ARD-Fernsehgottesdienst zum Reformationstag 2015

Liebe Gemeinde,


"Freiheit jetzt!" – Ein Ruf, liebe Gemeinde, der ertönt durch die Jahrhunderte hindurch bis heute, bis in die Erstaufnahmeeinrichtungen für die Flüchtlinge.
Ein Ruf, den Jesus ernst nimmt: Er betet in der Synagoge. Im Gottesdienst steht er auf. Nimmt die Bibel und liest laut vor: Die Gefangenen werden befreit, die Gedemütigten aufgerichtet. Deren Herz gebrochen ist: sie werden geheilt. Und als er das Buch schließt, ruft er allen zu: Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt.


Jahrhundertelang hat diese alte prophetische Verheißung Menschen getröstet und aufgerichtet durch die Kraft der Hoffnung. Und jetzt: Gute Nachricht den Armen – heute. Frei sein – heute. Sehen können – heute. Das Gnadenjahr des Herrn: jetzt. Kein gebanntes Starren auf die Scherbenhaufen der Vergangenheit. Kein sehnsuchtsvoller Blick in die Zukunft. Statt irgendwann: heute. Ein wahrhaft neuer Realismus. Ein Realismus, der mit Gott rechnet hier in unserem Leben. Dynamischer Grund eines jeden Tages. Provokation eines Hier und Jetzt, das sich nicht zufrieden gibt mit dem, was immer schon so war. Von etwas Neuem spricht Jesus. Schon jetzt leuchtet es auf mit ihm - wie ein Stern in unsere Dunkelheit.

Die Lebensgeschichten, von denen wir gehört haben, erzählen davon: Kreisläufe von Macht und Unterdrückung, von Gewalt und Gegengewalt werden aufgebrochen. In Papua Neuginea, in Indien, in Deutschland, in Iran. Überall, wo das Wort Gottes in die Herzen der Menschen spricht. Und Raum schafft für Licht, Liebe, Leben. Oft in notdürftigen Verhältnissen. Unfertig. Aber diese Spielräume, die entstehen für Freiheit und Frieden, für Anerkennung, Würde und Teilhabe: Sie lassen sich nicht mehr kleinkriegen, wollen sich ausweiten. Kraft und Zuversicht gehen von ihnen aus, damals wie heute: Seit fast genau 500 Jahren. Seit Martin Luther und die anderen Reformatoren Gottes Wort wieder Wort Gottes für alle werden ließ. In jeder Sprache. Große Freiheit für jeden Tag. Das feiern wir heute am Reformationstag.

Die Reformation und die Eine Welt. Darum geht es 2016 auf unserem Weg zum Reformationsjubiläum. Gottes Wort und die Eine Welt. Dalit-Frauen – und Dalit-Männer und deren Kinder. Kastenlose also. Die Niedergedrückten. Sie können aufstehen. In der Bibel hören und lesen sie: Du bist wertvoll, Gottes geliebtes Kind. Sein Ebenbild. Einen unverfügbaren Wert hast du. Nicht durch Geburt, nicht durch Leistung, Nation oder Hautfarbe. Nein! Gott hat ihn dir geschenkt. Du trägst eine „fremde Würde“, so hat es Martin Luther gesagt. Und diese Menschen stehen auf. Die einstmals Zertretenen. In der Kirche. Gottebenbildlichkeit wird zum politischen Programm. Menschenwürde, Menschenrechte, die prinzipielle Gleichheit aller: Moderne Übersetzungen sind das für das biblische Wissen, dass der Mensch nur wenig niedriger geschaffen ist als

Gott. Und für die biblischen Geschichten von Jesus, der Ausgegrenzte und Entrechtet in seine Gemeinschaft aufnimmt, ihnen Würde, ihnen Rechte zuspricht und Anteilhaben lässt an der Fülle, die Gott allen verheißen hat. Jesus, der Gottes Reich aufrichtet, bei uns, mit uns– einem Samenkorn gleich, oft verborgen, aber real. Und darum dieser neue Realismus. Das Gnadenjahr des Herrn, das er verkündet: Freiheit den Unterdrückten und Kraft den Friedfertigen in der Einen Welt – für alle. Seine Mitarbeiter daran, das sollen wir alle werden. Jetzt.

Der alte Realismus von Angst und Aussichtslosigkeit, von Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit wird aufgebrochen von Gottes neuem Realismus: Blinde werden sehen. Lahme gehen. Die Gefangenen frei sein. Am Anfang dieses Monats haben wir zurückgeschaut auf 25 Jahre deutsche Einheit, zurückgeschaut auf das, was damals geschah. Ein Volk wie gelähmt. Niedergedrückt von der Schuld der DDR Ideologie, mit der sich viele selbst infiziert hatten. Und wir im Westen waren auch infiziert: vom Denken in Blöcken. Gut und Böse. Freund und Feind.

