„Was wirklich von uns erwartet wird“ - Predigt über Offenbarung 2, 8-11 von Martin Hein
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„Was wirklich von uns erwartet wird“ - Predigt über Offenbarung 2, 8-11 von Martin Hein

„Was wirklich von uns erwartet wird“
"Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben", liebe Gemeinde. Bei diesem Satz leben Erinnerungen in mir auf: Oft habe ich über diesen einen Vers gepredigt, wenn es Abschied zu nehmen galt von einem Menschen, der gestorben war. Kam während meines Besuchs bei den Angehörigen die Frage auf, welches Wort aus der Bibel denn als Leit­spruch über dem Trauergottesdienst stehen sollte, dann war es oft dieses.
"Getreu bis an den Tod" – davon konnten die Hinterbliebenen erzählen: von der Treue, ein Leben über Jahrzehnte hin gemeinsam in der Ehe zu führen, von der Treue, im Berufsleben unbe­stechlich und geradlinig seinen Weg zu gehen, auch von der Treue zu anderen Menschen, die nicht im Stich ge­lassen wurden, wenn es ihnen schlecht ging.
Stets schwang die Erwartung mit, dass solch ein Leben seinen Sinn hatte, dass es gut war. Jetzt müsse dieses Leben bei Gott seine Krönung erfahren, jen­seits der Grenze unseres Sterbens. Es kann doch nicht bedeutungslos gewesen sein, das Leben treu zu führen, oder? So et­was muss Gott doch belohnen!
Ich habe mich nicht gescheut, diese Er­wartungen aufzunehmen. Warum sollte eine Lebensfüh­rung, die von Gewissenhaftigkeit und Zuverlässigkeit ge­prägt war, keinen Wert darstellen? Und doch bereitet es mir Schwierigkeiten, daraus einen Anspruch für das Jenseits abzu­leiten – so als könne Gott gar nicht mehr anders, als automatisch die entsprechenden Konsequenzen aus unserem Leben in dieser Welt zu ziehen: Wer hier treu und brav gelebt hat, den wird Gott entsprechend empfangen.
Gott aber ist größer. Das haben wir verlernt. Er ist auch größer als die guten Maßstäbe, nach denen wir hier unser Leben ausrichten. Wenn es um Gott geht, können wir unser Leben – wie immer es auch sein mag, ob aus unserer Sicht gelungen oder notvoll und leidvoll erlit­ten –  allein seiner Gnade anvertrauen. Wir drücken damit aus. dass Gott frei ist, aus unserem gelebten Leben das zu machen, was vor ihm Bestand hat. Damit wird ein Leben in Treue nicht abgewertet, aber es bleibt gewahrt, dass Gott der Herr über Leben, Tod und ewi­ges Leben ist.
Freilich ist das nicht das einzige Mißverständnis, das sich an unser Wort aus der Offenbarung rankt. "Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben" – dieser fett gedruckte Vers in unserer Lutherbibel steht auf vielen Denkmälern, die an die Opfer der vergangenen Kriege erinnern. Treue, Tod, Krone des Lebens – all diese Worte ließen sich ja scheinbar bruch­los übertragen auf ein Nationalbewusstsein mit Werten wie Treue zur Heimat und Tod für das Vaterland – nicht nur bei uns in Deutschland, aber hier besonders!
All die Kriege mit ihren unendlichen Menschenopfern sollten so ihren höheren Sinn bekommen, wo eigentlich nur Sinnlosigkeit herrschte. Gott wurde auf diese Weise für die eigenen Zwecke vereinnahmt. Liebe zur Heimat mag ein Wert sein, über den ich gar nicht streiten will, aber wehe, er wird mit dem Tod in Verbindung gebracht – und über den Tod hinaus mit Gott.
Wir müssen uns gerade als Deutsche immer wieder daran erinnern lassen, wie viel Leid über andere wie über uns her­eingebrochen ist aus dieser Überhöhung von Treue und Tod für das Vaterland. Der Vers aus der Offenbarung hat böse Wirkungen gehabt! Als sei Gott nur mit uns, hat er dafür herhalten müssen, unsere Kriege zu rechtfertigen.
