1 Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.
2 Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude. Die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, die Pracht von Karmel und Scharon. Sie sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes.
3 Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! 4 Sagt den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.«
5 Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. 6 Dann wird der Lahme springen wie ein Hirsch, und die Zunge des Stummen wird frohlocken. Denn es werden Wasser in der Wüste hervorbrechen und Ströme im dürren Lande. 7 Und wo es zuvor trocken gewesen ist, sollen Teiche stehen, und wo es dürre gewesen ist, sollen Brunnquellen sein. Wo zuvor die Schakale gelegen haben, soll Gras und Rohr und Schilf stehen.
8 Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird. Kein Unreiner darf ihn betreten; nur sie werden auf ihm gehen; auch die Toren dürfen nicht darauf umherirren. 9 Es wird da kein Löwe sein und kein reißendes Tier darauf gehen; sie sind dort nicht zu finden, sondern die Erlösten werden dort gehen. 10 Die Erlösten des Herrn werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen.
[Vorbemerkung
Als Lied vor oder nach der Predigt schlage ich das Lied „Die Steppe wird blühen“ (Nr. 11 aus „Lieder zwischen Himmel und Erde“ ) vor. Es kommt aus der Feder von Huub Oosterhuis, von Diethard Zils ins Deutsche übertragen und komponiert von Antoine Oomen. Möglich ist auch, die drei Strophen „in“ der Predigt zu singen anstatt sie zu zitieren.
Die niederländische Originalfassung „De steppe zal bloeien“ ist zu hören unter:
Trijntje Oosterhuis (Tochter von Huub Oosterhuis)
https://www.youtube.com/watch?v=RrlaSwKQrJc
Lenny Kuhr
https://www.youtube.com/watch?v=hptIyJ6Vd7o
Wer mehr wissen will:
https://kerkliedwiki.nl/De_steppe_zal_bloeien
http://www.tweeofdriebijeen.nl/de-steppe-zal-bloeien/
Die Predigt versucht, Jes. 35 mit einem Lied, das aus Jes. 35 entwickelt wurde, zu verbinden.
Es ist eine „Liedpredigt“. Die Linienführung von Huub Oosterhuis ist nicht eins zu eins bei Jesaja zu finden, legt auf eigenständige Weise aber den vorgegebenen Text aus. Das Lied ist ein „Schriftlied“.
Als Lesung schlage ich vor: Mt. 11,1-6 oder Lk. 7,18-23.]
Predigt
Lilien in der Wüste
„Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien.“
Ein furioser Auftakt!
Wüste, Einöde und Steppe wissen sich vor Freude nicht mehr zu halten!
Die Schakale trollen sich!
Müde Hände packen wieder zu,
wankende Knie richten sich auf.
Seht, da ist euer Gott!
Blinde sehen! Taube hören! Lahme gehen!
Verstummte brechen in Jubel aus!
Wasser brechen in der Wüste hervor,
Quellen sprudeln in der Dürre!
Eine Oase!
Für Menschen, für Völker.
Seht, da ist euer Gott!
Dann ein Weg.
Unberührt von den Schindern,
von den Despoten.
Ein Weg
für die Erlösten,
für die von Gott geliebten Menschen.
Sie kommen nach Hause.
Schmerz und Seufzen entfliehen.
Seht, da ist euer Gott!
Ein furioser Auftakt! Die Bilder überschlagen sich förmlich, die Worte überbieten sich. Wir sehen in das Paradies.
Das Volk Israel hat sich auf lange Wege einstellen müssen. Endlose Wege. Geröll, Sand – die Schakale heulen. Die Höllenhunde, die Boten des Totenreiches. Wenn die Nacht hereinbricht, wenn Kälte sich unter die Decke schleicht, sitzen Menschen dicht aneinander gedrängt und reden über verlorene Hoffnungen, vertane Tage und über die Angst vor der Zukunft. Stille und laute Wut gibt’s auch. Überall Wüste, Steppe, Einöde – soweit das Auge reicht. Verdorrt, trocken ist alles. Die Gegend, die Herzen, die Träume.
Und dann:
Wüste, Einöde und Steppe wissen sich vor Freude nicht mehr zu halten!
Die Schakale trollen sich!
Müde Hände packen wieder zu,
und wankende Knie richten sich auf.
