Am Straßenrand der Welt - Predigt zu Mi 5,1-4 von Christiane Quincke
5,1-4

Ausgerechnet dort
Ein kleiner Punkt auf der Landkarte. Irgendwo in einer römischen Provinz. Bethlehem - Haus des Brotes heißt es. Ein Dorf. Mehr nicht. Das Klima scheint rau zu sein. Kein Platz für Fremde, noch nicht mal für Hochschwangere. Außer in einer Absteige, die gerade mal gut genug für das Vieh ist.
Robuste Gesellen auf den Feldern, die niemand im Blick hat. Dort am Straßenrand der Welt. Was kann schon Gutes aus Bethlehem kommen?

Bibeltext
Viel. Sagst du, Gott. Und dein Prophet Micha schreibt ein paar Jahrhunderte zuvor:

Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des Herrn und in der Hoheit des Namens des Herrn, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein.

Der kleine David aus Bethlehem
Ein kleiner Punkt auf der Landkarte. Irgendwo in der Provinz. Unwichtig. Unbedeutend. Alltäglich. Dorthin wurde einst der alte Prophet Samuel geschickt, um einen neuen König zu salben. Dorthin? Fragte er. Ja, dorthin, sagte Gott. Stattliche Männer werden ihm, dem alten Propheten Samuel, vorgeführt. Aber sie waren es nicht. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist, Gott aber sieht das Herz an. Und so wird ein Jugendlicher mit roten Haaren vom Feld weg geholt. David heißt er. Ein Träumer, spielt Harfe, schreibt Gedichte. Alles andere als ein starker Held. Viel zu zart für eine schwere Rüstung. Aber er ist es. Er wird von dem alten Samuel gesalbt. Auf ihm ruht alle Hoffnung. Ein großer König soll er werden. Obwohl ihn niemand auf dem Schirm hat.
Und er wurde ein großer König – nebenan im großen Jerusalem. Weg vom Straßenrand der Welt. Aber die Hoffnung auf Frieden konnte auch er nicht erfüllen. Seine Sehnsucht nach Macht, nach Großsein war vielleicht zu verführerisch. Und so blieb die letztlich die Hoffnung auf einen neuen David. Einer, bei dem wirklich alles gut wird. Auch der Straßenrand.

Stern über Bethlehem
Viele hundert Jahre später machen sich drei Sterndeuter auf den Weg. Sie haben ihn entdeckt: Einen kleinen Punkt am Nachthimmel. Sie wissen, dass da oben eine besondere Konstellation aus Sternen zu sehen ist. Eine, die sie in die große Stadt Jerusalem zum großen Palast des Herodes führt, weil sie etwas Großes, Königliches erwarten. Sie suchen das Große im Großen. Aber dort finden sie es nicht. Nur eine zweifelhafte Macht, die sich an den letzten Strohhalm klammert und keinen Trick auslässt. Der kleine helle Punkt am Nachthimmel führt sie aber weiter zum kleinen Dorf Bethlehem, das sie nicht auf dem Schirm hatten. Dorthin? Fragen sie. Ja, dorthin, sagt der Stern. Dort, wo es klein und rau und robust zugeht. Von wo nichts Gutes, nichts Großes zu erwarten ist. Am Straßenrand der Welt.

Im Stall in Bethlehem
Und dort ist dieses Kind, auf dem alle Hoffnung ruht. Auch nicht viel größer als ein Punkt, jedenfalls vom Palast aus gesehen. Geboren in einem Nichts. Und die drei Fremden stehen vor einer Scheune. Vielleicht hören sie ein leises Weinen oder wie sich Josef schnäuzt. Vielleicht riechen sie das Heu und den Tierdung und den Schweiß von Maria. Vielleicht sehen sie, wie von weiter hinten dunkle Gestalten vom Feld kommen, mit müden Schritten – auf der Suche nach was Großem, wie sie. Und bestimmt sehen sie das Kind. Gottes Kind, das das erste Mal atmet und schreit und dessen Augen zum ersten Mal zwischen Hell und Dunkel unterscheiden.

