Auf eigene Füße gestellt!
Auf eigene Füße gestellt - vielleicht zum ersten Mal im Leben, jedenfalls zum ersten Mal erfolgreich!!
Für den Gelähmten aus der Apostelgeschichte eine vielschichtige Erfahrung. Von Geburt an gelähmt hat er nie Laufen gelernt. Jetzt steht er unvermittelt auf seinen eigenen Füßen. Was mag ihm alles durch den Kopf gegangen sein in dem Moment als Petrus ihn bittet, ihn und seinen Kollegen Johannes anzusehen? Ob er mit dem Namen Jesus von Nazareth etwas anfangen konnte? Es klingt fast so. Warum sonst sollte er auf die Idee gekommen sein, seine Heilung mit Gott in Verbindung zu bringen? Vielleicht hatte er schon von Jesus gehört. Sicher hatten doch Passanten an der Tempelpforte erzählt: ‚Wir haben diesen Nazarener gesehen. Wie der redet! Und was der alles kann!‘
Jedenfalls hat der Gelähmte verstanden, woher diese unfassbare Wandlung seiner Lebensgeschichte kommt. Ich vermute, dass er Petrus und Johannes gekannt hat, jedenfalls so, wie man Leute kennt, die jeden Tag an einem vorbeikommen. Man trifft sich vielleicht auf dem Weg zur Arbeit, beim Joggen, beim Spaziergang mit dem Hund, oder an der Kirchentür. Für den namenlosen Gelähmten geschieht in der Begegnung mit den flüchtigen Bekannten eröffnen ihm die Begegnung mit etwas ganz Neues. In Petrus und Johannes begegnet er Jesus von Nazareth. Und das hat nie erwartete Folgen für seinen weiteren Lebensweg.
Beim Anfang anfangen…
Offenbar hatte der Mann einen recht schwierigen Start ins Leben. Wie mögen die Eltern herausgefunden haben, dass mit ihrem Jungen etwas nicht stimmt. Kinderärzte gab es ja Anfang des 1. Jahrhunderts noch nicht, die eine entsprechende Diagnose hätten stellen können. Möglich, dass das Baby apathisch in der Wiege lag. Vielleicht hat es sich wenig bewegt, spielte nicht wie andere Kinder, interessiert mit seinen Füßchen. Vielleicht fiel die Behinderung aber auch erst viel später auf, als das Kind gar nicht anfangen wollte, sich irgendwo hochzuziehen. Sicher war das Entsetzen groß, wenn er jedes Mal in sich zusammensank, wenn die Eltern versuchten, ihren kleinen Sohn auf die Füße zu stellen. Es gab keine Frühförderung, Rollstühle waren noch nicht erfunden. Der Junge hatte keinerlei berufliche Perspektiven. Vielleicht war seine Familie sogar Schuldzuweisungen ausgesetzt? Viren und Bakterien waren natürlich noch lange nicht entdeckt. Krankheiten führte man darauf zurück, dass der Kranke oder jemand aus der Familie gesündigt haben müsste.
Verzweiflung machte sich breit, es bleibt dem jungen Mann nichts anderes übrig, als zu betteln. Immerhin trägt das Sozialgefüge! Es gibt Freunde, die ihn regelmäßig vor eine Tempelpforte tragen. Vor eine besondere Tür, die „Schöne Pforte". Man vermutet, dass dieses Tor, anders als die anderen, mit leuchtendem Kupfer beschlagen war. Vielleicht kamen dort besonders viele Menschen vorbei und es war insofern ein guter Platz. Und genau dort findet diese folgenreiche Begegnung statt. Hier kommen jetzt Petrus und Johannes ins Spiel, zwei Männer aus dem Kreis der Jesusanhänger. Sie kommen zur gewohnten Zeit zum Abendgebet in den Tempel wie jeden Tag.
