Knochen und Gnade – Predigt zu Apostelgeschichte 3,1-10 von Helmut Dopffel
3,1-10

Knochen und Gnade – Predigt zu Apostelgeschichte 3,1-10 von Helmut Dopffel

Liebe Gemeinde,

Maler und Arzt sei Lukas gewesen, sagt die Legende. Mir kommt er aber eher wie ein Dichter vor, ein begnadeter Theaterdichter. In der Apostelgeschichte reiht er Szene an Szene, verbunden durch kurze Zwischentexte. Und es ist kein Kammerspiel, sondern die ganz große Bühne, die sich hier öffnet.  
Erste Szene: Letzte Worte und Abschied. Wir nennen sie Himmelfahrt. Die Jünger werden zu Jesu Zeugen ernannt, Energie und Geist sollen ihnen geschenkt werden, so dass sie den Erdkreis füllen mit der Botschaft und dem Namen Jesu. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu haben einen großen Auftrag, sie haben eine Mission, darum allein geht es – von Dogmen und Werten, von kirchlicher Organisation, Rollen und Ämtern ist nicht die Rede.
Szene zwei: Feuer und Geist und Energie fallen vom Himmel und erfüllen die Herzen der Jünger. Wir nennen das Pfingsten. Und die erste, unmittelbare Folge ist: Menschen, ganz verschiedene Menschen, getrennt durch Mauern der Kultur und der Sprache und der Religion, verstehen sich. Penibel werden die damaligen Völker, Kulturen, Sprachen aufgezählt. Und nun ist da plötzlich, aus all diesen Vielen und Verschiedenen, die eine Kirche. Sie ist von Beginn an weltweit, global ausgerichtet und inklusiv, nach innen wie nach außen.

Und nun folgt Szene drei:

Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbeigetragen, der war gelähmt von Mutterleibe an; den setzte man täglich vor das Tor des Tempels, das da heißt das Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen. Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge. Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher! Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf. Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte stehen und gehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott. Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor dem Schönen Tor des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war.

 

Zwei fromme Männer, Petrus und Johannes, sind auf dem Weg zum Nachmittagsgebet im Jerusalemer Tempel. Es ist drei Uhr, sie sind auf Gott, auf Gebet, Lob und Opfer eingestimmt. Da sitzt vor dem Tor – dem „Schönen Tor“, von dem wir aber nicht wissen, wo es stand – ein Bettler. Das kommt uns bekannt vor.

Vielleicht sahen wir sie schon heute Morgen, mit ihren Pappbechern. Oft ist das peinlich und manchmal, wenn die Bitten zu aufdringlich sind, gerade an der Kirchentür, ärgerlich. Die Bettler stellen uns heute vor peinliche Entscheidungen. Soll ich geben, wenn ich doch vermuten muss, dass das Geld an die Häupter organisierter Kriminalität abfließen wird? Kann ich nichts geben, wenn ich doch gerade Gott gelobt und gedankt habe für seine Gnade und Barmherzigkeit? Kann ich nichts geben, wenn ich gestern für mich selbst so viel eingekauft und ausgegeben habe?

Der Bettler vor dem Schönen Tor ist einer, der nie eine Chance hatte, er ist gelähmt von Geburt an. Gelähmt hieß damals: ausgeschlossen vom guten Leben. Er kann sich nicht selbst seinen Lebensunterhalt verdienen. Er kann keine Familie gründen. Und er ist auch ausgeschlossen vom religiösen Leben: den Tempel darf er nicht betreten, wie alle Menschen mit Behinderungen und bestimmten Krankheiten, so sagt es das Gesetz. Viele müssen draußen bleiben, denn sie sind unrein. Der Tempel ist kein Ort der Inklusion, sondern der Scheidung, der Diskriminierung. Das Schöne Tor ist für diesen Gelähmten eine Barriere, eine Mauer. Doch die Menschen, die in den Tempel dürfen, geben ihm Geld, genug, um zu überleben. Immerhin.

Petrus und Johannes kommen vorbei. Er sieht sie kommen, senkt in Demutshaltung die Augen und hält die Hand hin. Er konfrontiert diese beiden frommen Männer mit seiner elenden Wirklichkeit. Und die beiden lassen sich konfrontieren, sie ignorieren ihn nicht und verschieben auch nichts auf später. Jetzt sind sie dran. Jetzt ist dieser Gelähmte dran. Und der Bettler hört: Sieh uns an. – Gold und Silber habe ich nicht. – Aber im Namen Jesu von Nazareth: Steh auf. Und er wird aufgerichtet und kann gehen.

