Anziehende Eigenschaften - Predigt zu Kol 3,12-17 von Kira Stütz
3,12-17

Wir hören den Predigttext mit Worten aus dem Brief an die Gemeinde in Kolossä:

12 So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; 13 und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! 14 Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. 15 Und der Friede Christi, zu dem ihr berufen seid in einem Leibe, regiere in euren Herzen; und seid dankbar. 16 Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen. 17 Und alles, was ihr tut mit Worten oder mit Werken, das tut alles im Namen des Herrn Jesus und dankt Gott, dem Vater, durch ihn.

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist, der da war und der da kommt.

Kleider machen Leute

Liebe Gemeinde,
„Last night I dreamed that somebody loved me“, steht tätowiert auf Mariias Hals. Ihr Gesicht ist gerahmt von Blumenranken, eine Spinne ziert ihr Dekolleté. Weitere Blumentattoos umspielen den linken Arm, unterbrochen von anderen Symbolen. Und auch sonst ziert den Körper der 24-Jährigen eine Collage von Bildern und Texten. Ihr Körper ist permanent gekleidet in schwarzer Tinte. Die Rede ist von Mariia Schawschenko und sie ist unter anderem als Model tätig, seit sie es bei „Ukraine’s Next Topmodel“ in eine der letzten Runden geschafft hatte. Von da an spielten Mode, Glamour, Make-Up und Nachtleben eine große Rolle in ihrem Leben. Doch dann kam der 24. Februar. Seitdem hat Mariia ihre teure Kleidung gegen legere Jeans und Langarmshirts getauscht. Sie trägt ihre Haare halb geschlossen, ihr Gesicht bleibt meist ungeschminkt. So kann sie besser in einem Café in Kyjiw Essen für die kämpfenden Soldaten kochen.

Predigttext in Schlaglichtern

Liebe Gemeinde,
erinnern Sie sich noch an die Epistellesung? Sie begann mit einer Aufforderung: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; […] über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ Es ist diese Kleiderordnung, die mich beim heutigen Predigttext nicht mehr loszulassen scheint.

Kleiderordnung

Mir gefällt Mode. Ich liebe individuelle Kleidung und passe mein Outfit häufig meiner inneren Stimmung an. Fühle ich mich aufgeschlossen und extrovertiert, wird es durchaus bunter und auffälliger. Möchte ich mich lieber zurückziehen oder in der Masse verschwinden, kleide ich mich unscheinbar. Mein Kleiderschrank platzt aus allen Nähten und meine Wohnung hat mehrere Krisenherde, an denen sich die unterschiedlichsten Schuhe türmen. Und das ist schon seit Kindheitstagen so. Bereits im Kindergarten bestand ich darauf, mir meine Kleidung aus dem Schrank selbst rauszulegen, in der Schule habe ich mit Kleidern über Jeans und T-Shirts über Pullovern herum experimentiert. Was ich anziehe und was ich damit ausdrücken will, ist ein zutiefst aktiver Prozess. Ich kann mit der Aufforderung aus unserem Predigttext deshalb grundsätzlich etwas anfangen: Zieht an! Kleidet euch bewusst! Lasst erkennen, dass ihr die Auserwählten Gottes seid!
Gleichzeitig haben die letzten Wochen etwas mit mir gemacht. Vieles in meinem Alltag fühlt sich angesichts der großen Krisen dieser Zeit unbedeutend und belanglos an. Neben Krieg, Pandemie und Klimakrise ist der Weg zum Kleiderschrank ein Witz. Die Frage nach dem passenden Outfit wird durch die Frage nach dem Leid in der Welt in die Bedeutungslosigkeit verbannt. Doch da es sich beim Predigttext nicht um eine Must-Have-Liste des perfekten Frühlingsoutfit in der Harper's Bazaar handelt, sondern um einen Wegweiser für ein friedliches Miteinander, will ich dieser Kleiderordnung eine Chance geben. „So zieht nun an […] herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; […] über alles aber zieht an die Liebe.“