Seht, da ist euer Gott!
Die Steppe wird blühen
Heute, am 2. Advent, wollen wir uns einmal auf diese Vision einlassen. So manches ist für uns auch nur endlos, vertrocknet und sinnlos. Viele Geschichten, die bei uns hochkommen, atmen den Geist der Verzagtheit. Wir sehnen uns danach, hoffnungsvoll in die Zukunft, in unsere Zukunft, in die Zukunft der Welt schauen zu können. Gerade jetzt in der Adventszeit. Eine Zeit der Erwartung, des Wartens. Seht, Gott kommt!
Vor vielen Jahren hat Huub Oosterhuis, ein niederländische Dichter und ehemaliger kath. Priester – er lebte von 1933 bis 2023 –, ein Lied geschrieben. Es trägt den Titel: Die Steppe wird blühen. Wörtlich: Die Steppe soll blühen. Huub Oosterhuis hat sich ausdrücklich auf Jesaja bezogen, auf unseren Predigttext.
(Wir haben dieses Lied gerade gesungen / wir werden dieses Lied gleich noch singen)
Die erste Strophe geht so:
Die Steppe wird blühen, die Steppe wird lachen und jauchzen.
Die Felsen voll Wasser seit den Tagen der Schöpfung,
doch sie halten es fest. Die Felsen zerspringen.
Das Wasser wird strömen, das Wasser wird funkeln und strahlen.
Durstige kommen und trinken.
Die Steppe wird trinken. Die Steppe wird blühen,
die Steppe wird lachen und jauchzen.
Dass eine Steppe zur Oase wird, ist so ungewöhnlich nicht. Das Wasser, das Wasser ist das Wunder! Durstige kommen und laben sich. Die Steppe - verwandelt in einen Lebensraum, in einen Garten, in das Paradies.
Für viele Menschen sind Wasserstellen weit weit entfernt. Frauen tragen auf ihren Köpfen Krüge. Malerisch sind nur die Kleider. Versiegt und verseucht sind viele Brunnen. Reines, sauberes Wasser ist an vielen Orten ein Traum. Eine Sehnsucht. Bomben und Drohnen nehmen keine Rücksicht. Wasser kann auch sterben.
Wir sehen aber auch, dass Wasser aus den Fugen gerät. Kleine idyllische Bäche entwickeln sich zu reißenden Strömen. Sie reißen alles mit, ziehen alles in den Schmutz. Erinnerungen und Existenzen gehen unter. Wasser entpuppt sich als Unheil. Geht es zurück, lässt es Menschen zurück, die neu anfangen müssen.
Dass dann, umgekehrt, an vielen Stellen Lebensräume versteppen, Wüsten wachsen und Menschen fliehen müssen vor der Dürre – wir haben auch das in diesem Jahr oft gesehen. Wasser fehlt! Brände breiten sich aus, fressen Wälder und legen Siedlungen in Schutt und Asche. Manchmal helfen Menschen sogar nach, wenn sie sich Grundstücke und Ländereien unter den Nagel reißen wollen.
Wasser: Lebenselixier. Doch Wasser kann sich in Tod verwandeln. Bleibt Wasser aus, sterben Landschaften. Wasser soll Wasser bleiben! Lebenswasser!
Huub Oosterhuis hat sich die Verheißung des Propheten Jesaja zu eigen gemacht. Die Verheißung, dass die Steppe zu leben beginnt. Dass Menschen leben können. Dass Menschen glücklich sind. Ich höre Lachen und Jauchzen.
Frisch und lebendig läuft Wasser über die staubigen Köpfe, über müde Füße, über eine verschwitzte Haut. Die Welt erlebt einen Neuanfang! Funkelnd und strahlend. Eine Hoffnung.
Flüchtlinge kommen nach Hause
Huub Oosterhuis hat sich in ein Gespräch mit Jesaja verwickelt. Steppen- und Wüstenerfahrungen, Bedrohungen und Ängste gibt es unter uns auch. Aber es gibt auch Bilder der Hoffnung, wachsendes Vertrauen und neue Wege in unwegsamen Geländen.
Das besingt die zweite Strophe:
Die Flüchtlinge kommen nach Hause mit leuchtenden Garben.
