Am Anfang war die Fülle – Predigt zu Apostelgeschichte 2,1-13 von Claudia Jahnel
2,1-13

Am Anfang war die Fülle – Predigt zu Apostelgeschichte 2,1-13 von Claudia Jahnel

Am Anfang war die Fülle!

Wie? – werden Sie jetzt vielleicht sagen – Am Anfang war das Wort! So heißt es doch richtig im Prolog des Johannes-Evangeliums: Am Anfang war das Wort. Und das Wort war bei Gott und Gott war das Wort.

Am Anfang war die Fülle! sage ich und lade Sie ein, heute mit mir über das Thema Fülle und Vielfalt nachzudenken; aber keine Angst, ich will Sie nicht wie Mephisto in Goethes Faust verführen, der ja bekanntlich spricht: Am Anfang war die Tat! Das nämlich meine ich nicht – im Gegenteil: am Anfang war die Fülle und ohne sie können wir nichts tun. Fülle kommt vor der Tat. Fülle ist ein Geschenk. Und: Fülle ist Vielfalt.

 

Pfingsten als Metapher für Fülle und Vielfalt

Das anstehende Pfingstfest ist DIE Metapher für Fülle und Vielfalt. Das Fest ist fester Bestandteil der christlich-abendländischen Kultur, aber seine Bedeutung ist vielen nicht mehr vertraut. Die Bilder, mit denen die Apostelgeschichte das Pfingstereignis beschreibt, erscheinen dem einen oder der anderen eher als Fantasieromane denn als christliche Symbole: Von „Feuerzungen“ und „großem Sturm“, von einem „gewaltigen Brausen“ ist die Rede. Und auf einmal sind die Menschen vom Heiligen Geist erfüllt und sprechen in verschiedenen Sprachen und verstehen sich trotzdem. 50 Tage nach Ostern, so die Apostelgeschichte, versammeln sich die Menschen aus aller Herren Länder zum jüdischen Wochenfest, also zu einer Art Erntedankfest, einem Fest des Dankes für Gottes reiche Gaben, für Fülle und Vielfalt. Inmitten des Sprachengewirrs fangen die Jesusanhänger, die sich nach dem Tod Jesu ängstlich versteckt gehalten hatten, auf einmal an zu predigen. Dabei geschieht etwas Wundervolles: Jeder und jede versteht, was sie sagen, in seiner/ihrer Sprache. Diese Jesusanhänger sind nicht sonderlich gebildet. Sie sind keine Akademiker. Sie haben kein Graecum, Hebraicum, Latinum, Deutschexamen oder sonst einen Sprachabschluss. Sie sind vielmehr vom Geist Gottes ergriffen und das verleiht ihnen die Fähigkeit, über alle Sprachbarrieren hinweg Menschen aller Nationen und Kulturen zu erreichen.

 

Pfingsten, ein Fest der Fülle der Bilder und Geräusche, dass wir Augen und Ohren aufsperren für die Zeichen und das Wehen, nein Brausen Gottes in der Welt. Ein Fest der Düfte auf dem jüdischen Wochenfest, der Ernte, der Speisen, der Gewürze. Ein Festschmaus für die Sinne, ein Fest der Fülle. Besonders aber ein Fest der vollkommenen Kommunikation: Jeder versteht jeden, obwohl jeder/jede so redet, wie ihm/ihr der Schnabel gewachsen ist. Die Zuschauer machen sich über sie lustig und halten sie für betrunken. Aber nein. Es ist eine wunderbare Kraft, die in ihnen steckt und ihnen die Angst nimmt, sodass sie sich nicht mehr vor ihren Problemen verkriechen. Sie verkünden: eine neue Zukunft und ein Leben in Fülle ist angebrochen.

Wenige Zeilen nach unserem Predigttext lesen wir die allererste Pfingstpredigt, die Rede des Apostels Petrus. Petrus erklärt den verwirrten Zuhörern, was es mit den seltsamen Dingen auf sich hat, die hier gerade vor ihren Augen und Ohren geschehen; dass Gott seinen Geist ausgießt auf die Menschen, und was dann mit ihnen passiert: „Eure Söhne und Eure Töchter werden Propheten sein. Eure jungen Leute werden Visionen haben; und Eure Alten werden Träume träumen“. Der Heilige Geist bringt eine Kraft, die die Gegenwart und die Zukunft zu Orten eines Lebens in Fülle macht.