Kleiderschrank des Friedens

Die Metapher des Anziehens ruft in mir unweigerlich den Kontext eines kindlichen Märchens auf:
Es war einmal ein kleines Mädchen mit strohblonden Haaren und bunten Sommersprossen im Gesicht. Ihr Name war Mia und sie lebte in einem kleinen Haus am Ende der Straße links. Eines Tages, als die Sonne den Mond ablöste, blinzelte Mia verschlafen mit ihren Augen, klemmte Mr. Teddybär unter ihren Arm und tapste im Nachthemd zu ihrem Kleiderschrank. Es war ein großer, dunkler Schrank mit schweren Holztüren. Sie quietschten beim Öffnen und Mia hatte allerlei Mühe dabei. Als die Türen nach einiger Anstrengung sperrangelweit auf standen, traute Mia ihren Augen nicht. An der Kleiderstange hingen die außergewöhnlichsten Dinge, die sie je gesehen hatte. Zögerlich griff das kleine Mädchen ein pelziges Gewand. Als sie es zwischen den anderen Kleidungsstücken herausgefischt hatte, ließ sie es vor Schreck fallen. Wieso um alles in der Welt befand sich in ihrem Schrank ein gruseliges Wolfskostüm? Auch die anderen Kleidungsstücke waren merkwürdig anzusehen. Ein Kleid schillerte in den buntesten Farben, ein anderes sah aus wie ein Trauerflor. Daneben hing ein knallroter Mantel sowie ein sonnengelbes Kleid, aber auch ein schwarzer Umhang mit wütenden Neonsymbolen war darin. „Das gibt es doch nicht!“, sagte Mia zu ihrem Teddy. Innerhalb einer Nacht hatte sich der Inhalt ihres Kleiderschrankes vollständig gewandelt. „Wie kann das denn sein?“ Plötzlich bemerkte Mia, dass auf den Kleiderbügeln Worte standen. Wie gut, dass unsere Mia schon lesen konnte. „Freundlichkeit“, stand auf dem Bügel des sonnengelben Kleides. „Angst“ auf dem des Wolfskostüms. Mia schaute sich auch die anderen Bügel an: Erbarmen, Demut, Hoffnungslosigkeit, Sanftmut, Neid, Geduld, Trauer, Freude, Hass, Liebe … Was hatte das nur zu bedeuten? Neugierig schlüpfte Mia in das schillerndbunte Kleid und ganz plötzlich war ihr, als hätte sie Schmetterlinge im Bauch. Mia wollte tanzen und singen, Freude erfüllte ihr Herz.

Liebe Gemeinde, an dieser Stelle hole ich Sie nun leider wieder aus dieser Kindheitsreise heraus. Wenn es nur so einfach wäre. Ein paar Schritte zum Kleiderschrank, das Outfit der positiven Eigenschaften übergestülpt und zack, der gute Mensch 2.0 steht vor Ihnen. Nur leider hängt in meinem Schrank keine Liebe, die ich einfach überstülpen kann.

Das Bild der anziehenden Eigenschaften

„So zieht nun an als die Auserwählten Gottes“. Anziehen, ein Wort, das zumindest im Deutschen eine doppelte Bedeutung hat. Was ich anziehe, kann auf andere anziehend wirken. Das ist auch mit Charaktereigenschaften so. Die Verhaltensweisen im heutigen Predigttext sind dabei die Crème de la Crème der guten Eigenschaften. Wie nur sähe diese Welt aus, wenn jede einzelne Person sich mit diesen Eigenschaften kleiden würde? Oder gar tätowieren? Die Tattoos von Mariia Schawschenko, die an eine unbeschwerte Zeit im Kyjiwer Nachtleben erinnern, kleiden Mariia auch im Keller des Cafés, in dem sie anpackt, um im Krieg zu helfen. Sie muss sich nicht jeden Morgen neu für die Tattoos entscheiden, sie begleiten sie vielmehr wie eine zweite Haut. Wie also sähe die Welt aus, wenn die Kleidung aus unserem Predigttext ebenfalls mit schwarzer Tinte für ewig an uns Menschen säße? „So tätowiert euch herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld und die Liebe.“ Eine einmalige Entscheidung für ein Leben im Frieden Gottes und unser Verhalten wäre von dauernder Liebe durchdrungen. Einmal tätowiert, wäre das friedvolle Miteinander omnipräsent. Aber wir wissen alle: So funktioniert das leider nicht. Davon zeugt die Gegenwart auf schmerzhafte Weise und, wenn wir ehrlich sind, auch unser eigener innerer Schweinehund. Es ist, als ob ich mich morgens vorm Schrank für das Kleid der Liebe entscheide, um es nur dann einige Stunden später vor lauter Ärger vom Leib zu reißen und meine Lieblosigkeit zu entblößen.

