Legt die Lüge ab, redet Wahrheit jeder mit seinem Nächsten: haltet ihm in eurem Reden die Treue; denn wir sind untereinander Glieder. Zürnt, doch sündigt nicht. Die Sonne gehe nicht unter über eurem Zorn. Und gebt dem Teufel keinen Ort. Wer stiehlt, stehle nicht mehr; vielmehr mühe er sich ab und erarbeite mit den eigenen Händen das Gute, damit er dem etwas zu geben hat, der es braucht. Kein hässliches Wort entfahre eurem Mund, sondern, wenn überhaupt: ein gutes – zum Aufbau, wo es gebraucht wird, damit es den Hörenden Beistand gibt. Und betrübt nicht den heiligen Geist Gottes, in dem ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung hin. Alle Bitterkeit, Wut, Zorn, Geschrei und Lästerung sei weg von euch, samt allem Bösen. Werdet untereinander gütig, gutherzig, steht einander bei, wie auch Gott im Christus euch beisteht.
Legen Sie doch ab! Warum sind Sie so zugeknöpft? Wovor haben Sie Angst? Was Sie da anhaben steht Ihnen doch gar nicht, passt nicht zu Ihnen. Was Sie sich da zugelegt, was Sie da angelegt haben, das betrachten Sie als einen Schutzmantel. Doch es ist ein Lügengewebe. Und das hat sich zum Panzer verhärtet. Der macht Sie so steif, so unbeweglich und unberührbar. Und der belastet und bedrückt Sie, nimmt Ihnen die Luft zum Atmen. Denken Sie an David. Saul hatte ihm seinen Panzer angelegt. Den hat er aber gleich wieder abgelegt; der war ihm zu schwer. Du kommst zu mir, sagt er dann zu Goliath, mit Schwert und Speer; ich komme zu dir – nein, nicht bewaffnet mit paar Kieselsteinen, sondern mit dem Namen des Gottes Israels. Also: Legen Sie ab!
Wofür soll dieser Schutzmantel gut sein, wovor schützen? Er besteht aus lauter Abgrenzungen gegen Juden, Schlechtreden, Verleumden der Juden. Aus Lügen. Viele Jahrhunderte lang wurden sie von der Kirche dazu verwendet, Juden zu verteufeln. Doch nicht die Juden sind vom Teufel, sondern die Feindschaft gegen sie ist es.
Die aber war lange die Grundlage der Kirche und der Christen: ihres Selbstverständnisses – und ist es in vielen Kreisen auch noch heute: christlich ist, was nicht jüdisch ist; Evangelium ist, was nicht Gesetz ist. Die Kirche hat es nie oder nur selten geschafft, ihre Botschaft positiv zu verkünden, ohne Abgrenzung gegen Juden und Jüdisches. Sie war der Meinung, sie könne nur vor der dunklen Folie dessen, was angeblich jüdisch ist, das Evangelium strahlend zum Leuchten bringen. Und was wurde da nicht alles gelehrt und gepredigt: dass das Neue Testament die jüdische Bibel alt macht, veraltet, obsolet: das Neue das Alte überbietet; dass wir Christen dankbar von der freien Gnade Gottes leben, während die Juden unter dem Joch des Gesetzes ächzen; dass wir Christen darum auch selbst frei und geistbewegt, voll Liebe den Willen Gottes tun, die Juden hingegen in lächerlich penibler Gesetzlichkeit sich bei Gott lieb Kind machen wollen; dass die Juden seit Jesus nicht mehr Volk Gottes sind, sondern durch uns, die Kirche, abgelöst, ersetzt, beerbt. Das ist noch nicht vorbei. Das wird in großen Teilen der Christenheit bis heute gelehrt und geglaubt.
Die Kirche hat mit diesen Irrlehren, diesen Lügen das jüdische Volk in aller Welt verächtlich, verhasst gemacht. Damit hat sie den Weg bereitet, der zur Schoah führte: zum Massenmord an den Juden, dessen wir heute gedenken. Denn sie hat den Stoff geliefert für den nicht mehr christlichen Judenhass, das Gerücht über die Juden. Etwa die tiefsitzende Überzeugung, dass es den Juden im Unterschied zu uns anderen nicht um Geistiges geht, sondern um Materielles: um Geld. Das hatte die Kirche anhand von Judas und den Silberlingen behauptet. Aus Rufmord wurde Mord, aus der theologischen Rede vom Ende Israels die Endlösung.
