Hoffnungslieder. Zungen und Ohren - Predigt zu Jes 50,4-9 von Manfred Wussow
50,4-9

Hoffnungslieder

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Ein Lied wird uns heute geschenkt. Gereimt wurde es noch nicht, es hat aber einen melodischen Klang. Ein Komponist wurde auch noch nicht gefunden. Aber dieses Lied können wir ohne Noten singen. Ein Hoffnungslied. Mutig. Nicht tot zu kriegen.
Gott der Herr hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben.
Mit den Müden zu reden, weiß ich jetzt. 
Gott weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr.
Wie Jünger hören, höre ich jetzt.
Er hat mir das Ohr geöffnet, Gott, der Herr!
Ich spiele mit meiner Zunge. Sie ist in meinem Mund. Sie ist sehr beweglich. Sie ist eine Alleskönnerin! Sie kann schmecken, Süßes und Bitteres, Heißes und Kaltes. Sie kann fühlen, tasten, streicheln, küssen – und sie kann Worte formen. Harte, verletzende – und beglückende, befreiende. Ich möchte einen anderen Menschen aufbauen, ich möchte ihm eine neue Welt erschließen!
Eine Zunge, die das kann, wünsche ich mir.
Viele Menschen sind müde. Nicht nur von der Arbeit. Nicht nur von einer Krankheit. Sie sind müde geworden, weil ihnen die Hoffnungen abhandengekommen sind. Wenn ein Mensch müde ist, funktioniert auch das Funktionieren nicht mehr.
Ich schaue auf die Ohren. Dafür brauche ich einen Spiegel. Ich kann sie auch in die Hände nehmen. Schön ist es, die Ohren eines lieben Menschen in den Händen zu bergen. Kunstvoll sind sie im Inneren. Mit einer Paukenhöhle, den Gehörknöchelchen und der Ohrtrompete – und noch weiter im Inneren gibt es ein Labyrinth mit der Schnecke und den Bogengängen. Dass ich das Gleichgewicht behalte und im Gleichgewicht bleibe, liegt tief in meinem Ohr.
Manchmal bin ich „ganz Ohr“. Zwei Ohren erschließen mir die Welt. Mal laut, wild durcheinander, hasserfüllt – mal ganz zärtlich, freundlich und neugierig. Ich möchte zuhören, ich möchte verstehen, ich möchte Hoffnungen aufnehmen. Ohren, die das können, wünsche ich mir.
Viele Menschen werden nicht mehr gehört. Sie reden, treffen aber auf Schweigen. Sie können sich nicht verständlich machen. Viele Menschen wollen auch nichts mehr hören. Sie haben genug mit sich.
Gott hat mir eine Zunge gegeben …
Er weckt mir das Ohr!

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Das Lied vom Knecht

Das Hoffnungslied von einem Menschen, der die richtige Zunge und das richtige Ohr hat, hat Jesaja überliefert. Er erzählt von einem Menschen, der in trostloser und angespannter Situation Mut macht, sich auf Gott zu verlassen. 
Damals – 2.500 Jahre sind es her – haben die Babylonier mit ihrer brutalen Übermacht die „heilige“ Stadt Jerusalem verwüstet, den Tempel – immerhin die Wohnung Gottes – verbrannt und den größten Teil der Bevölkerung rücksichtslos nach Babylon deportiert. Israel soll von der Landkarte, aus den Erinnerungen und aus der Geschichte verschwinden. Gott auch. 
Das letzte Wort in dieser Geschichte ist freilich nicht gesprochen. Gott fängt mit seinem Volk neu an.
Jetzt muss auch der Mensch auftreten, der genau dafür eine neue Zunge bekommen hat und ein offenes, aufgewecktes Ohr.
Er wird als Knecht Gottes bezeichnet. Auf dem ersten Blick eine geheimnisvolle Gestalt, die Träume und Hoffnungen auf sich vereint, auf dem zweiten Blick ein Mensch, der einfach da ist. 
Mit den Müden zu reden, weiß ich jetzt …
Wie Jünger hören, höre ich jetzt …
Etwas Neues beginnt.
Wir fangen neu an.
In Babylon sind viele Menschen aus dem Volk Israel müde geworden. Sie wussten nicht mehr, was sie glauben konnten. Vertrautes ist untergegangen. Dabei ist viel geredet worden. Immer um die Runde. Mit jedem Wort ist die Müdigkeit gewachsen, die Enttäuschung, die Gleichgültigkeit.
Der Knecht Gottes, so erzählt Jesaja, ist den Menschen nahe, er ist für sie „ganz Ohr“. Er ist der erste Seelsorger. Diskret. Das laute Wort ist nicht sein Ding. Es sind viele Geschichten, die ab jetzt zu erzählen sind. Von Neuanfängen. Von Mut. Von Wegen, die auf einmal offen sind. Nicht in alten Geschichten unterzugehen, ist eine sehr trotzige Botschaft!