 

Fülle heißt Vielfalt

Fülle heißt Vielfalt. Immer, immer Vielfalt – und nie die Reduktion, Homogenisierung, das Einstampfen von Unterschieden! Keine Eintönigkeit. Kein identitärer Zusammenschluss der einen und Ausschluss der anderen. Fülle ist Vielfalt: Alle behalten ja ihre Sprachen, sprechen kein Esperanto, bleiben verschieden, auch kulturell.

Die Apostelgeschichte wiederholt und bekräftigt, was wir in so vielen Geschichten im Alten wie im Neuen Testament finden, die in Fülle und Vielfalt schwelgen. Die Bibel beginnt gar mit einer Liturgie der Fülle und Vielfalt. Die Schöpfungsgeschichte ist ein Lobpreis der göttlichen Großzügigkeit und des göttlichen Erfindungsreichtums: Licht, Dunkel, Pflanzen, Tiere, Fische, Vögel, Menschen, Mann und Frau. Schon hier bekommen wir die Kraft der Ruach, des Geistes und Atems Gottes zu spüren, zu sehen, zu hören. Das erste Kapitel der Bibel erzählt, wie gut diese Fülle und Vielfalt sind, und wiederholt in einem fort: „Es ist gut, es ist gut, es ist sehr gut.“ Gott „segnet“, d.h.: er stattet mit Leben und Vitalität, mit seinem Atem und Geist aus – die Pflanzen, die Tiere, Fische, Vögel und Menschen. Und Gott der Schöpfer spricht die Worte: „Seid fruchtbar und mehret euch“! Alle haben in einer wahren Orgie von Fruchtbarkeit die überfließende Güte zu mehren, die sich aus dem Schöpfergeist Gottes ausgießt.

Israel feiert die Fülle der Vielfalt des Geistes Gottes. Psalm 104, das längste Schöpfungsgedicht, ist ein Kommentar zur Schöpfungsgeschichte: Der Psalmist überschaut hier die Schöpfung und benennt alles: Himmel und Erde, Wasser, Quellen und Ströme, Bäume und Vögel und Ziegen und Wein und Öl und Brot und Menschen und Löwen. So geht es über 23 Verse und endet im 24. Vers mit einem Ausdruck von Ehrfurcht und Lob für Gott und seine Schöpfung. Die Verse 27 und 28 sind so etwas Ähnliches wie ein Tischgebet: „Du gibst ihnen allen Speise zur rechten Zeit, du nährst jeden.“ Der Psalm endet damit, Gott als großen Atemspender darzustellen: „Wenn du deinen Atem gibst, wird die Welt leben; wenn du aufhörst zu atmen, wird die Welt sterben.“ Aber der Psalm stellt klar, dass wir uns keine Sorgen machen müssen. Gott ist ganz und gar verlässlich. Die Fruchtbarkeit und die Vielfalt der Welt sind gewährleistet.

 

Der Anfang des Knappheitsdenkens und die Reduktion der Vielfalt

Das Bewusstsein der Fülle und der Vielfalt dominiert das erste Buch der Bibel bis in Kapitel 47 hinein. In diesem Kapitel träumt der Pharao, dass eine Hungersnot im Land aufkommen wird. Daher lässt er die Nahrungsversorgung verwalten, kontrollieren und monopolisieren. Der Pharao führt letztlich das Prinzip des Mangels und der Knappheit in die Weltwirtschaft ein. Zum ersten Mal sagt jemand in der Bibel: „Es ist nicht genug. Lass uns alles bekommen.“ Und auf einmal ist sie da: die Monopolisierung der Fülle, die Beherrschung der Vielfalt. Auf einmal gibt es ein „Wir“ – eine privilegierte Gruppe, die am Monopol partizipiert und davon profitiert. Sie wollen genug bekommen ­– und nicht die anderen.

