7.12.2014 Witten "Geben wir die Gnade weiter"
Amazing Grace – was für ein Klang. Gänsehautklang. Das wäre was als Filmmusik. Für den Film: The Last Day, der Jüngste Tag, Jesus kommt wieder. Als Weltenrichter voller Gnade und alles wird gut. Aber – so weit sind wir ja noch nicht. Es ist noch lange nicht alles gut in unserer Welt. Leider.
Offensichtliche Sklaverei, wie John Newton sie kannte, erleben wir zwar nicht. Wir sind auch keine Sklavenhändler. Trotzdem geht uns seine Geschichte etwas an. Denn „blind“ für manchen Missstand um uns herum sind wir durchaus – wie John Newton. Mancher von uns kennt auch sein Lebensgefühl: verloren zu sein im eigenen Leben, nicht geliebt zu werden. Oder die Erfahrung, gescheitert zu sein mit den eigenen Überzeugungen, untergegangen in Sturm und Wellen mit den Lebensplänen.
"Blind", verloren, gescheitert – wer das kennt, weiß: In solchen Zeiten brauche ich niemanden, der mich auch noch fertig macht, weil ich alles verbockt habe. Ich brauche jemanden, der mich in den Arm nimmt, oder auch aufrüttelt, in jedem Fall barmherzig mit mir umgeht. Barmherzig, das heißt: mit einem freundlichen Herzen mich aufnimmt, gnädig eben. Das können Menschen sein, das kann
Gott sein.
John Newton damals hat Gott genau so erfahren: positiv – barmherzig, gnädig. Gott rettete diesen Schurken vor dem Untergang. Und der konnte neu anfangen. Das hat seinen Glauben verändert. John Newton begriff: Gott und Gnade gehören zusammen, Gott und Rettung – nicht Gott und Strafe. Gnade – in unseren Ohren klingt dieses Wort heute fremd: so abstrakt. Früher wusste jedes Kind: Gnade kommt von dem alten deutschen Wort "genadt, genadet", das heißt: sich annähern, hinneigen. Zum Beispiel: Die Sonne genadet sich der Erde, die Sonne neigt sich der Erde zu, berührt sie sogar. Gnade ist was ganz Konkretes, eine schöne Angelegenheit.
Und die kennen wir auch. Wir leben davon, dass Menschen gnädig mit uns sind. Schon bei Kleinigkeiten: Zum Beispiel im Straßenverkehr: Wenn ich mich in eine falsche Spur eingeordnet habe, dann bin ich erleichtert, wenn mich jemand kurz vor knapp noch in seine Spur reinwinkt. Was für ein Glück, dass es sie gibt: die Menschen, die nicht auf ihr Recht pochen und auf mein Unrecht. Die gnädig mit mir sind. Was für ein Glück in harmlosen Angelegenheiten, erst recht in schweren, belastenden: Wenn ich mich schuldig gemacht habe jemandem gegenüber und unser Leben gestört ist. Dann bitte ich um "Ent-Schuldung" und hoffe, dass er mir verzeiht, dass wir noch einmal neu anfangen können.
Genauso leben wir davon, dass Gott gnädig mit uns ist. Dass er nicht alles aufrechnet, was schief läuft. Nicht einmal die schweren Dinge, wo wir uns und andere kaputt machen, absichtlich oder unabsichtlich. Wir leben davon, dass selbst solche Dinge vergeben werden können, dass Gott einen neuen Anfang mit uns macht. Gnade ist Glück, Befreiung aus einem heillosen Zustand. Sie geschieht uns unverdient, einfach, weil ein Mensch – oder Gott, oder beide! – uns freundlich zugeneigt ist, uns nahe kommt durch Worte oder Gesten. Gnade macht gutes Leben überhaupt erst möglich.
Und wir brauchen sie jeden Tag. Daran erinnert Paulus, der große christliche Theologe, mit einem Prophetenwort: "Gott spricht: Zu der Zeit, als ich dir Gnade schenkte, habe ich dich erhört. Am Tag der Rettung bin ich dir zu Hilfe gekommen. Seht doch! Jetzt beginnt die Zeit, in der Gott Gnade schenkt. Seht doch! Jetzt ist der Tag der Rettung." (2. Korinther 6,2)
Paulus war wichtig: Gnade Gottes passierte nicht nur in alten Zeiten, auch nicht erst irgendwann in Zukunft, am Ende der Zeit. Gnade Gottes passiert jetzt! Heute! Gott neigt sich uns Menschen zu, berührt uns, er macht unser Leben möglich. Genau das hat John Newton auf seiner Fahrt durch Sturm und Wellen mit einem Mal kapiert: Gott ist der Herr über das Leben, nicht ich. Gott hat alles Leben geschaffen, nicht mir habe ich es zu verdanken. Das Leben ist Geschenk – jeden Tag aufs Neue.