Der eine Moment
Ein kleiner Punkt im Leben, ein kleiner Moment, eigentlich ein Nichts, und doch so voller Leben und darum so wunderbar groß. Du kennst das, oder?
Ein Moment, den man am liebsten festhalten möchte. Weil er so ganz anders ist als der Rest der Zeit. Und weil er kurz vergessen lässt, was da draußen los ist. In so einem Moment fängt die Hoffnung an. Vergangenheit und Zukunft verschwimmen. Ein Hirtenjunge wird gesalbt. Ein Stern weist den Weg. Schmerzen in der Nacht kündigen das Wunder des Morgens an. Und das Wunder liegt in deinen Armen. Wenn du nicht nur den einen Stern siehst, sondern das ganze Weltall, das dich umarmt. Weil hier im kleinen Punkt das Größte durchscheint.

Was das große Kind erzählt
Und dann ist dieser eine Punkt im Leben irgendwann vorbei. Der Stern zieht weiter. Die Sterndeuter kehren in ihre Heimat zurück, die Hirten zu den Schafen, Maria und Josef mit dem Kind nach Nazareth. Viele, viele Punkte im Leben später, da erzählt das große Kind aus der Krippe von all dem Kleinen am Straßenrand. Schau hin. Sagt es. Schau auf das kleinste Senfkorn, in dem das Reich Gottes steckt. Ein Punkt in der Hand. In ihm steckt was Großes, was Überwältigendes. Gib ihm Erde. Gib ihm Wasser. Lass ihn wachsen. Und so ist es mit dir. Noch in deinem kleinsten Glauben verbirgt sich die Kraft zu größter Veränderung. Schau hin, sagt das Kind: Die Münze der armen Witwe zählt mehr als Gold, die Kinder sind geschickt für das Himmelreich und das kleine Stück Brot schmeckt nach der Liebe Gottes. Und ja, sage ich: In einem kleinen Kind in der Krippe am Straßenrand verbirgt sich der Gott aller Welt. Und dort beginnt der Frieden.

Friede beginnt mit einem kleinen Punkt
Dort am Straßenrand. Dort im Schmerz. Dort beginnt der Frieden, der höher ist als alle Vernunft. Dort, wo du nicht damit rechnest. In einem kleinen Punkt auf der Landkarte oder in deinem Leben. Der Frieden macht die groß, die klein gemacht werden. Er kommt zu denen, die ihn nicht kennen. Die um ihre Liebsten weinen und vor Trauer nicht wissen, was sie noch glauben können. Denen die Tür vor der Nase zugeschlagen wird, weil man ihnen nicht traut. Die nur einen Platz in der Krippe finden. Oder im Obdachlosenheim. Oder auf der Intensivstation. Zu ihnen kommt er. Die, die denken, sie seien es nicht wert: Ihnen legt Gott einen Säugling vor die Füße. Ein Punkt in ihrem Leben. Nichts Großes. Nur ein Schrei. Zwei Hände. Zwei Füße. Eine Nase. Zwei Augen. Ein Mund. Ein Kind.

