„Singet dem Herrn ein neues Lied; denn er tut Wunder“, Predigt über Psalm 98, 1 von Konrad Stock
98,1
I
„Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn“.
  Dieses Lied sang die wunderbare Zarah Leander 1942 in dem Film „Die große Liebe“.
  Im Schlager ist sie noch zu Hause: die Hoffnung auf ein Wunder.
  Im Kino ist sie noch zu Hause: die Sehnsucht nach einem Wunder.
  Und in der BILD-Zeitung ist sie noch zu Hause: die Rede vom Wunder, etwa vom „Wunder von Lengede“, als im Oktober 1963 nach einem schweren Grubenunglück achtzehn Bergleute nach langen bangen Tagen gerettet wurden und als die ganze Republik sich sagte: Gott hat in Lengede mitgebohrt!
  
  Und erst recht spricht der christliche Glaube vom Wunder.
  Leipzig, Oktober 1989. Aus dem montäglichen Friedensgebet in der Nikolai-Kirche gehen die Menschen mit Kerzen und Liedern und Gebeten auf die Straße. Zehntausende schließen sich ihnen an und ziehen über die Leipziger Ringstraßen mit dem Ruf: Keine Gewalt! Vorbei an kampfbereiten Soldaten und an schußbereiten Panzern, die nur auf ihren Einsatzbefehl warten. Und die Staatsgewalt, die auf alles vorbereitet war, nur nicht auf Kerzen, Lieder und Gebete: die Staatsgewalt weicht. Sie beginnt mit den Menschen zu sprechen und zu verhandeln. Die friedliche Revolution breitet sich aus. In seinen Erinnerungen schreibt der Pfarrer der Nikolai-Kirche: Hier hat sich ein Wunder biblischen Ausmaßes ereignet.
  
  Die große Liebe – die große Rettung – die große Wende: Beispiele für ein Wunder, das ganz und gar unerwartet kommt und das das scheinbar Unmögliche möglich und wirklich werden lässt. Beispiele für etwas sehr sehr Seltenes! Oder vielleicht Beispiele für bloße Wünsche und für bloße Träume? Die große Liebe – die große Rettung – die große Wende: Beispiele für Wunder, die Gott tut?
II
„Wunder“: das ist jedenfalls ein Grundwort der Bibel.
  Die Bibel ist voll von Wundererzählungen und von Wundergeschichten. Das „Haus Israel“ weiß sich gegründet durch Gotteswunder wie die Zeugung und die Geburt Isaaks im hochbetagten Alter Abrahams und Saras und wie den sicheren Zug des „Hauses Israel“ durchs Rote Meer trockenen Fusses. Der Christus Jesus bekräftigt seine Frohbotschaft durch wundersame Heilungen, die Kranke, Blinde, Lahme, Einsame aus ihrem Elend retten. Dem entspricht es, dass die Glaubensgemeinschaft Gott die Eigenschaft des Wunderbaren zuspricht, bis heute und bis in unser Gesangbuch hinein:
  
  „Wunderbarer König, Herrscher von uns allen, lass dir unser Lob gefallen“ dichtet Joachim Neander im Jahr 1680. Wenn also Zarah Leander singt: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn, dann hat dieses Lied vielleicht nicht die großartige sprachliche Kraft wie der 98. Psalm oder wie Joachim Neanders Kirchenlied; aber es bringt doch etwas von der Gewissheit zum Ausdruck, die dem Glauben eigentümlich ist.
  
  Aber nun werden wir uns nicht verhehlen, dass wir es mit den Wundererzählungen und mit den Wundergeschichten der Bibel manchmal nicht ganz einfach haben. Im Gespräch mit den Kindern und mit den Enkelkindern fällt es uns vielleicht nicht so leicht, das biblische Grundwort „Wunder“ plausibel zu machen. In der Unterhaltung mit den Freunden und den Bekannten und den Nachbarn stoßen wir vielleicht auf Skepsis und auf Zweifel daran, dass es bei den biblischen Wundern mit rechten Dingen zugehe. In der gebildeten Öffentlichkeit räumen wir natürlich ein, dass es unerwartete und glückliche Erfolge gibt: etwa bei einer langwierigen Behandlung einer Krankheit oder bei der Erfindung eines neuen Medikaments. Aber für diese unerwarteten und glücklichen Erfolge werden wir das Wort „Wunder“ doch wohl nur in einem übertragenen Sinne verwenden. Die moderne Gesellschaft scheint es uns nicht leicht zu machen, das schlichte und elementare und überzeugte Bekenntnis des 98. Psalms zu den Gotteswundern mitzusprechen und nachzusprechen. Und wer hier und heute wachen Sinnes lebt, wird die Skepsis und den Zweifel in sich selber finden.
  
