I
Auch ein Wolf kann Kreide fressen und freundlich locken. Ihr aber, liebe Schwestern und Brüder, Ihr werdet Seine Stimme ‚in, mit und unter‘ den vielen erkennen. Denn in der Kraft seines Geistes sind eure Ohren geöffnet. Was ist die Gemeinde Jesu anderes als die Versammlung der ‚heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören‘ (M. Luther)!?
II
In Italien schwärmt man noch heute von ihm, dem florentinischen Opernsänger Mario del Monaco. Man erzählt, dieser Sänger habe selten richtig klar gesungen. Er schummelte wohl beim ‚Hohen C‘, er schluchzte, ja, er schrie. Aber der Klang seiner Stimme war mitreißend: ‚Esultate‘- ‚Erhebt euch! Jubelt!‘, so jubelte er selbst als siegreicher Feldherr Othello in Verdis Oper. Eine Stimme in einem – Leib, einem sichtbaren, fühlenden, verletzbaren Leib.
Nicht umsonst sagt man im Heimatland des ‚bel canto‘: ‚In voce veritas‘ – ‚In der Stimme liegt (die) Wahrheit‘. Sie verbindet den Sänger mit seinen Zuhörern, sie öffnet ihre Ohren, und aus einer Masse werden – Menschen aus Fleisch und Blut. So flüchtig sie ist, – eben noch ganz nah, nun ist sie verklungen –, das Herz hüpft schneller. Gewiss, Stimmen können uns auch ‚verfolgen‘, zum lästigen Ohrwurm werden oder wahnhafte und verrückte Befehle erteilen. Das ist ihr Doppelgesicht: Sie ziehen an, sie stoßen ab. Sie stellen Gemeinschaft her – oder verhindern sie.
III
Sie haben es schon bemerkt, liebe Gemeinde. An diesem Sonntag der Osterzeit führt uns das Evangelium auf ein buchstäblich ‚an-sprechendes‘ und hörendes Feld. ‚Ich bin der gute Hirte‘, verspricht Jesus in einem klangvollen Bildwort, ‚meine Schafe hören meine Stimme…' , um dann einen seine Jünger verstörenden, seinen Abschied ankündigenden Akzent zu setzen. Er wird ‚weggehen‘ (16,7), und das sei auch ‚gut‘ so: ‚Ich lasse mein Leben für die Schafe und ich gebe ihnen das ewige Leben‘.
Ich kann oft im Leben weghören oder über-, nicht hinhören, aber im Prinzip kann ich meine Ohren nicht verschließen. Hier spricht jemand aus einer innigen Beziehung des einander Kennens. Ein Ruf! Ein Heute (Hebr 3,15)! Er weiß deinen und meinen Namen, und du kennst ihn, und er wird seine Lebendigkeit dir zugutekommen lassen. Ja, der Evangelist steigert diese Zusage. Daran erkennst du ihn als den ‚guten Hirten‘, dass er ein ‚Leibbürge‘ (E. Levinas) ist, sich dir verbindet und nicht Reißaus nimmt, wenn der Dieb kommt. Jesus, der auf dem Weg zum Kreuz ist, er steht für seine ‚Freunde‘ (15, 13) ein und wird sie mit dem schöpferischen Atem seines Lebens behauchen.
IV
Ich kann die Ohren nicht verschließen, auch wenn mit den Jahren mein Hörvermögen nachlässt und ich immer mehr um ein ‚hörendes Herz‘ (1.Kön.3, 12) bitte: Die Worte Jesu treten nahe, verwickeln, lassen ‚rätseln‘ (V.6) – ‚sie verstanden aber nicht, was er ihnen damit sagte‘. Seine Rede geht tief ins Herz und scheidet die, die mit ihr konfrontiert werden. Verletzt sie eine Grenze? Geht sie zu weit? Das 10. Kapitel des Johannesevangeliums stellt die sog. Hirtenrede in einen konfliktreichen Zusammenhang. Jesu Zeugnis über sich selbst findet Glauben, ja, aber er findet auch Skepsis, Widerspruch, ‚Ent-setzen‘. Im Anspruchsraum seiner Rede gibt es gegenseitiges Erkennen, aber auch aggressives Unverständnis angesichts dieser ‚Anmaßung‘: ‚Er hat einen bösen Geist und ist von Sinnen. Was hört ihr ihm zu?‘, so heißt es im Kreis der Hörer, die vielleicht weghören wollen und eben darum besonders gut zuhören.