Das sage ich angesichts der Tatsache, dass in dem Abschnitt aus der Offenbarung für diesen Volkstrauertag noch ein weiteres Wort zu hören ist, das eine ebenso bittere und schreckliche Wirkungsgeschichte ge­habt hat: nämlich das Wort von der "Synagoge des Satans".
Vor wenigen Tagen haben wir des 9. Novembers 1938 gedacht – jenes Tages, als in Deutschland die Syn­agogen zerstört wurden. Deutsche Vaterlandstreue bis zum Tod und christliche Abgrenzung von der jüdischen Syn­agoge gingen eine unheilige Allianz ein, deren Folgen wir kennen und die wir nicht einfach abschütteln können. Wieviel Unmenschlichkeit glaubte sich herleiten zu dürfen aus biblischen Worten! Das einzugestehen, fällt uns schwer. Der Volkstrauertag ist nicht nur ein Gedenktag an das millionenfach began­gene und später erlittene Unrecht, er erinnert auch daran, was werden kann, wenn Gott für uns nicht mehr Gott bleibt, sondern für unsere eigenen, sehr menschli­chen Ziele verzweckt wird.
Wie aber kommen wir aus all den Mißverständnissen heraus, die sich mit diesem Tag und dem Wort des Sehers Johannes verbinden? Wohl nur, wenn wir aufmerksam fragen, was wirklich in dem Sendschreiben an die Gemeinde in Smyrna steht.
Das alles ist überhaupt keine Anleitung zur persönlichen Lebensführung, sondern ein Brief an eine konkrete Gemeinde, die nicht strahlend triumphiert und über alles erhaben ist, sondern – im Gegenteil – hart bedrängt wird, auch von bestimmten Gruppierungen, die ursprünglich dem Judentum entstammten. Leid, Armut und Verfolgung kennzeichnen ihr Leben. Der Glaube und das Bekenntnis zu Jesus Christus stehen auf dem Spiel. In diesen Horizont hinein kommen die Worte: "Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben."
Es geht nicht um individuelle Pflichterfüllung im Leben oder um kollektive Vaterlandstreue, son­dern die Treue zum christlichen Bekenntnis, selbst wenn es den Tod gilt! Diese Treue ist angefochten – sehr kon­kret, sehr massiv. Denn unter dem Druck der Verfolgung liegt es nahe, Christus und seiner Gemeinde abzusagen. Diese Gefahr bestand in Smyrna, und darum kam ein Brief, der die Christen trösten und zum Aushalten bewegen sollte.
Gewiss, liebe Gemeinde, das ist nicht unsere Welt. Nichts von alledem trifft auf uns heute zu. Kein Leid, keine wirkliche Armut, erst recht keine Verfolgungen – wenigstens nicht in Deutschland. Aber sind damit die Worte des Se­hers Johannes endgültig dem Missverständnis preisgegeben? Oder haben sie auch uns etwas zu sagen?
Für mich ist das Wort von der "Treue" der Schlüssel, der mir die Tür öffnet, um neu in den Raum hineinzugehen, den der Seher Johannes be­schreibt. Ich stelle mir die Frage: Wo haben die christlichen Kirchen heute, im Jahr 2012, ihre Treue zum Bekenntnis zu beweisen – und was sind die Verführun­gen, die sie davon abbringen könnten? Darauf lassen sich, glaube ich,  Antworten geben.
Die erste Verführung liegt ganz nahe: dass nämlich unsere Kirche in dem, was sie ist, was sie darstellt und was sie tut, sich in er­ster Linie auf sich selbst verlässt. Es ist unbestritten, dass die großen Kirchen in Deutschland ein weit gefä­chertes System von Dienstleistungen etwa im diakoni­schen und seelsorglichen Bereich entwickelt haben. Sie stellen einen Faktor im öffentlichen Leben dar, der nicht zu übersehen ist. Sie sind Großorganisationen geworden Die Verführung könnte darin liegen, dass unsere Kirchen all das Erreichte nicht mehr an ihren eigentlichen Auftrag und damit an den Herrn der Kirche zurückbinden; dass wir auf uns selbst schauen und nicht auf Christus – und er uns so unter der Hand aus dem Blick gerät..