Erinnerte Zeit
Die Geschichte ist, wie die meisten Geschichten, die wir uns erzählen, eine Erinnerungsgeschichte. Solche Geschichten leben vom: „Weißt du noch, damals?“ Oder: „Stell dir bloß mal vor, was ich erlebt habe!“ Das Geschehen liegt eine ganze Weile zurück. Zu der Zeit, als die Geschichte erzählt wird, gibt es den Tempel schon gar nicht mehr. Das ganze Tempelgelände und die Stadt Jerusalem liegen nach drei Jahren Krieg in Schutt und Asche, das Land steht unter Römischer Besatzung. Der Erzähler der Apostelgeschichte will erklären, wie es trotz allem weitergeht. Die Botschaft Jesu vom Frieden und der Liebe Gottes ist eben nicht mit untergegangen. Sie läuft weiter! Petrus und Johannes sind wichtige Personen in diesem Zusammenhang. Ihr eigenes Gottvertrauen bewirkt die entscheidende Wandlung im Leben des Gelähmten. Dabei hatte die Geschichte so alltäglich begonnen.
„Sieh mich an!“
Bettler sitzen auch heute häufig an Kirchentüren in den Innenstädten unserer Großstädte. Viele kommen da vorbei auf dem Weg zum Gottesdienst, einem Gebet „zwischendurch“ oder einer Besichtigung. Von diesen Menschen wird offenbar erwartet, dass sie besonders offene Herzen und Hände haben. Man nennt es allerdings nicht mehr Almosen, um die dort gebeten wird. „Almosen“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet soviel wie Barmherzigkeit und Mitleid üben. Auch Worte, die nicht mehr so gern gebraucht werden. Man spricht lieber von Spendenaufrufen, aber sie sind im Grunde nichts anderes. Ich denke an Fernsehaktionen oder Postwurfsendungen, man nennt es bloß anders: Aktion vielleicht, oder „Hand in Hand für Norddeutschland“.
Auf die Bitte um eine Spende antwortet Petrus etwas Ungewöhnliches: „Sieh uns an!“ Er versucht, einen Kontakt herzustellen, und tatsächlich: Das gelingt! Wie ungewöhnlich das ist, wird mir klar als einem Artikel in der Hamburger Obdachlosenzeitung „Hinz und Kunz“ lese, in dem eine ehemals obdachlose Frau ihre Geschichte erzählt:
„Am schlimmsten war,“ sagt sie, „dass ich nicht mehr gesehen wurde. Die Allermeisten guckten sogar weg, wenn sie mir was in den Becher geworfen haben, als ob ich ansteckend wäre … und wenn dann einer mit mir gesprochen hat, und wenn‘s bloß ein freundliches ‚Moin‘ war, war das für mich mindestens so viel wert wie das Kleingeld.“
Auch der Bettler in der Geschichte bekommt etwas anderes als Kleingeld. Auch er erlebt Zuwendung, trifft Menschen, die ihn sehen und mit ihm sprechen. „Ich kann dir auch nur das geben, was ich habe“ sagt Petrus, und dann fordert er den Mann auf aufzustehen und umherzugehen. Und tatsächlich, der gerade noch gelähmte Mann steht auf, geht umher, springt, läuft und - er lobt Gott.
Aufgerichtet
Es gibt Zwischenschritte im Heilungsprozess: Am Anfang versagen dem Gelähmten die Beine den Dienst. Seine Füße können ihn nicht tragen. Am Ende erleben wir einen Menschen, der sicheren Stand hat, auf eigenen Füßen steht. Dazwischen: Worte Blicke, Bewegungen, Gesten. Schon der entstandene Kontakt zwischen den drei Männern bewirkt offenbar etwas. Der Gelähmte sitzt ja am Boden, um die anderen anzugucken, muss er also aufblicken. Aufgerichtet und mit dem Blick nach oben kann man freier atmen. Und dann sagt Petrus auch noch: „Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!" Er benennt also die Quelle, aus der er diese Kraft hat: Jesus Christus. Und er ergreift die Hand des Mannes und richtet ihn auf. Er macht ihn gerade. Aufrecht. Die Perspektive ändert sich, die Befindlichkeit seines ganzen Körpers ändert sich. Jahrelang hatte er am Boden hocken müssen, von den vorbei hastenden Menschen konnte er nur die Füße sehen, allenfalls die Beine. Er musste von unten hochgucken, um Gesichter zu erkennen, die wiederum auf ihn herabblickten. Dabei hatte es ja auch während dieser Zeit hilfreiche Menschen gegeben, die dem Gelähmten das geben, was sie können: sie tragen ihn, regelmäßig sogar, Tag für Tag.