Eine Stimme ist einzigartig, so einzigartig wie das Gesicht eines Menschen. Sie ist so individuell, daß wir trotz aller Imitationskünste niemals die Stimme eines anderen in ihrem Tonfall, in ihrem Timbre, in Wärme und Kälte, ‚die Musik hinter den Worten‘ (F. Nietzsche) nachahmen können… Aber, so fragen manche: Könnte nicht eine Stimme verstellt, sozusagen von innen besetzt sein, ‚eine hohle und nichtige Geisterstimme‘, und der ‚Wolf‘ (Mt 7,15) aus ihm sprechen? ‚Macht auf ihr lieben Kinder, hier ist euer Mütterlein…‘ . Man muss schon sehr geübt sein mit den Ohren des Leibes und denen des Herzens, ein Bauchgefühl gleichsam für Unter- und Zwischentöne entwickelt haben.
V
Auch ein Wolf kann zum Krämer gehen, Kreide fressen und freundlich säuseln. Mit dem Grimmschen Märchen ist uns Schäfchen ja eine gründliche Hörübung in geistlicher Urteilskraft und Vorsicht, ja, ein tiefes Misstrauen angeraten. Immer fragen: Was will der mit seinen ‚cremigen‘ Worten von Dir? Welches Begehren spricht aus ihm? Die Parolen der Werbung, die Narrative der Politiker – ‚Wahlkampfversprechen‘ könnte das Unwort des Jahres werden – und leider auch unser kirchliches Reden bestätigen oft genug den Verdacht: Es geht um Stimmenfang, um Überreden und ‚Ver-Führen‘.
Wir nach Leben, Trost, Geborgenheit, eben nach Gott Verlangenden sind stets Umworbene, und oft machen wir dicht, weil wir spüren: Kein Kontakt. Dieser Redner ‚kennt‘ uns nicht und will uns auch nicht kennenlernen. Er will keine Nähe, denn Nähe macht verletzlich. Jesu Rede, dieses liebkosende, Schutz ‚in allen Nöten‘ versprechende Wort, bringt die Problematik auf den Punkt. Wie das Gesicht kann sich auch die Stimme maskieren.
Gute Hirten – schlechte Hirten. Bereits im Alten Testament wird um das Kriterium gerungen: ‚Weh den Hirten Israels, die sich selbst geweidet haben‘ (Ez 34, 2). Wie kann man die Stimmen, wie kann man die Geister scheiden? Die Propheten waren skeptisch: Jetzt, da Menschen versagt haben, wird Gott selbst ihr Hirte sein und seine Schafe zurückfordern.
VI
Ich denke noch einmal an den Bericht über den florentinischen Heldentenor. ‚In voce veritas‘, sagt man in Italien. Eine Stimme zeigt das ‚Gewisse Etwas‘, dieses schwer zu beschreibende Besondere an, was einem Menschen Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit gibt – Wärme und Kraft, etwas Eigenes, was doch verbindet. Mario del Monaco sang angeblich niemals klar, er schluchzte, er schummelte in den Höhenlagen. Dennoch hörten ihm die Menschen zu, ergriffen, verzaubert, ‚verwandelt‘, wohl weil sie spürten: Seine Stimme gibt den Worten einen Leib, verletzbar, verwundbar; sie ist Begegnung, Appell, und gerade das Unvollkommene, das Poröse, ihre ‚Wunden‘ beziehen uns mit ein und lassen uns teilhaben an dieser Musik und formen in diesem Augenblick einen ‚Herden- Körper‘. Auch wenn alte Platten mit ihren Kratzern bei den Jungen wieder begehrt sind, die CD- und DVD- und Streaming-Kultur sucht den technisch und ästhetisch perfekten Gesang. Das weiß man gewiss auch in Italien zu schätzen, aber wichtiger scheint dort für viele zu sein: Dieser bebende, sich hingebende, vibrierende, ja, ‚freimütige‘ (Joh 7,13) Gesangskörper, der sich den Zuhörern schenkt. Auch der Teufel, der ‚Vater der Lüge‘ (8,44) kann fehlerlos, perfekt ‚vor-singen‘ und singt doch eisig kalt – Worte ohne Musik, Worte ohne Liebe. Ein lebendiger, leibhaftiger Mensch aber trägt nicht einfach vor. Auch auf die Gefahr hin, sich bloßzustellen, beschimpft oder verjagt zu werden: Er ist Gesang, er ist seine Arie, sein Lied, sein Ton und wird mit ihm eins: ‚Esultate‘- ‚Jubelt‘. Bei einem ‚concerto all’aperto‘ auf den Plätzen oder in den Arenen Italiens kann man es immer wieder erleben.
VII
‚Meine Schafe hören meine Stimme‘ – ‚In der Stimme liegt Wahrheit‘. An diesem Sonntag der Osterzeit führt uns das Evangelium auf ein ‚an-sprechendes‘ Feld. Die Ohren sind geöffnet, und gerade, indem wir hinhören, uns ‚gehorsam‘ einüben in das sensible, die Unter- und Zwischentöne wahrnehmende Hören, treten wir in eine spannende, anspannende Situation: Beruhigung und Geborgenheit, Streit und ‚Wachheit‘, Entsetzen und Faszination umgeben uns gleichermaßen. Johannes wirbt um Glauben an Jesus, den Hirten, der die Seinen ruft und sich zugleich von ihnen verabschiedet. Der ‚nahe‘ ist und bleibt und doch auch ‚fern‘ (Jer 23,23).
