worte des Propheten Jesaja hören, dann denken wir sofort an Jesus, den Christus, den Heiland, den Messias, den Retter, den Erlöser, an das kleine Kind in der Krippe, das so Großes bewirkt. Wir zählen die Jahre der Weltgeschichte neu ab seiner Geburt. Es gibt eine Geschichte der Welt vor Christus, und es gibt eine Geschichte der Welt nach Christus. Wir denken an Jesus.  An wen dachte der Prophet Jesaja?  Er schreibt sein Buch viele hundert Jahre bevor Jesus geboren wird. Er mag an einen der guten Könige denken, die das Volk Israel gelegentlich auch hatte. Welcher dieser Könige es auch sein mag: Jesaja  schaut in die Vergangenheit zurück. Denn man kann die beiden ersten Verse ohne weiteres in der Vergangenheitsform übersetzen, die neue Fassung der Lutherbibel weist darauf nicht umsonst ausdrücklich hin. Dann würde man so übersetzen: „Das Volk, das im Finstern wandelte, sah ein großes Licht, und über denen, die da wohnten im finstern Lande, schien es hell. Du wecktest lauten Jubel, du machtest groß die Freude. Vor dir freute man Ankersich, wie man sich freut in der Ernte, wie man fröhlich ist, wenn man Beute austeilt.“ Es gab im alten Israel manche guten Könige. Und die vermochten es dann, eine Zeitlang, das Volk Israel vor seinen Feinden zu bewahren. Darüber war dann die Freude groß. Aber diese Friedenszeiten, sie waren begrenzt, sie gingen vorüber. Und so kam es, dass die große Erwartung entstand, es möge einst ein König geboren werden, der einen ewigen Frieden in die Welt zu bringen vermöge. Der Prophet Jesaja schaut zurück. Auch wir schauen zurück. Aber wir schauen nicht nur zurück auf eine begrenzte gute Zeit, auf eine begrenzte gute Herrschaft. Wir schauen zurück auf den Beginn einer Friedenszeit ohne Ende. Für uns ist Jesus der „Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“ Er ist der, in dem sich Gott uns auf ewig väterlich uwendet. Er ist der, der uns wunderbaren Rat zu geben vermag. Er ist der wahre Held für uns, der wahre Fürst des Friedens. Und das schon von seiner Geburt an. Er wird nicht erst dazu, er ist es von Anfang an. „Uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter; und er heißt Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.“

Überschwängliche Freude kommt hier zur Sprache. Die Sprache überschlägt sich vor Freude. Und im Überschwang der Freude verstummen die Fragen. Denn Fragen stellen sich natürlich. Nach dem Überschwang über die Freude der Geburt kehren die bangen Fragen doch irgendwann zurück: Schaffen wir es, unser Kind gut aufzuziehen? Können wir ihm geben, was es braucht? Können wir es beschützen und behüten? Auch im Blick auf die Geburt Jesu stellen sich Fragen: Sie stellten sich Maria und Josef, denen ein Engel im Traum befahl, nach Ägypten zu fliehen, um den Nachstellungen des bösen Königs Herodes nachzugehen. Wie soll das klappen? Wird ihnen jemand helfen auf ihrer Flucht? Wie sollen sie sich durchschlagen in dem unbekannten Lande? Flüchtlingsfragen, die Menschen sich bis heute stellen müssen. Fragen stellen sich auch uns:

Wenn Jesus der Friede-Fürst und Friedensbringer ist, und wenn sich so viel geändert haben soll durch seine Geburt: Weshalb gibt es dann noch so viel Unfrieden auf der Welt, so viel Streit, so viel Unglück und Not? Und wie soll auch solch ein wehrloses Kind Frieden in die Welt bringen können? Die „Völker, die im Finstern wandeln“, die Menschen, die sich von Dunkelheit umgeben fühlen – die gibt es ja heute noch. Hat sich also doch nicht so viel geändert durch die Geburt Jesu? Nun, es ist doch nicht alles geblieben, wie es war: Immer wieder haben sich Menschen durch den wehrlosen Friedensfürsten dazu bewegen lassen, Streit zu überwinden und zur Versöhnung auf der Welt beizutragen. Immer wieder nimmt der Anblick des Kindes in der Krippe unsere Herzen gefangen und löst unsere Herzenshärtigkeit auf. Ich weiß nicht, wie es aussähe in unserem Leben, wenn wir uns nicht Jahr für Jahr dazu einladen ließen, die Geburt Jesu auf’s Neue für uns gegenwärtig werden zu lassen. Wäre die Welt eine bessere, wenn wir Weihnachten nicht feiern würden?

Ich glaube das nicht. Und würden wir Weihnachten besser feiern, wenn wir auf all das verzichten würden, was den sentimentalen Reiz dieses Festes ausmacht? Auch das glaube ich nicht. Allerdings: Weihnachten ohne Gottesdienst – das ginge irgendwie gar nicht. Dann wäre das Weihnachtsfest nicht mehr das Christfest. Ein Weihnachtsfest ohne Gottesdienst – das wäre für mich eine arg traurige Vorstellung. Aber das sehen Sie offensichtlich auch so – darum sind Sie ja hier im Gottesdienst: Um gemeinsam die große Freude über das große Licht zu teilen. „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ Ach, wie viel fehlte uns ohne dieses herzberührende Fest! Der Prophet Jesaja schaute zurück auf die Geburt eines guten Königs. Aber am Ende schaute er auch nach vorne auf eine Zeit, in der „des Friedens kein Ende mehr sei auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, dass er's stärke und stütze durch Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit.“ Alles, was Menschen schaffen können an Frieden und Recht und Gerechtigkeit ist zeitlich begrenzt. Trotzdem ist es hoch zu schätzen. Auch wir schauen zurück. Wir schauen zurück auf die Geburt des Gotteskindes. Aber auch wir schauen voraus, voraus in die Zukunft. Wir warten darauf, dass Gott vollendet, was er in Jesus Christus begonnen hat. Die Geburt Jesu ist der Beginn einer neuen Zeit, aber sie ist noch nicht die Vollendung der Pläne Gottes. „Euch ist ein Kindlein heut geborn / von einer Jungfrau auserkorn, / ein Kindelein so zart und fein / das soll eu’r Freud und Wonne sein.“ Man kann jede Freude und jede Wonne zerreden und zerstören.

Kritisieren lässt sich jedes Glück. Aber wir leben davon, dass von Zeit zu Zeit all die Fragen stillgestellt werden durch den Überschwang großer Freude. Der Überschwang der großen Freude erneuert unser Vertrauen ins Leben. Und diese große Freude will Gott selber uns immer wieder ins Herz geben. An Weihnachten auf ganz besonders berührende Weise.

Amen.

1 I Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, 1958, dt. 1967, 20064, 317. Den Hinweis auf dieses Zitat von Hannah Arendt verdanke ich (ebenso wie den Hinweis auf die grammatikalisch korrekte Übersetzung im Präteritum/Perfekt, s. unten) einer Predigtmeditation von Prälatin Gabriele Wulz, in: Für Arbeit und Besinnung. Zeitschrift für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, 2017/22, 15-19.