Die gingen in Trauer bis ans Ende der Erde,
hoffnungslos, und allein, sie kommen in Scharen.
Wie Bäche voll Wasser, wie Bäche voll rauschenden Wassers,
stürzend herab von den Bergen,
wie Lachen und Jauchzen.
Die säten in Tränen, sie kommen und lachen und jauchzen.
Huub Oosterhuis nimmt Flüchtlinge in den Blick. In anderen Übersetzungen ist auch von Verbannten die Rede. Im Wort „Verbannte“ kommt noch stärker heraus, dass Menschen von Menschen verbannt werden, dass Menschen Menschen verbannen. Im Bild: Verbannte werden in die Wüste geschickt. Ihre Hände sollen nichts festhalten, ihre Schritte nicht fest sein – sie sollen verstummen. Klein gemacht. Kein Lachen – betretenes Schweigen.
Huub Oosterhuis hat im 126. Psalm Worte gefunden:
„Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird,
so werden wir sein wie die Träumenden.
Dann wird unser Mund voll Lachens
und unsere Zunge voll Rühmens sein…
Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen
und kommen mit Freuden
und bringen ihre Garben“
Als Huub Oosterhuis sein Lied schrieb, gab es noch keine Massenmigration, auch noch keine Diskussionen um ungeregelte Migration, auch kein Geraune über Remigration. Durch unsere Gesellschaft verläuft gerade ein tiefer Riss. Das Lied hat aber eine große Kraft, mit den biblischen Verheißungen Menschen in den Blick zu nehmen – und nicht nur Zahlen und Statistiken, nicht nur Bedrohungen und Ängste vor Verlust.
Die Flüchtlinge kommen nach Hause mit leuchtenden Garben.
Die gingen in Trauer bis ans Ende der Erde,
hoffnungslos, und allein, sie kommen in Scharen.
Ein Bild hat es mir besonders angetan: die leuchtenden Garben! Garben stehen für Ernte, für den Reichtum des Lebens, für Sattwerden und glücklich sein. Um Garben lässt es sich fröhlich tanzen. Dass Flüchtlinge etwas mitbringen, soll heute wieder neu entdeckt werden.
Viele Fragen sind offen und müssen von uns politisch beantwortet werden. Dass wir bei allen Überlegungen einen Blick auf die Garben haben können – das befreit und ermutigt.
Viele Menschen erzählen auch bei uns, woher sie, ihre Familien, einmal gekommen sind.
Ostpreußen, Pommern, Schlesien – und Polen, Italien, Spanien – und aus der Türkei. Viele Geschichten sind Geschichten von Vertriebenen, Flüchtlingen und Heimatlosen, auch die Geschichten von Gastarbeitern, die eine Heimat gefunden haben.
Die gingen in Trauer bis ans Ende der Erde,
hoffnungslos, und allein, sie kommen in Scharen.
Wie Bäche voll Wasser, wie Bäche voll rauschenden Wassers,
stürzend herab von den Bergen.
Flüchtlinge hat der Prophet Jesaja tatsächlich nicht erwähnt – oder doch? Jesaja spricht sein Volk, er spricht Menschen an, die vor Gewalt und Unterdrückung geflohen sind! Die alles hinter sich gelassen haben! Die mit immer weniger doch dem Gefühl erliegen, nie anzukommen. Irgendwann sind die Hände schlaff, die Knie geben nach und die Augen sind leer. In den Ohren rauscht es. Nirgendwo ein gutes Wort. Keine Verheißung. Keine Liebeserklärung. Nirgendwo.
Der Tote wird leben
Die 3. Strophe seines Liedes hat Huub Oosterhuis als Lied eines Aufbruchs gestaltet.
Der Tote wird leben, die Tote wird hören: jetzt Leben.
Zu Ende gegangen, unter Steinen begraben:
Toter, Tote, steh auf, ein ganz neuer Morgen.
Es winkt eine Hand uns, es ruft eine Stimme:
Ich öffne Himmel und Erde und Abgrund.
Und wir werden hören, und wir werden aufstehen
Und lachen und jauchzen und leben.
Aufstehen! Toter, Tote, steh auf!
Wer ist eigentlich tot? Wie ist das, tot zu sein? Was macht das mit Menschen, tot zu sein? Zum Schweigen gebracht?