Und dann 1989: Das Volk beginnt sich zu erheben. Die Menschen holen sich Würde zurück. Aber sie ermächtigen sich nicht selbst. Kraft und Orientierung lassen sie sich in Gottesdiensten zusprechen. Die schärfste „Waffe“, lernen sie – das ist die, die keine ist: Interesse am Anderen, Nächstenliebe und der aufrechte Gang. Und dann gehen sie hinaus. Vom Wort Gottes ermächtigt. Und dann geschieht es hunderte von Malen auf den Straßen. Ein bis an die Zähne bewaffneter Staat schaut in die Gesichter von Menschen, die aufrecht gehen. Ihm brennende Kerzen entgegenhalten. Da kapituliert er. Vor Menschen, die auf Gottes Wort vertrauen.

Die persönlichen Geschichten in unserem Gottesdienst legen Zeugnis ab von der Dynamik eines Glaubens, der von Gottes Geist bewegt ist. Und der Grenzen überwindet, Zäune niederreißt, die zwischen Kulturen stehen. Dieser Glaube gibt sich nicht zufrieden mit dem, was unsere Augen sehen und mit dem, was wir scheinbar nicht ändern können. Der hält nicht still angesichts der Millionen Flüchtlinge auf dieser Welt; der schweigt nicht zu der Verfolgung und Bombardierung von Christen und vieler anderer Menschen, die um ihres Glaubens willen verfolgt werden; der lässt sich nicht beschwichtigen angesichts der Not auch in unserem Land: der Armut nicht weniger; der lässt sich nicht beruhigen angesichts erschreckender Ereignisse vor Flüchtlingsunterkünften, von Hass, der Häuser in Flammen setzt, hier bei uns! Der weiß: das Boot ist längst nicht voll und Gottes Atem ist lang. Der setzt auf die Agenda Gottes: auf die Liebe, die keinen Unterschied macht, die heilt, wenn es Not ist! Die sieht in jedem Menschen das Antlitz Gottes selbst und in jeder Not Leidenden den Gekreuzigten Herrn. Reformation und die Eine Welt: die Welt rückt zusammen. Gottes Wort lenkt unseren Blick über die eigenen Grenzen hinaus. Und wir sehen nicht nur die Not. Wir hören auch den Ruf nach Freiheit jetzt – und erleben uns vereint im Glauben und in der Kraft der Hoffnung.

Ich komme gerade aus Indien zurück. Dort haben mir Menschen gesagt: Wir sind dankbar, dass Eure Missionare das Evangelium zu uns gebracht haben. Wir haben viel gelernt. Aber nun muss diese Kirche indisch werden! Reformation und Eine Welt: Reformation in den verschiedenen Kulturen, Freiheit selbstbestimmt.
Manche Missionen – des Glaubens und der Wirtschaft - haben Jahrhunderte lang versucht, andere Kontinente nach ihrem Bild zu erschaffen, sie zu benutzen. Ihr habt Gott gespielt, sagt mein indischer Freund, wart aber natürlich nur Zauberlehrlinge. Ihr habt politische Strukturen nach Asien exportiert, die dort nicht hinpassen. In den letzten 25 Jahren ganz besonders in den Nahen und Mittleren Osten. Jetzt brechen diese künstlichen Gebilde zusammen und die Menschen strömen zu euch. Kein Wunder. Ihr habt euren Lebensstil als das Ideal angepriesen. Ihr seid ein Teil nur der Einen Welt – wie wir alle auch.

Umkehr ist notwendig. Gerade deshalb bin ich dankbar für die Vielen in Kirchengemeinden und zivilgesellschaftlichen Initiativen, die ihre Herzen und Türen öffnen für die Flüchtlinge. Ich bin dankbar für alle, die teilen mit denen, die verzweifelt sind und nicht wissen, wohin; die nicht fragen nach dem Woher, sondern die Not sehen. Beten und das Gerechte tun. Sie werden Ängste überwinden helfen. Und Zäune niederreißen.

Die weltweite Migration wird unser Land verändern. Wir Christinnen und Christen können diese Veränderungen mitgestalten. Ermächtigt vom Wort Gottes, das in unsere Herzen ruft: Fürchtet euch nicht! Nicht vor den Fremden; nicht vor den Veränderungen; nicht vor den eigenen Ängsten. Von einer Kraft zur anderen geht ihr unter dem Schirm dessen, der alles Leben schuf und euch leitet mit seinem Wort.

Wir Christen sind nicht frei, denen die Tür zuzuschlagen, die um Einlass bitten. Doch wir sind befreit, sie willkommen zu heißen, zu teilen, was wir haben: Geld und Brot, Freiheit und Frieden. Wir sind nicht frei, unsere Augen zu verschließen vor dem Elend in Afrika und Asien. Doch wir sind befreit, unseren Reichtum nicht auf der Armut dort aufzubauen. Damit der Friede Gottes sich ausbreiten kann als ein Dach über unserm Leben. Das Leben schaffende Wort Gottes selbst ist dies schützende Dach, unter dem alle wohnen können, ob sie schon immer hier waren oder jetzt um Asyl bitten. Es ist auch das schützende Dach für die Krisenregionen der Welt, damit sie Haus Gottes werden können für alle, die leben in der Einen Welt: "Freiheit jetzt!"
Amen
 

Perikope