18.01.2015, Kiew: "Was ist der Mensch?"
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Liebe Gemeinde, wenn ich an das aufregende letzte Jahr hier in Kiew zurückdenke, dann fallen mir immer wieder Bilder und Geschichten von Menschen ein. Da war eine Frau, die ich vorher nicht kannte. Sie kam zu uns in die Kirche und brachte jede Menge Lebensmittel. Sie hat ein kleines Geschäft nicht weit von der Kirche entfernt. Helfen wolle, ja müsse sie, so erklärte sie. Freiwillig. Selbstlose Hilfe. Was ist der Mensch?

Und dann war da jener Mann, der mir am 20. Februar, dem schwärzesten Tag im letzten Jahr, direkt in die Arme lief. Weinend. Sie schießen, rief er. Und gerade habe er zwei seiner Kameraden erschossen von den Barrikaden gezogen. Wer tut so etwas? Fragte er immer wieder. Wer tut so etwas? Was ist der Mensch?

Die Herrschenden nahmen den Willen des Volkes nicht wahr

Größe und Niedertracht. Wir haben beides hier erlebt vor einem Jahr und seither immer wieder. Was ist der Mensch? Jedenfalls ist er ein Wesen, das auf Dauer nicht nur von Tag zu Tag leben kann. Als Ebenbild Gottes, als sein Gegenüber, hat Gott uns Menschen auch Schöpferkraft mitgegeben. Klar, nicht seine großartige und allumfassende Kraft, aber doch eine, die uns dazu treibt, unser Leben gestalten zu wollen. Wir wollen unser Leben planen können, möchten Zukunft in die Hand nehmen können. Wir sind keine Sklaven. Keine Wesen, die sich ewig niedrig halten lassen, ewig unterdrücken lassen.

Diese Freiheit, das eigene Leben zu gestalten, die eigene Zukunft zu planen, ist Millionen von Menschen hier in unserem Land lange Zeit abgesprochen worden. Still sollten sie halten, duldsam sein, sich freuen über die wenigen Brocken, die von der Herren Tische fallen. Und so kann man auch mit Blick auf die Mächtigen fragen: was ist der Mensch?

Die Herrschenden hatten den Willen des eigenen Volkes nicht mehr wahrgenommen, hatten die Lage völlig falsch eingeschätzt. Sie hatten sie beurteilt, wie die Mächtigen das hier immer gewohnt waren: nur vom eigenen Standpunkt aus. Nur von der eigenen Sichtweise aus. Nur aus dem Antrieb heraus, die eigene Macht zu sichern und um sich weiter zu bereichern. Was ist der Mensch?

Mit allem hat uns unser Schöpfer ausgestattet

Eine Qualität, die den Menschen ausmacht, ist die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Die Fähigkeit zu Mitgefühl, zu Verständnis. Irgendwie schienen die Mächtigen hier in der Ukraine diese Fähigkeit verloren zu haben. Es war ihnen egal, wie die Menschen lebten. Wie sie unter der Korruption litten. Es war ihnen egal, dass das Leben der Menschen im Gesundheitswesen davon abhing, ob sie die Leistung bezahlen konnten. Es war ihnen egal, dass das Recht im Justizwesen auf der Seite desjenigen war, der es sich erkaufen konnte. Es war ihnen egal. Was ist der Mensch?

Wer nicht wenigstens versucht, mit den Augen des anderen zu sehen, wird zu keinen Lösungen kommen. Als Menschen  haben wir aber  die Fähigkeit uns die Welt nicht nur von der eigenen Perspektive aus anzuschauen, wir können sie auch aus dem Blickwinkel des anderen sehen. Dazu haben wir Verstand, dazu haben wir Mitgefühl, Empathie. Mit dem allen hat unser Schöpfer uns ausgestattet.

Was ist der Mensch, dass Du – Gott – seiner gedenkst. Das ist ja unser Glaube: Dass Gott unser gedenkt. Dass er sieht, spürt, dass er mitfühlt, wie es seinen Menschen geht. Wir befinden uns ja noch im Weihnachtsfestkreis. Wir haben gerade Weihnachten gefeiert. Für die östliche orthodoxe Tradition liegt das Fest erst wenige Tage zurück. Und das, was wir da gefeiert haben, könnte man als den Perspektiv-Wechsel Gottes bezeichnen. Er wollte sich das Glück aber auch das Leid nicht länger von hoch oben anschauen.