Und mit der Zeit hat er auch immer klarer begriffen: Gott rettet mich nicht nur aus den Wellen. Gott kann mich auch von allem anderen retten. Wo ich Leben missachte, wo ich schuldig werde bei mir, bei anderen. Gott kann Schuld zunichtemachen. Er kann das, weil er – als Schöpfer des Lebens – aus Nichts Etwas machen konnte. Und umgekehrt aus Etwas Nichts machen kann. Gott kann Schuld vergeben, so dass sie nicht mehr ist. Das ist Gnade, wunderbare Gnade. Sie lässt mich aufatmen, anders leben.
Manchmal braucht es vielleicht Grenzerfahrungen, bis man solche wichtigen Dinge begreift. Allerdings dauerte es bei John noch etwa 20 Jahre, bis er auch das andere Wichtige begreift: Gnade Gottes, gutes Leben, das gilt nicht nur mir allein, Das gilt auch anderen. Alle sollen gut leben können. Paulus hat das so formuliert: "Ihr seid jetzt nämlich alle Kinder Gottes – weil ihr durch den Glauben mit Christus Jesus verbunden seid. Denn ihr alle, die ihr getauft worden seid und dadurch zu Christus gehört, habt Christus angezogen. Es spielt keine Rolle mehr, ob ihr Juden seid oder Griechen, unfreie Diener oder freie Menschen, Männer oder Frauen. Denn durch eure Verbindung mit Christus Jesus seid ihr alle wie ein Mensch geworden." (Galater 3, 26-28)
Ihr seid alle wie ein Mensch geworden in Christus. Einen Menschen kann man nicht teilen, das gute Leben, Glück und Heil gilt der Menschheit komplett. Das hat John Newton begriffen und irgendwann auch danach gehandelt. Sein Glaube wurde politisch. Er engagierte sich gegen die Sklaverei, für ein freies Leben aller. Leider leben 200 Jahre nach seinem Tod weltweit immer noch geschätzt über 27 Millionen Menschen als Sklaven in unsichtbaren Ketten. 27 Millionen Opfer: Kinder, Männer und Frauen! Das sind zum Beispiel Kindersoldaten. Minderjährige als Ehefrauen. Schneider für internationale Modelabels, die sich bis an ihr Lebensende verschuldet haben. Oder Mädchen, die hinter unseren deutschen Bahnhöfen auf den Strich geschickt werden.
Ja, es liegen noch viele dunkle Schatten über unserer Welt. Manche Missstände haben wir zu verantworten – und wir können etwas dagegen tun. Andere sind weit weg von uns, nur über´s Fernsehen kriegen wir davon mit. Aber selbst da können wir hinsehen. Und sogar etwas tun. Auch wenn wir nicht die Welt retten können. Die Welt retten: Das tut ein anderer. Der zweite Advent heute erinnert uns an ein Versprechen von Jesus: Ich werde noch ein zweites Mal in die Welt kommen. Es wird meinen zweiten Advent geben, am Ende der Zeiten, am Jüngsten Tag – The Last Day. Dann werden Täter und Opfer "zu Recht gebracht und alle Menschen werden in Frieden und Gerechtigkeit miteinander leben. Jesus Christus wird kommen als Weltenrichter und Weltenretter, er wird uns erlösen von Gewalt, Unrecht und Schuld. Dann wird alles gut. Und wir können alle einstimmen in das Lied "Amazing Grace".
Bis dahin jedoch gilt der Satz von Dietrich Bonhoeffer: "Mag sein, dass der Jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen, vorher aber nicht." Denn Gott will jetzt schon ein gutes Leben, für alle, das glauben wir Christen. Und dafür engagieren wir uns – zusammen mit anderen. Damit auch die, deren Leben voller Schatten ist, eine helle Zukunft haben. Kommende Woche ist der "Internationale Tag der Menschenrechte", genau die richtige Woche, um damit anzufangen: Geben wir die Gnade weiter, von der wir selbst leben! Damit wir – alle miteinander – gut leben können. Atmen können, frei sein können.
Amen.