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Knecht Gottes

Was ist das für eine Figur, die Hoffnung verbreitet, müde Menschen aufrichtet und ein offenes Ohr hat?
Schauen wir uns einmal eine Gegenfigur an. Einen – Hassprediger!
Conrad Felixmüller hat 1920 das Bild eines Agitators gemalt (Bild: Conrad Felixmüller, Der Agitator. Otto Rühle spricht https://www.bildindex.de/document/obj02510748 "Er war wirklich ein Mann der Massen, der am Tage zwei, drei Reden vor großen Versammlungsmassen ... sprach. Dann war er absolut nur Muskelpartie, das ganze Gesicht war in höchster Anspannung. Sein Schädel war gespannt, und seine Fäuste waren geballt...“). Damals, vor 100 Jahren, wurden Wortschlachten erst in Sälen ausgetragen, dann auf den Straßen. Die Zeiten waren aus den Fugen geraten. Der Körper des Redners ist eine einzige Rede. Wirr. Hasserfüllt. Aufstachelnd. Dann erst das Gesicht! Weit nach vorne geschoben das Kinn, der Mund zugekniffen und aufgerissen zugleich, die großen Augen wie leere Löcher. Die Welt muss Angst bekommen!
Der Agitator schreit sich müde, er hört nicht zu. Seine Reden sind Peitschen, seine Worte schlagen und töten. Seine Ohren sind zugedröhnt.
Groß aufgerissene Mündern und wilde Tiraden begegnen uns auch heute. Die Botschaft wird eingehämmert, dass die Welt neu geordnet werden müsse. Vom Frieden ist allenthalben die Rede, gemeint sind aber Unterdrückung und Unterwerfung. Die Wahrheit ist schon verraten.
Ich höre viele Menschen, die versteckt oder auch offen darüber reden, wie müde und abgeschlagen sie sich fühlen. Wenn Menschen nur noch etwas erleiden, ziehen sie sich verängstigt zurück. 

Jesaja sieht den Knecht Gottes. 
Seine Zunge steht für Recht und Gerechtigkeit ein,
sein Ohr nimmt das Schreien der Unterdrückten auf.
Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Der Einzug Jesu

Heute feiern wir den Palmsonntag. Mit ihm beginnt die Karwoche. Mit Gründonnerstag, Karfreitag, Osternacht und Ostermorgen. Heute hören wir, wie Jesus in Jerusalem einzieht. Einzieht! Das hört sich groß an. Aber Jesus reitet nicht mit einer Kohorte ein. Das königliche Ross ist nicht sein Reittier. Ein Esel ist’s – das Tier, das Lasten trägt, unentwegt, über Stock und Stein. Die Leute, die das sehen, reißen Palmzweige herunter und legen ihre Klamotten auf den Weg. Sie rufen die Worte der Verheißung: Hosianna, dem Sohn Davids! Hosianna! Hochgelobt sei, der da kommt, im Namen des Herren! Wir singen das beim Abendmahl. 
Es kommt – ein Knecht. Der Knecht Gottes. Der Evangelist hat Jesus die Züge des Knechtes Gottes gegeben. Ihm ist eine Zunge gegeben, die Müden aufzurichten, Schuldige freizusprechen und den Mächtigen die Unschuld zu nehmen. Ihm ist ein Ohr gegeben, das leise Weinen, verstummte Stimmen, verlorene Hoffnungen zu hören. Er geht seinen Weg in das Leiden, in das Leiden der Menschen.

Von dem Knecht Gottes heißt es in dem von Jesaja überlieferten Lied:

Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der Herr hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde.