Die Chance des Neuanfangs

Mir gefällt das Bild des Ankleidens trotz aller Widrigkeiten im echten Leben sehr. Nicht nur, dass vor meinem inneren Auge gleich die Szene mit Mia erscheint, auch macht die Metapher für mich zwei Dinge deutlich: Da ist zum einen die bewusste Entscheidung, ein Leben in Sanftmut und Geduld zu leben – auch wenn ich an dieser Entscheidung immer wieder scheitern werde. Und zum anderen – und das fügt sich daran nahtlos an – bietet die Metapher des Einkleidens die Chance des Neuanfangs. Mindestens einmal täglich wechsle ich meine Kleidung, der Schlafanzug weicht dem Tagesoutfit. Und jeden Morgen neu habe ich die Chance, ein anderes Outfit zu wählen. Wird dieses über den Tag schmutzig, kann ich es auch währenddessen wechseln. Ich kann mir also vornehmen, in Liebe zu wandeln und ich kann daran scheitern. Und dann kann ich es wieder von vorne versuchen. Jeden Tag neu. Gottes Geist stärke mich dabei, sein Frieden regiere in meinem Herzen.

Ein Kleidungsgebet

Ich wünsche mir eine Welt voller Kleiderkammern und Outlets, Zalandopaketen und Concept Stores, die die Kleider des Erbarmens, der Freundlichkeit, der Demut, der Sanftmut, der Geduld und der Liebe allen Menschen zugänglich machen. Ich sehne mich danach, dass die Streitenden gekleidet sind in Frieden, die Hassenden in Liebe, die Hochmütigen in Demut und die Grantigen in Freundlichkeit. Und ich träume davon, dass dein Leib all diese Kleider und Gewänder trägt und in den schillerndsten und buntesten Farben strahlt, so hell und so klar, dass er auf die Menschen anziehend wirkt. Gegürtet mit der Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit. Und ich bitte für mich, dass ich meine triste Kleidung tausche, gegen die in Liebe getränkte Kleidung deines Friedens. Dazu verhilf mir mit deinem Frieden in meinem Herzen.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Kira Stütz

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Eine Kleinstadtgemeinde in Westfalen, die durch die ortsansässige Industrie geprägt ist. Der Gottesdienst findet in einer gemischten Form am Sonntagmorgen um Zehn Uhr statt. Der Predigttext wird als Epistellesung zuvor gelesen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Aus dem anfänglichen Gefühl, nur Rohmaterial zu haben und niemals ein Ganzes daraus entstehen lassen zu können, weil die Ostertage alle Zeit- und Kraftreserven verbraucht haben, ist mit der Hilfe meiner Predigtmentorin eine Predigt entstanden, die sich wie ein Phönix aus der Asche aus dem bereits vorhandenen Material geformt hat. Darüber kann ich nur staunen.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Selten war der Gang zum Kleiderschrank für mich so meditativ und inspirierend wie in den vergangenen Tagen. Für mich funktioniert die Metapher des Einkleidens sehr. Sich auch mental für den Tag zu rüsten und die Seele „einzukleiden“ ist ein Gedanke, der mich momentan im Alltag begleitet.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Durch den Mut meiner Predigtmentorin habe ich die zwei Stränge, die die Predigt einst prägten, aufgegeben und mich ganz der Kleidung verschrieben. Damit ist zwar das Proprium Kantate nicht mehr explizit Teil der Predigt, aber der künstliche Spagat zwischen Kleiderordnung und Singaufforderung ist einem roten Faden gewichen.

Perikope
15.05.2022
3,12-17