Augen auf für das Kleine in deinem Leben
Ein Punkt im Leben. In deinem Leben.
So ein Punkt in meinem Leben war ein Busfahrer hier in Pforzheim. Mein erstes Weihnachten hier. Meine erste Christvesper in der Stadtkirche. Und ich hatte meinen 10jährigen Sohn dabei. Ich weiß nicht mehr warum, aber wir hatten kein Auto dabei. Also Busfahren. Warum auch nicht. Als wir die Kirche verließen, schauten wir auf die Uhr. Oh, wir müssen uns beeilen. Der letzte Bus fährt gleich. Also rennen wir. Kommen an der Bushaltestelle an. Außer Atem. Der Bus kommt. Ich krame nach meinem Geldbeutel. Mist. Ich hatte ihn nicht dabei.
Der Busfahrer schaut mich und meinen Sohn an. Er wusste: Es ist die letzte Fahrt für heute. Und wir die einzigen Fahrgäste. Steigen Sie ein, grummelt er. Ich nehme Sie mit. Erleichtert setzen wir uns auf die Plätze. In meiner Manteltasche fühle ich einen Schokoweihnachtsmann. Paar Stationen später müssen wir aussteigen. Ich gehe nach vorne zum Busfahrer, gebe ihm einen Weihnachtsmann und sage: Frohe Weihnachten! Frohe Weihnachten, strahlt er zurück.

Ein Punkt im Leben. Ein Punkt, wo das Große aufblitzt. Das weite Herz. Der Mut zur Ausnahme.
Vielleicht auch heute. Wo du hier in der Kirche bist. Oder zu Hause auf dem Sofa. Oder am Tisch im Wohnheim. Und du zündest eine Kerze an oder viele. Lauter Punkte. Helle Punkte. Und sie leuchten für dieses Kind in der Krippe. Dieses Kind, das dir die Augen öffnet für das Kleine am Straßenrand der Welt.

Friede kommt aus dem Kleinen
Als die Sterndeuter zurückgehen, machen sie einen großen Bogen um das große Jerusalem.
Einen Bogen um den großen Königspalast und die großen Herren. Weil von dort nicht der Friede kommt. Sondern vom Kleinen. Vom Straßenrand. Von einem Stall, wo es nach Tierdung riecht. Wo Gott das erste Mal atmet und schreit, wo das Kind in der Krippe dich ansieht. Wo Hirten ihre weiche Seite entdecken. Von dort kommt der Friede. Und von einem Busfahrer, der dich mitnimmt auf deinem Weg durch diese Welt. Von dort? Ja, von dort.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Christiane Quincke

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Sehnsucht nach einem besonders festlich-feierlich-glanzvollen Weihnachten weicht schnell der Ernüchterung, dass das eigene Leben alles andere als „festlich“ ist. In diesem Jahr vielleicht besonders. Und wer weiß, wie viele Menschen dieses Jahr Weihnachten tatsächlich in einem feierlichem Gottesdienst in einer festlich geschmückten Kirche verbringen werden? Bestimmt weniger als je zuvor...

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Traditionsgeschichte von Bethlehem mit ihren verschiedenen „Stories“, die aus der Kombination „Was kann schon Gutes aus Bethlehem kommen“ entstehen. Die Gedanken von Tobias Kriener in „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext Reihe IV“ haben mich sehr beflügelt, den Gedanken des „Straßenrandes“ auszubauen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Das Schlichte und Schnörkellose, ja geradezu Unfeierliche von Weihnachten hat einen ganz eigenen Wert und steht quer zu unseren Erwartungen. Das ist kein „Stall-Kitsch“, sondern harte Realität. Und ich finde es wichtig, dass Menschen, die den „Kitsch-Erwartungen“ nicht genügen (und das sind die meisten), genau von ihnen befreit werden, um die Botschaft zu hören: Der Friede Gottes kommt genau zu dir!

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Bitte meiner Coach Stephanie Höhner, einigen Kitsch herauszunehmen, den ich noch drinnen hatte, ihre beharrlichen Rückfragen gegenüber manchen „Behauptungen“ und vor allem ihr Verdacht, dass die Busfahrer-Geschichte konstruiert sei: In einer ersten Version hatte ich sie nur angedeutet. Ihr Zweifel brachte mich dazu, diese Geschichte wirklich zu erzählen... Kurz: Es ist einfach sehr sehr hilfreich, eine Predigt durch andere Augen „sehen“ zu lassen, bevor sie an die Öffentlichkeit geht.

 

Perikope
24.12.2021
5,1-4