Ich sehe da Jesus vor mir. Er hält stand. Vor dem Hohen Rat, vor Pilatus. Vor den Spöttern, den Hetzern. Vor den Gleichgültigen, den Enttäuschten. Er tut das auch für mich. 

Hoffnungslieder! Die suche ich. Die will ich singen. Lieder, die mutig sind!

Ein Morgenlied

Das Lied von dem Knecht hat Eingang gefunden in unser Gesangbuch. Eine wundersame Wendung deutet sich an: Ich bekomme die Zunge, müde Menschen aufzurichten. Ich bekomme das Ohr, eine neue Welt zu hören. Ich werde nicht zuschanden!
Das hat Jochen Klepper,  1903 geboren, 1938 in ein Morgenlied gefasst:

„Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen, führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.“

Angst und Klage schweigen. Jochen Klepper formuliert: „Das Wort der ewgen Treue, die Gott uns Menschen schwört, erfahre ich aufs Neue so, wie ein Jünger hört“
Da ist es wieder, das Bild von dem hörenden Jünger!

Wir wissen sogar den Tag, an dem das Lied entstanden ist. Es ist der 12. April 1938. Jochen Klepper bezieht sich auf die Tageslosung dieses Tages:

Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, dass ich höre wie ein Jünger. Der Herr hat mir das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und gehe nicht zurück. Denn ich weiß daß ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht. (Jes 50,4–8)

Das ist unser Predigttext!
Klepper vertraut seinem Tagebuch an:

„Weicher, glänzender Tag. Meine kleinen Osterbesorgungen für Mutter, Frau und Töchter. In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön. […] Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, 4.5.6.7.8, die Worte, die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren.“

Wenn Worte nicht mehr aus dem Ohr gehen (wir nennen sie auch Ohrwürmer), dann ist das Ohr hellwach. So hellwach, dass die vielen anderen Stimmen und Stimmungen, Töne und Misstöne sich nicht mehr dazwischen drängen können.
Ich höre Gottes Zusage, sein schöpferisches Wort, ich sehe sein – Licht!
Es war eine gute Idee, das Lied vom Knecht Gottes in ein Morgenlied zu verwandeln. Es lässt sich sogar noch – oder schon - am Abend singen. Ich werde geweckt! Mit Gottes Wort. 

 „Er will mich früh umhüllen mit seinem Wort und Licht,
verheißen und erfüllen, damit mir nichts gebricht …“

Im Knecht-Gottes-Lied heißt es:

Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Lasst uns zusammen vortreten! 
Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! 
Siehe, Gott der Herr hilft mir; wer will mich verdammen? 
Siehe, sie alle werden wie ein Kleid zerfallen, Motten werden sie fressen.

Hoffnungslieder! Wir singen sie! Lieder, die mutig machen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Manfred Wussow

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Umbrüche und Aufbrüche tauchen überall auf. Meistens verunsichernd und angstbesetzt. Die Gesellschaft driftet auseinander. In dieser Entwicklung steht die Kirchengemeinde mittendrin. Aber sie ist sehr mit sich, ihren Strukturen und Finanzen beschäftigt. Leuchtturm und Refugium ist sie nicht und traut es sich auch nicht zu.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Text! Die vielen Zugänge! Die vielen Geschichten im Hintergrund!  Ein besonderer Mensch ist da für mich Jochen Klepper mit seinem Morgenlied. Aber der Propagandist der 20er Jahre fügt sich ein, wenn auch nicht freiwillig

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Der Text, überhaupt die Knecht Gottes Lieder, werden mich weiter begleiten. So manche Linie habe ich noch nicht ausgezogen. Ich möchte am liebsten mit der Gemeinde selber ein Hoffnungslied schreiben! Die Aufgabe, auch mit den Menschen außerhalb der Gemeinde „Hoffnungen“ auf die Spur zu kommen, gehört zum „Evangelium“ des Propheten.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Predigtcoach gesellt sich als Gesprächspartner dazu und übernimmt die Rolle des „Erstlesers“. Die An- und Rückfragen habe ich abgewogen und so gut es mir möglich war in der „letzten“ Fassung der Predigt berücksichtigt. Der „Erstleser“ hat die Funktion übernommen, für die Gemeinde zu sprechen, die die Predigt noch nicht gehört hat. Das ist ein tolles Unterfangen. DANKE!

Perikope
13.04.2025
50,4-9