  Können wir uns dieses Bekenntnis erschließen? Können wir einstimmen in das „neue Lied“?
  Drei Schritte wollen wir gehen, um die Gotteswunder – die Wunder, die Gott tut – in unserem eigenen Leben in der modernen Gesellschaft wahrzunehmen.
III
Ein erster Schritt.
  
  Vor fünf Monaten kam in meiner Familie ein Enkelsohn zur Welt. Ich habe mich darüber mit einem Freund am Telefon unterhalten, und mein Freund sagte: es ist doch immer wieder ein Wunder!
  Was ist das Wunder, was ist das Gotteswunder an einem neugeborenen Kind?
  „Empfangen und geboren / vom Weibe wunderbar“ - heißt es in einem Gedicht von Matthias Claudius.
  Wir können heute sehr viel mehr als Matthias Claudius seinerzeit über die Entstehung menschlichen Lebens wissen. Wir können wissen, wie eine unendlich kleine Samenzelle und eine kaum sichtbare Eizelle verschmelzen. Wir können wissen, wie eine befruchtete Eizelle sich in der Gebärmutter einnistet und wie sie dort kontinuierlich heranreift. Wir können wissen, wie sich hier die Gliedmaßen und die inneren Organe und der Blutkreislauf und der Kopf und das Gehirn ausbilden. Wir können sehen, wie das neugeborene Kind von allem Anfang an ein individuelles Gesicht trägt. Wir können verfolgen, wie es von allem Anfang an auf die mütterliche Zuwendung reagiert. Wir können wahrnehmen, wie ihm von allem Anfang an die Würde des Menschen eignet, die ihm unantastbar gegeben ist. Alles wie aus dem Nichts heraus! Alles nicht ohne die sexuelle Vereinigung eines Mannes und einer Frau und ihre Lust! Alles nicht ohne den mütterlichen Leib! Und dennoch: alles nicht ohne die schöpferische Gabe menschlichen Lebens, die einem Mann und einer Frau, einem Vater und einer Mutter vorgegeben ist, geschenkt ist, gewährt ist. Das Gotteswunder, das Wunder, das Gott tut, begegnet uns in der Entstehung, in der Bildung, in der Reifung neuen menschlichen Lebens.
  Aber auch sie – die schöpferische Gabe menschlichen Lebens - ist ja nicht einfach selbstverständlich! Auch über die Entstehung menschlichen Lebens auf dieser Erde können wir sehr viel mehr wissen als Matthias Claudius seinerzeit wissen konnte. Alles, was wir darüber wissen können, wird uns ins Staunen versetzen. Dass nach den ungezählten Millionen Jahren tierischen Lebens ein Wesen von der Seinsweise des Menschen entsteht: unglaublich! Dass ein Wesen von der Seinsweise des Menschen ungezählte Sprachen entwickelt: unbegreiflich! Dass ein Wesen von der Seinsweise des Menschen die Musik entdeckt und Klangwelten erschafft, die uns im Innersten berühren und mitreißen können: unerhört! Dass ein Wesen von der Seinsweise des Menschen sich der Freiheit bewusst ist: unvorstellbar! Hier – in diesem Sprung aus dem tierischen Leben in die Seinsweise des Menschen begegnet uns das Gotteswunder, das Wunder, das Gott tut, Gottes schöpferisches Geben. Und wohl dem Menschen, der es sieht und der es versteht und der es achtet und rühmt!
IV
Ein zweiter Schritt.
  
  In Illusionen werden wir uns nicht wiegen wollen. In Illusionen wird uns die Lektüre der Bibel nicht lassen.
  
  Gewiss: in der Geburt eines Kindes, in der schöpferischen Kraft, die uns Menschen gegeben ist, begegnet uns das Wunder, das Gott tut. Aber die Erfahrung lehrt uns doch, wie schwer das Wunder, das Gott tut, zu sehen und zu verstehen und zu achten und zu rühmen ist. Dieses Wunder ist nicht sonnenklar; es ist uns vielmehr verdunkelt und verstellt. Es ist uns verdunkelt und es ist uns verstellt in doppelter Weise!
  
  Das Gotteswunder, das Wunder, das Gott tut, ist uns verdunkelt durch das schwere Leid, das immer wieder ertragen werden muss. Da muss eine Frau ertragen, dass die tiefe Sehnsucht nach einem Kind sich nicht erfüllt. Da muss eine Familie ertragen, dass ein Kind krank oder behindert geboren wird. Da muss ein Land ertragen, dass die Erde bebt – wie jüngst im nördlichen Italien – ; es muss ertragen, dass ein Tsunami die leichtsinnig ans Meer gebauten Atomkraftwerke zerstört – wie vor einem Jahr in Japan. Da müssen wir vorbereitet sein auf das Ende des Lebens in dem Prozess des Sterbens. Da müssen alle Kulturen dieser Erde sich dessen bewusst sein, dass irgendwann die Sonne erlischt, die alles Leben auf dieser Erde erwärmt und erleuchtet. Und was ist dann mit dem Wunder der Sprache und was ist dann mit dem Wunder der Musik und was ist dann mit dem Wunder der Freiheit? Aus und vorbei? Als wäre nichts gewesen? Die Zahl der Zeitgenossen, die so denken, nimmt jedenfalls in dieser modernen Gesellschaft gewaltig zu.
  