Ich vermute, er hatte sich nach so vielen Jahren schon an seine Lage gewöhnt. Und nun begegnen ihm heute die Männer, die das für ihn etwas anderes tun als die Freunde. Sie richten ihn auf! Sie helfen ihm auf die Beine, reichen ihm die Hand, damit er auf eigenen Füßen stehen kann. Es gelingt. Die Füße werden fest. Er steht auf. ‚Fest’ klingt für mich erstmal seltsam, nach: unbeweglich und steif. Aber es ist wohl gemeint, dass die Gelenke nicht mehr weg kicken, der Mann kann stehen, gehen und sogar springen.
Aufrichten
Die Kraft, die den Mann auf eigenen Füßen stehen lässt, ist die Kraft Jesu Christi. Es fühlt sich an, als würde diese Kraft durch Petrus hindurchfließen. So kann sie auch den anderen ergreifen und erfüllen, ihn in Bewegung setzen. Ein recht berühmt gewordenes Buch des Theologen Willi Marxsen trägt den Titel: „Die Sache Jesu geht weiter“. „Sache“ klingt mir irgendwie zu nüchtern, zu theoretisch. Aber die Idee, dass unter den Jesusjüngerinnen und -jüngern die Kraft, der Geist und die Liebe Christi wirken können und lebendig sind, das trifft genau das, was schon die Apostelgeschichte erzählen wollte. Geleitet von dieser Kraft kann Petrus den Gelähmten aufrichten.
Ich denke, im Aufrichten ist die ganze Bandbreite von Neuanfängen enthalten.
Großartig, miterleben zu können, wenn sich jemand befreien kann von den Schatten seiner Vergangenheit; sich aufrichten kann aus dem, was ihn klein gekriegt und kaputt gemacht hat, neue Pläne entwickelt und auf festen Füßen aufbricht. Vielleicht braucht es dazu vor allem eines: als Menschen einander zu sehen, wahrzunehmen. Im Kontakt zu sein, da zu sein.
Ein Gedanke, den ich immer noch am besten beschrieben finde in dem Lied:
„Ich träume eine Kirche“ (Hohes und Tiefes Nr. 197).
„Ich träume eine Kirche, die über Mauern springt, die lacht und weint und segnet und mit den Menschen singt.“
Ich träume eine Kirche, die zum Ort wird, an dem Menschen -vielleicht wieder- lernen können, auf eigenen Füßen zu stehen, zu tanzen und Gott zu loben;
Ein Ort der Begegnung, der Hoffnung und des Friedens. Einander aufrichten, trösten und feiern.
Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe die Inselkirchengemeinde auf Juist vor Augen. Einheimische sind um diese Zeit noch intensiv mit der Betreuung ihrer Gäste beschäftigt, sodass die Gemeinde überwiegend aus Urlauberinnen und Urlaubern besteht. Es ist davon auszugehen, dass vorwiegend Gäste auf der Insel sind, die nicht auf Schulferien angewiesen sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Geschichte selbst mit ihrem Beziehungsgeflecht.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Frage nach der Auswirkung der historischen Situation auf die Erzählung einer Geschichte, einschließlich dergroßen kulturellen Unterschiede zur Gegenwart.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine (hoffentlich) größere sprachliche Klarheit.