Doch diese Judenfeindschaft passt nicht zu uns, steht uns nicht. Wir sind Mitglieder der Wohngemeinschaft des Gottes Israels mit seinem Volk geworden (2,19). Und wer sitzt, geht, steht in einer WG herum mit einem Panzer angetan? Wir sind nicht mehr fremd und fern den verheißungsvollen Bundesschlüssen Israels (2,12), sondern tätige Teilnehmer einer großen Geschichte, der Beziehungsgeschichte Gottes mit seinem Volk. Die sieht zwar klein und unscheinbar aus im großen Weltgeschehen, ist aber heimlich, im Verborgenen der rote Faden der Weltgeschichte. Doch die Kirche hat alles getan, die Fremdheit und Ferne wiederherzustellen. Durch Lügen – die Methoden des Teufels. Wir sind nicht mehr hin- und hergetrieben von allerlei geistigen Strömungen (3,14), sondern versiegelt durch einen ganz anderen Geist: den heiligen Geist Gottes, der unsere Bundesgenossenschaft mit den Juden besiegelt. Doch der ist betrübt. Weil wir neben ihm und gegen ihn dem Teufel Judenfeindschaft in uns Raum geben, dem Gerücht über die Juden, den Lügen. Das macht ihm Kummer. Denn er ist der Geist des Gottes Israels.
Heute ist es achtzig Jahre her, dass die Rote Armee die wenigen Überlebenden des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau befreite, zwei Generationen. Haben wir dazugelernt, die Lügen abgelegt, sind wir umgekehrt? Ja, viele Kirchen und viele Christen haben inzwischen – oft unter Schmerzen, oft in Kämpfen – erkannt, dass es kirchliche Irrlehren, Lügen waren, die die Juden verächtlich und verhasst gemacht haben und damit beigetragen dazu, dass es zur Katastrophe kam, zur Hölle auf Erden. Viele haben daraufhin ganz neu die Bibel studiert, haben neue Entdeckungen gemacht, die nicht nur für Christen in Deutschland, nicht nur für die Nachkommen der Täter lebenswichtig sind, sondern für Christen in aller Welt: dass uns Jesus nicht zur Judenfeindschaft berufen hat, sondern zu treuen, verlässlichen Bundesgenossen seines Volkes. Es ist uns gut, es ist keine Kränkung, dass Gott sein Volk Israel neben der Kirche und gegen sie aufrechterhalten hat: ein Zeichen der Treue Gottes, der auch wir trauen. Es gehört darum zum Wesen der Kirche, Anteil zu nehmen am Weg des jüdischen Volkes. Wir sind dankbar dafür, dass Juden und Jüdinnen – nach allem, trotz allem, was geschehen ist – uns geholfen haben beim Lernen, mit uns zusammen Bibel studieren.
Mitglieder einer WG sind untereinander Glieder, miteinander solidarisch. Ein Glied, das vom lebendigen Organismus abgetrennt ist – oder sich, was freilich das Bild strapaziert, selbst abschneidet –, erstarrt, verfault, ist tot. Auch in der WG Gottes mit seinem Volk und uns Jesusjüngern aus den Völkern wird es Zornausbrüche geben zwischen allen drei Wohngenossen. Doch die sollten sich beilegen lassen, ehe es ganz finster wird. Der Grundzorn aber, der Groll darüber, dass Juden Jesus nicht als Messias Israels und Befreier der Welt betrachten, der soll ganz weg sein. Denn der bedeutet: Juden soll es nicht mehr geben – Quelle aller Bitterkeit, Wut und Lästerung: der Lügen.
Seit dem 7. Oktober 2023 schwappt eine Welle offenen Judenhasses durch unser Land und durch viele Länder. Als wäre ein Gullydeckel geöffnet worden – und nun sprudelt all das Gift hervor, das zuvor im Verborgenen gebrodelt hatte. Rasch wurde deutlich, dass es da nicht um Protest gegen die Regierung und die Armee des Staates Israel geht, sondern um Angriffe auf alle Juden. Juden soll es nicht mehr geben – nicht zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer, aber auch nirgendwo sonst. Juden in unserer Stadt, in unserem Land sind bedroht und fühlen sich allein und im Stich gelassen. Und sie erleben, dass sie auch von bisherigen Freunden gemieden werden. Als wären ihr Leid, ihr Schmerz, ihr Entsetzen angesichts des Terrorangriffs der Hamas auf Israel – des größten Massenmords an Juden, weil sie Juden sind, seit 1945 – eine ansteckende Krankheit. In dieser Situation haben wir das neu Gelernte zu bewähren – im Beistand für Juden gegen ihre Hasser und deren Lügen.