Treue zum Bekenntnis würde dann bedeuten: sich erinnern zu lassen, dass nicht wir die Herren der Kirche sind und alles Mögliche für die Zukunft zu planen haben, sondern dass wir vor allen Schritten fragen, was Christus von unserer Kir­che will. Das bringt Vergewisserung. Sie ist schwerer, als wir glauben. Aber sie ist nötig, damit wir die Per­spektive nicht verlieren, in die hinein unsere Kirche gestellt ist.
Eine zweite Verführung ergibt sich daraus: die Verfüh­rung zur Anpassung um jeden Preis. Unsere Situation heute ist anders als die der ersten Gemeinden in Klein­asien. Zwi­schen unserer Gesellschaft und der Kirche bestehen vielfältige Verflechtungen. Es scheint, als habe sich die evangelische Kirche ganz gut eingerichtet, auch wenn es bisweilen den Verlust an eigenem Profil kostet. 
Treue zum Bekenntnis hieße dann: neu danach zu fragen, wo wir um unseres Auftrags willen Konflikte nicht scheuen darf. Die Verführung zur Anpassung bestand nicht nur in den Jahren seit 1933. Nachträglich hat man die Schuld erkannt, die darin lag: "Wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben", hieß es 1945. Wir müssen widerständiger sein angesichts der Erkaltung des sozialen Klimas, angesichts der Entsolidarisierung in Europa, angesichts der Verrohung der Medien.
Und schließlich die dritte Verführung, die wohl am tief­sten reicht: dass nämlich unsere Kirche und wir als Christen in der Gefahr stehen, das Evangelium von Jesus Christus als dem Herrn der Welt abzuschwächen. Bei diesem Evangelium handelt es um mehr als nur um eine Meinung, die man unter Umständen ins Gespräch bringen oder aber es auch nach Belieben lassen kann. Das Schreiben an die Gemeinde in Smyrna fängt unmissverständlich an: "Das sagt der Erste und der Letzte, der tot war und ist le­bendig geworden". Um nichts Geringeres als um Tod und Leben geht es also, um Gericht und Gnade, um Schuld und Befreiung. Das kostet etwas, aber ist es wert. Eine Kirche, die dafür nicht mehr einsteht, wird vollkommen belanglos.
Treue zum Bekenntnis bedeutet dann: Das Evangeliums von Christus als Zuspruch Gottes an uns selbst ernst nehmen und es in die Öffentlichkeit einbringen. Das wird angesichts mancher Kritik, die schnell aufkommt, nicht leicht sein. So erlebten es schon die Christen der ersten Gemeinden. Aber es ist nicht ver­geblich – nicht für uns selbst, auch nicht für die Welt, in die hinein wir gesandt sind. Das bedeutet dann zum Beispiel: Wir haben angesichts des auflebenden Extremismus von rechts, der aus unserer unheilvollen Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt hat, Position zu beziehen. Und wir haben zugleich darauf hinzuweisen, dass die Wurzeln des Übels tiefer liegen: nämlich in der Tatsache, dass unsere Gesellschaft immer weniger nach Gottes Willen fragt und die große Freiheit, der alles gleichgültig ist, genau dahin führt, dass gerade Jugendliche in jenen extremistischen Kreisen Heimat finden, weil ihnen dort Halt und Orientierung vorgegaukelt wird. Wir sollten dafür einstehen, welchen Wert es für eine Gesellschaft darstellen kann, wenn Gott allein als der Herr bekannt wird. Dieses Bekenntnis sprengt dann die engen Grenzen der Nation und führt uns hinein in eine weltweite Ökumene der Kinder Gottes!
So gesehen, liebe Gemeinde, gilt der Brief nach Smyrna auch unserer Kirche in Deutschland und unseren Gemeinden: Er ist ein Wort der Mahnung, dass wir unser Bekenntnis bewähren, und er ist ein Wort der tröstli­chen Verheißung, dass am Ende Christus stärker ist als der Tod und alle Todesmächte. Amen.