Auf Adelers Fittichen sicher - Predigt zu 2. Mose 19,1-6 von Matthias Loerbroks
19,1-6

Im dritten Monat nach dem Auszug der Söhne und Töchter Israels aus dem Land Ägypten, genau auf den Tag, kamen sie in die Wüste Sinai. Sie zogen aus Refidim und kamen in die Wüste Sinai und lagerten in der Wüste. Dort lagerte Israel, gegenüber dem Berg. Und Mose stieg hinauf zu Gott – und der Ewige rief zu ihm vom Berg und sprach: So sprich zum Haus Jakobs, melde den Söhnen und Töchtern Israels: Ihr habt selbst gesehen, was ich getan habe an Ägypten; ich trug euch auf Adlerflügeln und ließ euch zu mir kommen. Und jetzt: Wenn ihr hört, hört auf meine Stimme und haltet meinen Bund, dann werdet ihr mir ein Sondergut aus allen Völkern. Denn mein ist die ganze Erde. Ihr aber, ihr sollt mir werden ein Königreich von Priestern, ein heiliges Volk. Dies ist die Rede, die du zu den Söhnen und Töchtern Israels reden sollst.

Ganz akribisch, mit genauen Zeit- und Ortsangaben wird hier von den ersten Schritten Israels nach der Befreiung aus der Sklaverei erzählt: Diese Befreiungsgeschichte ist keine zeitlose Wahrheit, nicht Bild, Symbol, Illustration für alle möglichen inneren und äußeren Befreiungserfahrungen, jedenfalls nicht nur. Sondern eine besondere Geschichte. Sie spielt in einer bestimmten Gegend, nämlich im Nahen Osten, auf der Halbinsel Sinai zwischen Ägypten und Israel. Deutlich wird auch: Israels Gott hatte sich bereits als Befreier und beschützender Begleiter seines Volkes bewährt, ehe er nun am Sinai einen Bund mit ihm schließt und ihm seine Gebote gibt. Erst die Befreiung, dann die Gebote. Oder, mit den theologischen Begriffen, die Martin Luther sehr beschäftigt haben: das Evangelium, die frohe Botschaft, hat Vorrang vor dem Gesetz. Das gilt für beide Teile der christlichen Bibel, für das Alte wie für das Neue Testament: Jesus beginnt seine Bergpredigt mit den froh und frei machenden Seligpreisungen, ehe er dann in derselben Rede auch Weisung gibt. Hier, in der Exodusgeschichte, wurde das Volk Israel auf erstaunliche Weise aus der Sklaverei befreit. Es hatte dann zwei Monate lang die Erfahrung gemacht, von dem Gott, der es befreit hatte, versorgt zu werden mit Essen und Trinken. Es hatte, offensichtlich mit Hilfe dieses Gottes, den Überfall von Banditen abgewehrt. Israel hatte Gott kennengelernt als einen, der befreit und der mitgeht mit seinem Volk, zeichenhaft sichtbar als Wolke und Feuersäule.

An diese Vorgeschichte erinnert Gott nun: Ihr habt gesehen, was ich getan habe an Ägypten. Israel hat etwas zu sehen bekommen – freilich nicht Gott selbst, aber seine Taten; Israel wurde durch mächtige Taten freigepresst. Und auf dem Weg zwischen Schilfmeer und Sinai hat sein Gott sich erwiesen als der, der dich auf Adelers Fittichen sicher geführet. Das Bildwort von den Adlerflügeln wurde in jüdischer Tradition verschieden gedeutet. Raschbam, Rabbi Schmuel ben Meir, paraphrasiert im Mittelalter: Schnell und sicher habe ich euch über das Meer und trockenes Land getragen, wie ein Adler über die Meere fliegt. Raschi, Rabbi Schlomo Itzchaki, ebenfalls im Mittelalter, einer der größten Theologen der jüdischen Geschichte, betont hingegen Gottes Hingabe und Opferbereitschaft: Alle anderen Vögel tragen ihre Jungen in ihren Klauen, weil sie Angst haben, ein anderer Vogel könnte über sie hinweg fliegen. Der Adler hat nur Angst vor dem Pfeil des Jägers, weil kein anderer Vogel höher fliegen kann als er. Deshalb nimmt er seine Jungen auf seine Schwingen: Soll der Pfeil lieber mich treffen als meine Kinder. Im 20. Jahrhundert deutet der Philosoph, Pädagoge und religiöse Sozialist Martin Buber das Bild als Einübung von Freiheit und Selbständigkeit: Adler bringen ihren Jungen das Fliegen bei, indem sie sie auf den eigenen Flügeln in die Höhe tragen, sie auffangen, wenn sie fallen. Kräftige und sichere Führung, Bewahrung und Schutz, pädagogische Leitung und Anleitung zum Selbstständigwerden – all das schwingt mit in diesem Bild von den Adlerschwingen.