  Aber nicht genug! Das Gotteswunder, das Wunder, das Gott tut, ist uns vor allem anderen verstellt durch die Erfahrung des Bösen. Die Erfahrung des Bösen – sie zeigt sich ganz schlicht und einfach in der Tatsache, dass wir Menschen fähig sind, einander Leid anzutun. Im kleinen überschaubaren Lebenskreis einer Familie. Vor allem aber und erst recht in den großen Konflikten und in den furchtbaren Kriegen zwischen den Staaten, in die die einzelnen hilflos und machtlos verwickelt sind. Erst recht in der perfekten Organisation der Vernichtung des europäischen Judentums. Erst recht in der Entwicklung einer Waffe, die alle bisher dagewesenen Waffen an Zerstörungskraft übertrifft. In der Erfahrung des Bösen ist das Gotteswunder zwar nicht ausgelöscht; in der Erfahrung des Bösen ist das Gotteswunder allerdings verachtet und verschmäht und verkannt.
   
  Deshalb die große Hoffnung, die uns die Lektüre der Bibel so stark und so bewegend machen will. Deshalb die große Sehnsucht nach einer Zeit, in der Gottes schöpferisches Geben nicht mehr verdunkelt und nicht mehr verstellt ist. Diese Zeit wäre wohl die Zeit des Friedens, des gerechten Friedens. Ist diese Hoffnung und ist diese Sehnsucht nach einer Zeit des gerechten Friedens – wie der große Sigmund Freud gemeint hat – etwa nichts anderes als eine notwendige Illusion? Ist diese Zeit des gerechten Friedens das Wunder, das niemals geschieht?
V
Auf diese Frage antwortet der christliche Glaube in einem dritten Schritt. Der christliche Glaube und alle, die wie schlicht oder wie intensiv auch immer am christlichen Glauben Anteil haben, können auf diese Frage antworten. Sie können auf diese Frage antworten, weil sie sich auf die Wirklichkeit des Glaubens besinnen.
  
  Denn der Glaube ist ja nicht – wer immer am Glauben Anteil hat, weiß es – diese oder jene leere Meinung oder haltlose Vermutung. Der Glaube ist vielmehr – wer immer am Glauben Anteil hat, weiß es – das radikale Grundvertrauen auf Gott. Das radikale Grundvertrauen auf den Gott, der – wie Jochen Klepper sagt – dir zur Seite gehen will und dich himmelan führt.
  
  Dieses radikale Grundvertrauen ist beileibe nicht unerschütterlich. Es leidet an dem oft so schweren Leid, das ein Mensch ertragen muss. Es macht die Erfahrung des Bösen, die uns das Gotteswunder der Schöpfung völlig verstellt.
  
  Und dennoch und trotz alledem: das radikale Grundvertrauen, das der Geist des Christus Jesus entzündet und erweckt, traut es dem „wunderbaren König“ zu, alles Leid und alle Bosheit zu überwinden. Dieses radikale Grundvertrauen findet in der Geschichte schon die Spuren, die Vorzeichen, die Zeichen und Wunder jener schöpferischen Überwindung allen Leids und aller Bosheit. Dieses radikale Grundvertrauen findet angesichts des Leids und angesichts der Bosheit immer wieder Worte des Gebets: Dein Reich komme! Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden! Auf dieses Gotteswunder wartet der Glaube.
VI
„Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehn!“
  Wir sind drei Schritte unterwegs gewesen, um uns das Wunder zu erschließen, das Gott in unserem Leben tut.
  
  Wir haben damit angefangen, das Wunder zu bestaunen, das uns in der glücklichen Geburt eines Kindes begegnet und das uns auf das Wunder der göttlichen Schöpfermacht überhaupt verweist.
  
  Wir wollten allerdings auch ernst nehmen, dass uns das Wunder der göttlichen Schöpfermacht in der Erfahrung des Leids und in der Erfahrung des Bösen zutiefst verdunkelt und verstellt wird.
  Flüchten wir aus dieser Erfahrung in die Traumwelt des Schlagers und des Kinos? Nein! Wir nehmen unsere Zuflucht im radikalen Grundvertrauen auf den Gott, dessen kommendes Reich das Wunder der Schöpfung vollenden wird. Ihm singt die Christenheit aller Zeiten und aller Räume zusammen mit dem Hause Israel das neue Lied. Amen.
   
Perikope