Nicht so sehr, was Jesus gesagt hat, seine weisen und klugen Reden, sind für den Evangelisten wohl das Entscheidende, sondern dass er ruft, sich uns zuwendet, ja, aussetzt, seine Hörer ‚herzlich‘ einbezieht und bei Namen nennt, ohne sie zu beschlagnahmen: ‚Die Stimme gibt dem Namen Fleisch, befreit das Wort vom Tod‘ (M. Serres). ‚Maria‘, wird der Christus-Sieger am Ostermorgen rufen, und sie antwortet: ‚Rabbuni' (20, 16). Ja, die Musik hinter den Worten‘: Ob ein Ruf zum Leben führt, ob er ‚gut‘ für mich ist, ob ich ihm ‚gleichfalls mit freudigen Schritten‘ (J.S. Bach) folge, entscheidet sich daran, wie einer seine Rede ‚bricht‘, seine Wunden zeigt (20, 27) und mir Raum zu meiner Antwort lässt. Im ‚Königtum‘ (18, 37) des guten Hirten sind die Seinen nicht gefangen, sondern Freigelassene, Freigegebene im Geist in der Bindung geschwisterlicher Liebe: ‚Geh hin zu meinen Brüdern…‘ (20, 17). ‚Ich gebe euch den Lebensatem. Ich nehme euch nicht in Haft.‘
VIII
Heute spricht man von ‚Schwarmintelligenz‘ – gemeinsam ist man schlauer. Es ist die Klugheit, besser die geistliche Urteilskraft derer, die auch ohne eine zentrale Befehlsinstanz spüren und wissen, was zu tun ist. Die Herde Gottes ist fähig, in geschwisterlicher Beratung im Hören auf sein Wort, ohne Schere im Kopf, ohne Angst vor einem ‚Wahrheitsministerium‘ oder einer ‚Meldestelle‘, mündig zu urteilen. Wir erfahren dieses Wunder in der Gemeinde vor Ort immer wieder: Ihr, wir ‚heiligen Gläubigen und Schäflein‘, wir werden Seine Stimme in, mit und unter den vielen heraushören. Denn er spricht ‚in der Wüste‘ (1,23) - menschlich, schutzlos, frei: Esultate – Erhebt euch, ihr Schäflein – ‚heute‘.
Keiner kann Jesu Stimme ersetzen oder nachahmen. Jedes Schäflein darf seine je eigene Stimme erheben, schluchzend, jauchzend, lachend und weinend, in den Höhenlagen oder Tiefen auch `mal geschummelt, am besten mit einem fröhlichen Osterlied: ‚Auf, auf mein Herz, mit Freuden / nimm wahr, was heut‘ geschieht‘.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Der Sonntag Misericordias Domini gehört zur sog. österlichen Freudenzeit: ‚Esultate, Jubelt‘ -‚Auf, auf, mein Herz mit Freuden‘ (eg 112 ). Seine Lieder und Lesungen bezeugen die Auferstehung Jesu mit Hilfe des vertrauten Bild- bzw. Ich-bin-Wortes Jesu: ‚Ich bin der gute Hirte‘. Die Predigt möchte die nicht zuletzt musikalisch gehobene Stimmung im Durchschreiten einer im Johannesevangelium markanten Dissonanz bewähren.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die homiletische Herausforderung (und das Abenteuer) bestand für mich darum darin, zu versuchen, die beliebte, ‚bekannte-allzubekannte‘ Hirten-Metapher in den konflikthaften Kontext von Joh 10 zu stellen: Auf Jesu Stimme, auf seinen Anspruch als Person, reagieren die Jünger mit Unverständnis. Die Zuhörer sind gespalten, durch seine Gegner wird Jesus sogar dämonisiert. Ich versuche, diesen Kontext zu berücksichtigen mit dem (Märchen-) Motiv der verstellten Stimme.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Stimmen, oft medial verstärkt, dringen viele auf uns ein. Sie (ebenso wie die ‚Geister‘) unterscheiden zu können, bedarf es der viel beschworenen ‚geistlichen Urteilskraft‘. Ist es ‚eine hohle und nichtige Geisterstimme, die aus uns selber kommt‘ (Th. Mann), oder die ‚viva vox euangelii‘? Daß gerade die ‚gebrochene‘ Stimme eines Sängers helfen kann, hier ein Kriterium für den Prediger und die Gemeinde zumindest zu erahnen, gar zu finden, zeigt für mich das Beispiel Mario del Monacos.