Nun sind sie am Sinai angelangt. Hier hatte Gott aus einem brennenden Dornbusch heraus zum ersten Mal mit Mose gesprochen. Hatte ihn beauftragt, ihm seinen Namen erklärt. Alles, was Israel bisher erlebt hatte, war eine Auslegung, ein Erweis dieses Namens: Ich werde da sein, als der ich da sein werde; werde mit euch sein, wie immer ich mit euch sein werde. Das ist gemeint mit seinem Namen, der in Luthers Bibelübersetzung mit „HERR“ umschrieben wird. Der Name bezeichnet das Besondere an diesem Gott: das, was ihn von anderen Göttern und Mächten unterscheidet. Bereits bei dieser ersten Begegnung hatte die Stimme gesagt: Hier, an diesem Berg, werdet ihr mir dienstbar. Aus dem Frondienst der Sklaverei, aus dem Haus der Dienstbarkeit wird Israel befreit, um stattdessen diesem Gott zu dienen. Die Befreiung und Erwählung Israels ist Befreiung und Erwählung zum Dienst: Gottesdienst statt Sklavendienst. Der HERR, der Gott Israels, hat sich als Bundesgenosse dieses Volkes erwiesen, um dieses Volk zum Bundesgenossen zu gewinnen: Ich will euer Gott sein, ihr sollt mein Volk sein. Aus der Sklaverei befreit ist Israel bereits. Doch bevor es in das versprochene Land gelangt, erhält es hier am Sinai Weisung, damit es im neuen Land nicht zu ägyptischen Verhältnissen kommt. Weisung zum Leben, zum Bewahren der Freiheit. Die Freiheit besteht darin, diesem Gott zu dienen. Worin dieser Dienst im Einzelnen besteht, erfährt Israel hier, wenn es auf diese Stimme hört. Die Befreiung geschah bereits in Ägypten und am Schilfmeer. Zum Gottesvolk, zum kollektiven Bundesgenossen dieses Gottes wird es erst hier am Sinai.

Doch was mag das sein, ein Gottesvolk? Wozu braucht Gott ein Sondergut, ein besonderes Volk? Ihm gehört doch, wie er im selben Satz sagt, die ganze Erde; er ist es, der Himmel und Erde geschaffen hat. Alle Menschen aller Völker sind seine Geschöpfe. Warum und wozu erwählt er eines dieser Völker besonders und macht es zu etwas Besonderem? Und was haben wir aus den anderen Völkern mit dieser Geschichte zu tun? Was geht sie uns an?

Gott hat bei der Erwählung Israels, bei seinem Bund mit diesem Volk auch uns, die anderen Völker im Blick. Er zeigt in dieser besonderen Geschichte, wie er im Allgemeinen, im Ganzen ist. Er liebt alle Menschen, indem er Israel liebt. Diese besondere Geschichte geschieht stellvertretend für die Weltgeschichte, ist ihr roter Faden, ihre Mitte. Gott sagt selbst, wozu er Israel erwählt hat, wozu er ein besonderes Volk braucht, ein Sondergut; und auch, was das ist: ein Gottesvolk, ein heiliges, also ausgesondertes Volk: Ihr werdet mir sein ein Königreich von Priestern.
Das Wort Königreich verweist auf den Bereich der Politik. Dieser Gott interessiert sich nicht nur für Glaubensinhalte, nicht nur für Einzelne, nicht nur für Seelisches. Er strebt eine bestimmte Art gesellschaftlichen Zusammenlebens an. Er will Recht und Gerechtigkeit verwirklichen. Ein Königreich bedeutet: Die Art und Weise der Politik soll zeigen, wer regiert. Er hat darum ein Volk erwählt, nicht eine Religion, und hat ihm ein Land versprochen als materielle Grundlage einer neuen Gesellschaft.

Und diese Besonderung und Aussonderung geschieht stellvertretend für das Ganze: Dieses Volk soll ein Königreich von Priestern sein. Priester, für uns Protestanten ein fremdes Wort, das sind Menschen, die zwischen Gott und den Menschen vermitteln. Ein Priester vertritt Menschen vor Gott, distanziert sich nicht von den Gottlosen, sondern solidarisiert sich mit ihnen, spricht und handelt stellvertretend für alle. Er vertritt aber auch Gott bei den Menschen, tut seinen Willen kund, macht seinen Einfluss geltend. Vor allem: Er spricht Menschen Segen zu, Gottes fördernde, helfende und schützende Begleitung. Israel als ganzes, als Volk soll ein kollektiver Priester sein, soll vermitteln zwischen diesem Gott und allen Menschen, Kontakt herstellen. Die Völker kommen mit Gott zusammen, indem sie mit diesem Volk zusammen sind. Sie lernen diesen Gott kennen, indem sie auf diese besondere Geschichte aufmerksam werden.
Jedenfalls war das Gottes Ziel. Schon Abraham hatte er versprochen, seine Nachkommen werden ein Segen sein für alle Völker. Und im 5. Buch Mose wird in Aussicht gestellt, die anderen Völker werden aus dem Staunen gar nicht rauskommen angesichts Israels und seiner anderen Art des Zusammenlebens, seiner gesellschaftlichen Organisation. Die Propheten Jesaja und Micha, auch viele Psalmen künden an, die Völker werden zum Zion ziehen, um dort Weisung, Tora zu lernen.