Gefährdeter Frieden

Er hat sich auf die ganze Misere eingelassen. Mit dem Blickwinkel und aus dem Empfinden eines Menschen. Nicht von oben herab. Nicht als Besserwisser. Nicht als derjenige, der sein Recht, seine Einflusssphäre auf den Kleineren, den Schwächeren ausnutzt, weil er ja die Macht hat. Er hat sich schlicht auf die Seite des Menschen gestellt. In Jesus Christus, seinem Sohn.

So wirbt er: er sendet seinen Sohn, wird uns gleich und spricht unsere Sprache, damit wir auch ja verstehen - und er hört uns zu.
Er hat uns als würdevolle Geschöpfe ernstgenommen. Einmal versuchen, mit den Augen des anderen zu sehen, mal für eine Zeitlang versuchen, seine Perspektive einzunehmen: Das ist für mich DER Weg, um Frieden auch unter uns zu bewahren: Frieden im Großen in einem Land und auch im Kleinen.

Frieden in den Familien, in den Gemeinden, in den ökumenischen Gemeinschaften. Frieden ist immer dann gefährdet, wenn das geduldige Werben durch Macht, Druck und Gewalt zur Durchsetzung der Interessen in den Hintergrund gedrängt wird. Das  haben die Menschen hier erlebt, hier in unserem Land, in unserer Stadt. Es hätte nur ein kleiner Perspektivenwechsel notgetan und die Menschen, die Verantwortung für ihr Volk getragen haben, hätten verstanden, warum da hunderttausende nicht einverstanden waren und bei tiefem Frost auf den Straßen und Plätzen demonstrierend verharrten.

"Mich schmerzen die Schicksale"

Zu einem Perspektivenwechsel, der andere Menschen verstehen und vielleicht sogar gewinnen will, gehört die Bereitschaft, mit wohlwollenden Augen auf den andern zu schauen, die Bereitschaft, um ihn zu werben, die Bereitschaft, den anderen auch zu akzeptieren und gemeinsam nach einem Ausgleich zu suchen. Niemals sollte es beim Miteinander von Menschen dazu kommen, dass der vermeintlich Stärkere dem Schwächeren seinen Willen mit Gewalt aufzwingt.

Auch wir Christenmenschen müssen uns anfragen, ob wir selbst bereit sind, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Wie sieht es mit unserer Bereitschaft aus, die Welt aus dem Blickwinkel des anderen zu sehen? Ich wünsche uns den Mut, die Stimme zu erheben, wenn Unrecht geschieht oder, wie es die Ukraine jetzt erlebt, wenn ein Land seinen Nachbarn nicht achtet und es in einen Krieg zieht. Und ich wünsche uns die Bereitschaft, uns nicht vom Hass leiten zu lassen, sondern von der Liebe. So tut es Gott mit uns.

Im letzten Jahr standen tausende Menschen vor unserer Tür hier in St. Katharina. Tausende Menschen von beiden Seiten. Und mit ihnen stand Christus selbst tausendfach vor der Tür. Wir danken Gott, dass in unserem Hause Frieden bewahrt und Hilfe geleistet werden konnte. Und heute sehe ich die Situation der Menschen hier in der Ukraine. Viele sind auf der Flucht. Und mich schmerzen die Schicksale der Menschen.

Gottes liebendes Werben hört nie auf

Doch ich weiß, dass Christus auch ihre Not sieht. Ich weiß, dass es auch hier Leute gibt, die sich in diese Menschen hineinversetzen, denen die Flüchtlinge, die Kinder in den Heimen, die Alten, die hungern, nicht gleichgültig sind. Es gibt sie, die Menschen, die  dem Beispiel Gottes folgen und den anderen Menschen wahrnehmen, ihm würdevoll begegnen und als ein Geschöpf Gottes behandeln.

Es gibt sie, die Menschen, die mutig Gottes Wort ausrichten und auf Sünde hinweisen, die den Frieden gefährdet. Es gibt sie die Menschen, die bereit sind zu hören und die treu und mit Geduld im Gespräch bleiben. Das macht Hoffnung. Auch in dieser schweren Zeit, in der dieses Land durch einen Krieg erschüttert wird. Es macht Hoffnung, weil Gottes liebendes Werben nie aufhört. Christus ist hier, gekommen zu uns und zu ihnen. Öffnen wir ihm die Türen, indem wir selbst uns anderen Menschen zuwenden. Oder wie es auf einer Weihnachtskarte stand: Mach es wie Gott: werde Mensch!

Amen

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.
 


 

Perikope
18.01.2015
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