Wie es weitergeht, wissen Sie: Joseph verwaltet im Auftrag des Pharao das Monopol Ägyptens. Als die Ernte ausfällt und die Bauern kein Essen mehr haben, kommen sie zu Joseph, der im Auftrag Pharaos sagt: „Welche Rückversicherungen könnt ihr uns geben?“ Und sie geben ihr Land auf für Nahrung, und dann im nächsten Jahr geben sie auch noch das Vieh weg. Im dritten Jahr haben sie nur noch sich selbst als Pfand. Und so sind die Kinder Israels zu Sklaven geworden – durch eine ökonomische Transaktion quasi. Und so herrscht eine Gruppe über viele andere. Gleichzeitig wird die Vielfalt zur Differenz, zum Unterschied, zur Spaltung. Was uns unterscheidet wird wichtig, der Unterschied wird zu dem, was zählt. Eine Hierarchie wird eingeführt zwischen denen, die Macht und Sagen haben, und jenen, die weniger an Entscheidungen partizipieren. Das Gegenteil von Fülle und Vielfalt ist die Rede von Knappheit und Spaltung.

 

Doch die Geschichte geht weiter. Der Pharao wird noch gemeiner, brutaler und böser – so wie der Mythos des Mangels, der Knappheit, der Spaltung. Die Tatsache, dass er das Volk Israel nicht unter Kontrolle bringen kann, macht ihn so zornig, dass er Mose und Aaron zu sich bestellt und ihnen mitteilt: „Nehmt euer Volk und geht. Nehmt eure Schafe und Rinder und verlasst diesen Ort!“ Dann bittet der große König Ägyptens, der das Monopol über die regionalen Ressourcen besitzt, dass Mose und Aaron ihn segnen. Die Mächte des Mangels und der Spaltung geben gegenüber einer kleinen Gemeinschaft der Fülle zu: „Es ist klar, dass ihr die Zukunft seid. Legt uns daher eure machtvollen Hände auf und gebt uns Energie, bevor ihr uns verlasst.“ Der Text zeigt, dass die Macht der Zukunft nicht in den Händen derer liegt, die an den Mangel glauben und die Menschheit spalten. Sie liegt vielmehr in den Händen derer, die Gottes Fülle vertrauen.

Das ist es schließlich, was die Israeliten sogar in der Wüste erfahren ­– die Fülle Gottes: Gottes Liebe tropft vom Himmel in Gestalt von Brot. Brot als Symbol für ein freies Geschenk für jeden. Ein Geschenk der Fülle, für das die Israeliten nicht gearbeitet haben, das sie aber auch nicht kontrollieren – horten – können. Denn man kann Gottes Freigiebigkeit, das Geschenk seiner Fülle und Vielfalt, nicht einlagern.

Viele Geschichten der Bibel, die unsere Tradition und Kultur, unser Zusammenleben geprägt haben und prägen wollen, sind Geschichten, die von Fülle und Vielfalt sprechen.

 

 

Pfingsten: Fülle, Vielfalt, Zukunft

Die Geschichte von Pfingsten wiederholt und verstärkt dies und weitet die Fülle und Vielfalt noch auf andere Kulturen aus. Denn der Heilige Geist ermöglicht Kommunikation über die Grenzen hinweg – die sprachlichen und kulturellen ebenso wie die heutigen konfessionellen und religiösen. Die Zukunft liegt nicht, so der Geist von Pfingsten, in Monokulturalität oder im Glaube an Knappheit, der die Angst, zu kurz zu kommen, schürt. Der Heilige Geist eröffnet eine Zukunft, die von Vielfalt und Verständigung geprägt ist. Pfingsten ist ein „Idealbild von Globalisierung“ (Heribert Prantl): „Alle behalten ihre Eigenheiten, alle bleiben verschieden; es gibt aber ein gemeinsames Verständnis, einen gemeinsamen Geist, aus dem ein Wir-Gefühl entsteht.“ Pfingsten als Geburtsstunde der Kirche propagiert nicht die Uniformierung von Kultur, Glauben oder Konfession, sondern Verständigung in der Verschiedenheit.

Auch wenn ich keine Vertreterin der dialektischen Theologie bin, muss ich feststellen: Diese Zukunftsvorstellung von Pfingsten hat einen gänzlich anderen Klang als jene in vielen Reden von Politikern und Wirtschaftsweisen oder in Stimmungsbarometern heute: dort sieht die Zukunft eher düster aus. Sie ist mehr eine Anti-Zukunft als eine Zukunft. Das Szenario der Katastrophen bricht kaum ab: Klima- und Umweltkatastrophe, Flüchtlingskatastrophe, Finanzkatastrophe durch Turbokapitalismus – auch auf dem Bildungsmarkt, denn ohne Drittmittel überleben wir nicht, daher auch Bildungskatastrophe, ganz zu schweigen von der religiös-fundamentalistischen Katastrophe.