Das jüdische Volk hat immer wieder versucht, die Last seiner Erwählung, diese Sonderrolle abzuschütteln. Es wollte lieber ein Volk wie alle anderen sein – was ihm aber nie ganz gelungen ist. Und die anderen Völker haben sich keineswegs von diesem besonderen Volk aufklären lassen über seinen besonderen Gott. Sie haben feindselig reagiert, es bekämpft, haben in seiner Erwählung keinen Segen gesehen. Sie waren gekränkt und eifersüchtig, nicht selbst erwählt zu sein. Und erwählten sich auch selbst – kaum ein Nationalismus kommt ohne Judenhass aus. Die Völker verstanden die Erwählung Israels als Ausdruck einer ungeheuren Arroganz dieses kleinen Volkes: als Erwählungsgedanken, Erwählungsbewusstsein, Auserwähltheitsanspruch. Israel fand und findet zwar in der Tat große Beachtung in fast allen Völkern, steht unter besonderer Beobachtung, aber nicht als Gottesvolk, als Segen und Licht der Völker, sondern als besonders verhasstes Volk.

Durch das Evangelium von Jesus Christus wurden Menschen aus vielen, aus fast allen Völkern auf die besondere Geschichte, auf die Beziehung zwischen Gott und diesem Volk aufmerksam. Doch auch die Christen aus den Völkern ärgerten und rieben sich an der Besonderheit Israels. Sie behaupteten, als Gottesvolk sei Israel abgelöst und ersetzt worden durch die Kirche. Juden als Juden bräuchte es nicht mehr zu geben, denn wenn sie in Jesus den Messias Israels erkennten, würden sie ja Christen werden und in der Kirche aufgehen. Das Kommen des Messias sei das Ziel, aber damit auch das Ende der besonderen Geschichte Israels.
Am heutigen Israelsonntag nehmen wir dankbar wahr, dass wir das nicht mehr glauben und denken. Wir haben entdeckt: Die Erwählung Israels ist ein wichtiges Thema unserer christlichen Bibel. Der Bund zwischen Gott und seinem Volk ist nicht gekündigt. Gott hält Israel die Treue – neben der Kirche, auch gegen sie. Die schiere Existenz des jüdischen Volkes, allen Versuchen, es auszulöschen, zum Trotz, ist uns ein sichtbares Zeichen der Treue Gottes, der auch wir trauen. Das ist eine frohe Botschaft – so viele sichtbare Zeichen dieser Treue haben wir ja nicht.

Wir wissen nun, dass wir durch unsere Abwertung alles Jüdischen, unsere Klischees von Juden beigetragen haben dazu, dieses Volk in aller Welt verächtlich und verhasst zu machen. Und wir haben uns auch selbst geschadet: Aus dem besonderen Gott der Bibel wurde ein Allerweltsgott, farblos und blass, ein Gott ohne Eigenschaften, ohne Ziele, ohne Geschichte. Doch nun haben wir erkannt: Der Versuch, Israel zu verdrängen, zu ersetzen und abzulösen, war ein Irrweg. Die kirchliche Rede vom Ende Israels, von seiner Beerbung durch die Kirche als neues Israel ist eine verhängnisvolle Irrlehre. Und die Rede von einer Überbietung des Alten Testaments durch das Neue ist das auch. Wir verstehen den Ort und die Aufgaben der Kirche nicht mehr anstelle, sondern an der Seite Israels.

So entdecken wir Christen aus den Völkern nun unsererseits eine priesterliche, eine vermittelnde Aufgabe. Wir werden zu Dolmetschern zwischen Israel und den Völkern, bitten die Völker an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott – und mit seinem Volk. Und diese Aufgabe ist dringlicher geworden. Das wurde im Frühjahr nicht zum ersten Mal, aber besonders dramatisch deutlich.

Alles, was Odem hat, lobe mit Abrahams Samen! Er ist dein Licht.

Amen.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Dr. Matthias Loerbroks

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Christen, die die Erwählung Israels als narzisstische Kränkung empfinden und darum leugnen, weghaben wollen.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Der Hass auf Juden in unserer Gesellschaft wird offener und tätlich, besonders deutlich während des Kriegs zwischen Chamas und Israel im Frühjahr. Auch in den Kirchen sind antijüdische Ressentiments nicht etwa nur noch da, sondern wachsend. Der nicht christlich motivierte Hass auf Juden hat nicht nur seine Wurzeln in der christlichen Judenfeindschaft, sondern findet da auch seinen Stoff.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gottes Treue zu Israel, die Existenz dieses Volkes außerhalb der Kirche und auch gegen sie ist frohe Botschaft für Christen aus den Völkern.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Kurze Sätze statt langer Sätze. Freundlich mit der Gemeinde reden: ihr zu Herzen.

Perikope
08.08.2021
19,1-6