Das ist zuerst eine sehr intime Szene. Es geht um einen einzelnen Menschen. Um den kümmern sich die Jünger Jesu. Dem helfen sie. Es geht immer zuerst um Einzelne, und danach vielleicht auch um das große Ganze. Die Einzelnen sind wichtiger als das große Ganze.

Und es geht nicht um Religion, nicht um Geistliches, sondern um Materielles, um Körperliches, um Geld und um Gesundheit. Der Bettler will Geld, um zu überleben. Und er bekommt unendlich Wichtigeres, das nicht nur sein Überleben sichert, sondern sein Leben verändert: einen gesunden Körper. Darum kümmern sich Petrus und Johannes bei ihrem ersten öffentlichen Auftreten nach Pfingsten. So tritt die Kirche in die Welt. Von Glauben, Liebe und Hoffnung, von Schuld und Vergebung, Angst und Befreiung ist nicht die Rede. Sondern von Knochen und Knöcheln und Sehnen, von Gelenken und Füßen und Beinen. Die sollen ganz und stark und fest werden. Im Namen Jesu. Das Elend wird beseitigt, so tief an der Wurzel, wie es eben möglich ist. Gesundheit, Mobilität, Teilhabe werden diesem Menschen am Schönen Tor geschenkt, unschätzbar wertvoll für das Leben und das Lebensglück und den ganz banalen Alltag.

Gezuckt habe ich freilich bei der ersten Auskunft des Petrus: Gold und Silber habe ich nicht. Ich glaube ihm das, es entspricht ja auch Jesu klarer Anweisung. Aber wir haben heute Gold und Silber im Übermaß. Allein dieser Besitz ist ja in Jesu Augen höchst fragwürdig. Können wir dann wenigstens sagen: Was ich habe, gebe ich dir? Auch mit dem schnöden Mammon kann man heilen und helfen und Wunder wirken, er kann zum Wundermittel werden. Dazu muss man ihn allerdings hergeben. Sonst wird er uns unter den Händen zerbröseln.

So tritt die Kirche in die Welt. So füllt sie die Welt mit Jesu Namen.

Und was geschieht dann?  Der gelähmte Bettler wird zum Bruder. Er wird angesehen, er steht nun von Angesicht zu Angesicht und alle drei vor Gottes Angesicht. Und ich bin sicher, dass Petrus und Johannes auch nach seinem Namen gefragt und ihn mit Namen angeredet haben: Hey Tobias, Bruder, hey Hanna, Schwester, schön dich zu sehen. Schön, dass es dich gibt.

Was geschieht? Barrieren verschwinden. Barrieren zwischen den Menschen, Barrieren, die das Leben für viele schwer machen, und auch die Barrieren, die Menschen zwischen Gott und anderen Menschen aufgerichtet haben. Das können auch Kirchengesetze und Frömmigkeitsstile sein. Barrierefrei ist der Zugang zu Gott nun, in Jesus hat er ihn barrierefrei gemacht. Sein Haus ist für alle da und für alle offen. Das sagt er uns in allen Worten die das Evangelium in sich tragen.

Was geschieht? Aufgeräumt wird mit dem teuflischen Unsinn, dass Krankheit und Gesundheit, Behinderung und Einschränkung unrein machen und weniger wert und vielleicht sogar selbst zu verantworten sind. Alle Menschen sind Gottes geliebte Kinder. Und alle Menschen sind in gleicher Weise angewiesen auf Gottes Gnade. Und alle Menschen will Gott aus ihrem Elend befreien.

Wir müssen aber jetzt noch einmal zurück in dieser Geschichte. Was war denn, als der Bettler noch gelähmt vor dem Schönen Tor saß? Das war sicherlich kein schönes Leben, es war ein elendes Leben. Aber war es weniger wert als das der anderen, die aufrecht an ihm vorbei durchs Tor in den Tempel gingen? In Gottes Augen, in der wahren Wirklichkeit, war der Gelähmte nicht weniger wert als all die anderen, und in ihm lag so viel Schönheit wie im Leben der anderen. Ein Ebenbild Gottes ist er, wie jeder Mensch. Auch ein Leben mit Behinderungen oder mit chronischer Krankheit ist Gottes Geschenk und hat allen Wert und alle Gnade, die Gott in unser Leben hineingelegt hat. Und Ja, der Gelähmte ist angewiesen auf andere, auf andere Menschen und auf Gott. Aber das sind wir doch alle. Niemand kann sich selbst den Rücken kratzen. Niemand kann sich selbst freisprechen.  Wir alle sind bedürftig und leben mit unseren Einschränkungen und Behinderungen, nur anders. Wir alle sind imperfekt, versehrt, verletzlich und verletzt. Wir alle leben davon, dass Gott uns immer wieder aus unseren Tiefen holt. Und wir alle sind begabt und tragen bei zum Wohl und Wehe dieser Welt, der eine auf diese Weise und die andere eben anders. Das ist die Grundlage aller Inklusion. Gott hat uns alle ins selbe Boot gesetzt.