Gegen Lügen hilft: die Wahrheit sagen. Und Wahrheit, das ist mehr als die Richtigstellung und Widerlegung von Falschaussagen, was aber auch schon was ist. Wahrheit – das ist Bewährung, Verlässlichkeit, Treue. Unser Reden soll nicht unsere Wiedergutwerdung erweisen, sondern Solidarität praktizieren: Worte, die brauchbar sind für die, die es brauchen. Martin Luther war zwar ein grässlicher Judenhasser, aber dennoch ein großartiger Bibelausleger. Das Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ bedeutet, schreibt er, dass wir unsern Nächsten nicht belügen, verraten, verleumden oder seinen Ruf verderben, sondern sollen ihn entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren. Er hat da gewiss nicht an die Juden gedacht. Doch gerade in unserer Beziehung zu ihnen, die von so viel Verrat, Verleumdung und Rufmord vergiftet ist, ist seine Auslegung hoch aktuell.
Zum Lügen kommt das Stehlen. Das betrifft nicht nur die Arisierungsgewinnler oder die Besitzer geraubter und erpresster Kunstwerke, sondern auch die Theologen und den Diebstahl des Namens Israel: die Kirche als neues Israel. Wer stiehlt, stehle nicht mehr, sondern soll Juden geben, was brauchbar ist, was sie brauchen. Es geht um unsere Brauchbarkeit – in unserem Reden wie im Materiellen. Sind wir noch brauchbar – nach allem, was geschehen ist? Das kann sich nur in der Praxis erweisen.
Auch der Kampf gegen Judenhass, gegen die Methoden des Teufels braucht gute Wehr und Waffen. Mit dem Namen des Gottes Israels bewaffnet zu sein, das bedeutet (6,10–17): gegürtet mit Wahrheit, mit Treue. Dieser Gürtel bindet uns an Gottes Volk Israel. Auch einen Panzer werden wir brauchen. Aber nicht wie bisher den Panzer der Selbstgerechtigkeit, die eine Selbstbelügung ist – den Panzer, der uns so unberührbar und unbeweglich macht. Sondern den Panzer der Gerechtigkeit Gottes. Gott hat in seinem Sohn bewirkt, dass wir ihm recht sind – trotz allem, was gegen uns spricht. Das schützt uns besser als unser Selbstschutz. Und beschuht mit der Bereitschaft, das Evangelium des Friedens zu verkünden – Jesus ist gekommen und hat das Evangelium des Friedens verkündet: uns, die fern waren, und Frieden denen, die nahe waren: Israel (2,17). Diese frohe Botschaft haben auch wir zu verkünden – unserem Volk und allen Völkern. Denn der Friede Israels inmitten der Völker ist die Voraussetzung für Weltfrieden. Doch diese Botschaft ist umstritten. Wir brauchen einen Schutzschild, den Schild des Glaubens, des Vertrauens zum Gott Israels, um bösartige Giftpfeile abzuwehren. Schutz vor den Methoden des Teufels braucht vor allem unser Kopf, unsere Vernunft, unser Verstand. Ein Helm ist nötig, der Helm der Befreiung: unser Denken soll geleitet sein von Gottes großer Befreiungsgeschichte. Das bewahrt uns vor Vernebelung und Verblendung. Doch es geht ja nicht nur um Abwehr und Schutz. Sondern um Kampf, um Angriff. Wir brauchen ein Schwert. Das kann verletzen, das kann aber vor allem die Geister scheiden, denn es ist das Schwert des Geistes – des Geistes, den wir so oft betrübt und damit unwirksam gemacht haben: das Wort des Gottes Israels.
Probieren Sie das alles mal an! Sie werden sehen: das passt. Und im Blick auf unsere Taufe, unseren Eintritt in die Bundesgeschichte des Gottes Israels mit seinem Volk, lässt sich sogar sagen: das passt wie angegossen.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ein Abendgottesdienst, zu dem Menschen kommen, die dieser Tag und sein Thema aufwühlen; die an diesem Tag nicht allein sein wollen, sondern zusammenkommen; die erschüttert und zerrissen sind durch die Situation seit dem 7. Oktober 2023; die darum Orientierung suchen und Ermutigung.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Wunsch, die Aufforderungen und Ermahnungen des Predigttexts zu verbinden mit der frohen Botschaft des übrigen Epheserbriefs, die die Grundlage und Motivation dieser Aufforderungen ist.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wer die Lüge ablegt, steht nicht nackt und bloß, hilf- und wehrlos da, sondern bekommt was anderes zum Anziehen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Kürzungen. Straffung: mehr Haupt- als Nebensätze. Rhythmisierung. Doch wie fast immer blieb für die Endredaktion ein bisschen wenig Zeit.