Diese Dauerkatastrophe ist nicht gerade ermutigend. Sie nimmt den Glauben daran, etwas bewirken, etwas verändern zu können. Sie gibt den jungen Menschen, die laut Petrus zu Propheten und Visionären werden, und den Alten, die noch Träume haben, keinen Raum. Heutige Zukunftsszenarien rauben eher die Motivation, Zukunft – und vor allem Gegenwart – zu gestalten, denn wenn die Zukunft so negativ ist, ist sie auch nicht erstrebenswert. „Alternativlos“, so lautet das Attribut, mit dem manche Politiker heute die Strategien angesichts der bevorstehenden Katastrophen näher kennzeichnen: die Abschottung Europas vor zu vielen Flüchtlingen ist alternativlos. Die Bekämpfung des Islamismus ist alternativlos. Lediglich eine allgemeine Geschwindigkeitsbeschränkung auf der Autobahn hat m.W. noch keiner als „alternativlos“ bezeichnet.

Alternativlos – statt Umdenken. Alternativlos – statt neue Pfade entdecken, die zwar mit den Schlagworten „innovativ“ und „zukunftsfähig“ immer wieder heraufbeschworen werden. Aber mal ehrlich: so etwas Altbackenes, politisch wie wirtschaftlich Reguliertes und Floskelhaftes wie die Worte „innovativ“ oder „zukunftsfähig“ gibt es selten.

Das biblische Zeugnis zeigt, dass nicht Katastrophe, Knappheit, Alternativlosigkeit, Angst vor Anderem und Neuem unsere ersten Erfahrungen sind, sondern Fülle und Vielfalt. In philosophische Sprache und in ihre Philosophie der Natalität umgesetzt hat diesen Gedanken die jüdische Philosophin Hannah Arendt: Wir sind alle geboren und verdanken uns also nicht uns selbst, sondern einem unergründlichen Geheimnis. Die Tatsache der Natalität – des Geborenseins des Menschen ­– bedeutet, dass wir uns nicht uns selbst verdanken, sondern dass wir das Leben geschenkt bekommen haben. Und wie ich selbst geboren, also weder hergestellt noch bezahlt wurde, so kann ich auch nichts von dem, was mich umgibt und was ich zum Leben brauche, selbst machen. Die Fülle, aus der wir leben und wirtschaften, ist Geschenk. Ein einziger Spaziergang reicht aus, um zu erkennen, dass ich Teil einer großen Fülle und Vielfalt bin. Erfahrungen des Mangels und der Homogenisierung oder des Ausschlusses von Vielfalt kommen immer erst an zweiter Stelle.

Pfingsten erinnert und löckt zu so einer Spiritualität der Fülle, der Vielfalt, der Großzügigkeit, der grenzüberschreitenden Kommunikation, der Zukunftsoffenheit – und der Dankbarkeit gegenüber dem geschenkten Leben. Pfingsten bringt diese Fülle in einen nicht aufzulösenden Zusammenhang mit kultureller Vielfältigkeit. Die Gemeinschaft, die der Heilige Geist in dieser Geburtsstunde der Kirche schenkt, entsteht auf der Basis eines gemeinsamen Glaubens, jenseits von Nation, Familie, Ethnie, Klasse. Die Pfingstgeschichte, der Anfang der Kirche, verkündet letztlich eine Globalisierung, aber nicht eine Globalisierung, die die Welt uniformiert, gleichmacht, sondern eine Globalisierung der Verständigung in Vielfalt und Verschiedenheit.

Am Anfang waren Fülle und Vielfalt, und ohne sie können wir nichts tun. Amen

 

Mitverwendete Literatur:

Heribert Prantl, Zukunft muss menschenwert werden, nicht umgekehrt, http://www.sueddeutsche.de/politik/pfingsten-wunderwort-zukunft-1.2490257

Ders., In Europa ist Antipfingsten angebrochen,
http://www.sueddeutsche.de/politik/europa-anti-pfingsten-1.2992611