Viele Menschen sind – innerlich – tot. Sie können nichts mehr hoffen. Sie sind verstummt. Sie haben keine Worte. Für sich nicht, für die Dinge nicht, für andere Menschen auch nicht. Für Gott schon mal gar nicht. Aber sie schlagen oft um sich, sie sind aggressiv, sie geben die Welt auf. Sie geben die Welt auf, die nicht so ist, wie sie sie haben wollen. Sie geben Menschen auf, die nicht so sind, wie sie sich formen. Sie geben Geschichten auf, die nicht so sind, wie sie sie erzählen wollen.
Aufstehen! Toter, Tote, steh auf!
Bei Jesaja heißt es:
„Stärkt die müden Hände und macht fest die wankenden Knie! Sagt den verzagten Herzen:
»Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott!“
Es winkt eine Hand uns, es ruft eine Stimme:
Ich öffne Himmel und Erde und Abgrund.
Und wir werden hören, und wir werden aufstehen
Und lachen und jauchzen und leben.
Nicht wir – ER öffnet Himmel und Erde und Abgrund. ER – er kommt!
Abgrund ist übrigens die Hölle, das Totenreich, das Reich der Schakale. Ihr Markenzeichen ist das Geheul. Schakal heißt: der Heulende.
Ein Protest
Genau genommen ist das Lied von Huub Oosterhuis nicht als Adventslied geschaffen worden. Es ist bewusst ein Protestlied! Doch alle Adventslieder sind Protestlieder. Gegen Dürre, Verlorenheit und Verlogenheit, gegen Angst, Fremdheit und Tod. Seht, da ist euer Gott.
Jesus hat auf eine Anfrage an ihn so geantwortet:
Sagt, was ihr hört und was ihr seht! Redet!
„Blinde sehen und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören,
Tote stehen auf,
und Armen wird das Evangelium gepredigt“
(Mt. 11,5)
Noch einmal Jesaja, erstes und letztes Wort:
„Die Wüste und Einöde wird frohlocken, und die Steppe wird jubeln und wird blühen wie die Lilien. Sie wird blühen und jubeln in aller Lust und Freude.
Wir sehen die Herrlichkeit des Herrn, die Pracht unsres Gottes.“
Und der Friede Gottes,
der höher ist als unsere Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne
in Christus Jesus,
unserem Herrn.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich nehme in meiner Umgebung – geht über Gemeinde hinaus – wahr, dass für viele Menschen Hoffnungen vertrocknet sind, die aktuellen Geschehnisse („multiple Krisen“) Angst machen oder auch zur Lethargie verführen, andererseits Widerstand provozieren, der aber an vielen Stellen Zerrissenheit verstärkt. Der 2. Advent hat mit Jes 35 einen erfrischenden Blick, der von Gott aus eine Zukunftsperspektive öffnet.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Beflügelt hat mich bei der Predigtvorbereitung ein Gedicht von Huub Oosterhuis, das, zum Lied geworden, den Predigttext „singbar“ macht. Die Predigt versucht, Linien auszuziehen, die Huub Oosterhuis freilegt, dabei die Textebene aber auch verlässt. Die Predigtvorbereitung kämpft aber auch damit, der Bilderflut und der Assoziationen Herr zu werden. Die Predigt will ein „Schriftlied“ vorstellen.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Huub Oosterhuis bei uns, mit wenigen Liedern im Gesangbuch vertreten, noch zu entdecken ist. Ich lebe im Grenzgebiet zu den Niederlanden. Mit der Gemeinde möchte ich einmal ein „Seminar“ veranstalten mit Huub Oosterhuis und Kurt Marti als Bezugspersonen und Zeitgenossen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Mein Coach, „Erstleser“, hat mich auf einige Ungereimtheiten aufmerksam gemacht und wichtige Rückfragen gestellt. Ich habe sie alle abgewogen, aber nicht alle aufgreifen können. Wenn ich noch mehr Zeit hätte, würde ich weiter an dem Text feilen. Die abschließende Bearbeitung kam einem Gespräch gleich, das kein Gegenüber hatte, ein Gegenüber aber auch nicht mehr brauchte. Das war spannend und inspirierend. Dem Coach ein herzliches Dankeschön!