Das ist die Botschaft, wenn wir jeden Gottesdienst eröffnen „Im Namen Gottes, des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“.

Der Bettler, der jetzt nicht mehr betteln muss – und vielleicht auch nicht mehr betteln darf – wird aufgerichtet, er probiert zögerlich ein paar Schritte, er spürt: Das geht, es ist fest, das ist verlässlich, das wird stark, und so läuft er mit Petrus und Johannes in den Tempel. Immer schneller werden seine Bewegungen, er hüpft und tanzt und probiert aus, was er jetzt alles kann. Wie ein Kind ist er. Welch ein Glück! Mir fällt keine andere biblische Geschichte ein, in der so viel körperliche Bewegung steckt, so viel Begeisterung, er flippt aus, er spürt das Glück des eigenen Körpers, wie wir es vielleicht spüren wenn das Tanzen wilder wird. Er lobt Gott, heißt es, er singt vielleicht, Halleluja, vielleicht What a wonderful world, und wenn er es fromm mag: Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt, damit ich lebe. Aber ich glaube, er lobt Gott mehr als durch alle Worte und Melodien durch seinen Körper, durch seine Bewegungen, sein Hüpfen und Tanzen. Kann man Gott wunderbarer loben als durch die Freude, die wir an dem uns von ihm geschenkten Körper haben? Dieses Geschenk hat der geheilte Bettler dramatisch erfahren, aber es ist doch uns allen gegeben, freilich so selbstverständlich, dass es uns gar nicht mehr auffällt.

Noch einmal: Was geschieht? Der geheilte Bettler findet zu Gott. Weil Gott zuerst ihn gefunden hat. Durch Petrus und Johannes. Durch ihre Augen und ihre Worte. Durch seine Knochen, Knöchel und Sehnen. Durch seine Füße und Beine. Durch seine Mobilität. Durch eine neue Lebensgrundlage. Alles ganz materiell, körperlich. Das geschieht im Namen Jesu.

Wir nennen das, was da geschah, ein Wunder. Ein Heilungswunder. Und ein Wunder ist es. Heilungswunder geschehen auch noch heute. Die allermeisten freilich so, dass es uns gar nicht auffällt. Die allermeisten Heilungswunder geschehen heute durch das, was wir „Schulmedizin“ nennen, durch Ärztinnen und Pfleger und Physiotherapeuten und Laborantinnen. Und durch andere, die am Rande oder jenseits der Schulmedizin arbeiten, Heilpraktikerinnen und Homöopathen. Und manchmal, da wird ein Mensch auch heute gesund auf noch anderen, uns völlig unerklärlichen Wegen. Und durch alle diese Wege heilt Gott. Wo ein Mensch heil wird, geschieht es immer im Namen Jesu, ob dieser nun ausgesprochen wird oder nicht. Und wir lassen uns dieses Wirken doch nicht auf das eingrenzen, was uns heute zufälligerweise unerklärlich ist! Es gibt aber auch keinen Grund, das Unerklärliche zu leugnen. Und deshalb beten Menschen auch heute, manchmal, wenn es ganz eng wird, um ein Wunder. Und wenn wir das Wunder als Wunder erfahren, dann berührt es unser Herz. Dann haben wir ein Wort gehört, das noch viel wichtiger ist als das Wunder selbst. Dann haben wir Gottes Gnade und Liebe erfahren.

Am Ende dieser Geschichte, die so intim zwischen drei Menschen begann, stehen Petrus und Johannes wieder auf der großen Bühne. Petrus hält eine Rede und versucht zu erklären, was da geschah. Dass nicht sie es waren, sondern Gott, der im Namen Jesu geheilt hat. Und dass es Gottes Wunsch und Wille und Wirklichkeit ist, dass Menschen heil werden an Leib und Seele, nicht nur dieser eine, sondern alle. Denn alle brauchen Heilung. Das kann Gott uns schenken, und er kann es nicht nur, sondern will und wird es schenken, und zwar aller Welt. Und deshalb kündigt Petrus kühn an: Es kommen Zeiten der Erquickung. Für alle Welt. Gott wird das Elend von Grund auf beseitigen. Gott wird alles gut machen. Das klingt wunderbar erfreulich. Das klingt so, wie die Kirche klingt, wenn sie Kirche ist.

Amen.

Liedvorschläge:

EG 166            Tut mir auf die schöne Pforte

EG 289            Nun lob mein Seel den Herren

EG 611            Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt

EG 324            Ich singe dir mit Herz und Mund