Wir erinnern uns heute an den gewaltsamen Tod von Jesus. Wir haben einen der Berichte gelesen, was am Gründonnerstag und Karfreitag passiert ist, und haben uns daran gewöhnt, daß sie in der Bibel stehen. Es ist aber keineswegs selbstverständlich, daß die Umstände eines Justizmordes so ausführlich aufgeschrieben und dokumentiert wurden: Wie die Schülerinnen und Schüler mit Jesus zusammen Passa vorbereitet und das Lamm gegessen haben - das letzte Mahl, das zum Abendmahl werden würde. Die Gespräche beim Essen, die sich schon um Verrat und Tod gedreht haben. Wie einige aus der Gruppe die Nacht im Garten verbracht haben. Wie Jesus verhaftet wurde. Die verschiedenen Verhöre. Die Suche nach Belastungszeugen. Die Folter, das stundenlange Sterben, der Tod. Was mit seiner Leiche passiert ist. Wie seine Schüler_innen darum gekämpft haben, daß ihnen der Leichnam ausgeliefert wurde und sie den Toten begraben durften. Ausführlich erfahren wir auch von den Treueschwüren, von den Frauen, die tatsächlich bis zum Schluß nicht von seiner Seite gewichen sind, und von denen, die Jesus im Stich gelassen und verraten haben.
Gewalt liebt verschlossene Türen. Alexander Nawalny wurde in ein russisches Straflager im Polarkreis gesteckt. Kein Mensch sollte sehen, was sie mit ihm machen. Seine Worte sollten verstummen. Als die Behörden im Februar seinen Tod meldeten, machte seine Mutter sich dorthin auf, ihre Bilder gingen im Fernsehen um die Welt. In eisiger Kälte stand sie vor dem Gefängnistor. Das Leichenschauhaus, die Verwaltung - niemand wollte ihr Auskunft geben, wo der Leichnam überhaupt ist und wann sie ihn sehen kann. Um alles musste sie kämpfen, um einen Trauergottesdienst, um einen Friedhof, um eine öffentliche Beerdigung. Wie er wirklich starb, wird sie wohl nie erfahren.
Gewalt liebt verschlossene Türen. Täter haben ein Interesse daran, dass nichts nach außen dringt. Das ist bei häuslicher Gewalt so. Sowohl die alltäglichen Demütigungen als auch die Wut, die sich hinter der Wohnungstür austobt, lassen sich meist schwer aufklären. Überlebenden von sexualisierter Gewalt wird nicht geglaubt.
Mehr noch ist es bei staatlicher Gewalt so. Wie in Polizeistationen und Geheimdienstkellern in aller Welt geschlagen, gefoltert und erpresst wird, soll niemand erfahren. Manchmal verschwinden die Opfer gleich ganz und gar. Notdürftig hergerichtete und zusammengeflickte Gefangene werden vor die Presse geschleppt.
Wenn im Fernsehen trotzdem Blutergüsse zu sehen sind, soll das zur Abschreckung dienen. Oder die Behörden sind so unverfroren und von sich eingenommen, daß es sie nicht kümmert, wenn die Brutalität ihres Systems vor aller Welt gezeigt wird.
Im Allgemeinen versuchen sie aber, das Ausmaß zu verschleiern. Oder sie wenden solche Foltermethoden an, die keine Spuren hinterlassen. Sie präsentieren das Opfer äußerlich unversehrt: Seht, das Geständnis ist aus freien Stücken passiert.
Angehörigen, Anwältinnen und Anwälten oder Menschenrechtsorganisationen ist es meist unmöglich herauszubekommen, was in den Zellen tatsächlich vorging. Sie stoßen buchstäblich auf Mauern und auf den Korpsgeist von Polizei und korrupter Justiz. Auch später soll sich niemand erinnern. Weder an Nawalny noch an sonst jemanden.
Die Umstände der letzten Stunden von Jesus sind hingegen bemerkenswert gut dokumentiert. Das ist ein Akt des Widerstands. Es ist ein Akt des Widerstands, überhaupt in dieser Breite aufzuschreiben, was im Vorfeld jenes Passafestes Anfang der 30-er Jahre in der Hauptstadt einer abgelegenen Provinz des römischen Reiches vorfiel. Es ist ein Akt des Widerstandes, diese Berichte untereinander weiterzugeben und sie zu verbreiten und immer wieder daraus vorzulesen und daran zu erinnern.
Wie viel Mühe werden die Schüler_innen von Jesus gehabt haben, das alles zusammenzutragen? Wie oft werden sie zusammengesessen haben, um aufzuklären, wer was gesagt hat und wie die Abläufe waren?
Geschichtsschreibung erfolgt meist im Auftrag der Mächtigen oder ist Anliegen der Gebildeten, und sie gibt deren Perspektive wieder. Sie ist ein Privileg derer, die überhaupt schreiben und lesen konnten, je weiter zurück wir in die Vergangenheit schauen.
In der Bibel jedoch kommen die Opfer zu Wort. Verhaftung, Verhör, Demütigung, Tod werden klar als Unrecht benannt. Indem sich die Gemeinden davon über die Jahrzehnte immer wieder weitererzählt haben, indem sie es in den Evangelien ausführlich aufgeschrieben, vervielfältigt, vorgelesen haben, machen sie deutlich: Gott steht auf der Seite der Opfer.
Im Übrigen: Wie viel Mut werden sie dazu gebraucht haben? Die Römer waren ja nach wie vor an der Macht. Wie weit konnten sie in den Passionsberichten gehen, deren Beteiligung offenzulegen? Vieles konnten sie nur zwischen den Zeilen ausdrücken. Wenn Pilatus, der oberste Repräsentant der Römer, sagt: „ich wasche meine Hände in Unschuld“, wussten damals alle, was gemeint ist. (Mt 27,24). Er hat Jesus höchstpersönlich zu Tode verurteilt.
Wie zynisch Pilatus in Wirklichkeit war und welche Farce der Prozess, enthüllen sie, wenn Pilatus obendrein behauptet: „ich finde keine Schuld an ihm“ oder wenn er im Johannesevangelium mit dem Angeklagten bei einem Verhör über Wahrheit philosophiert. Wenn die Gemeinden das gelesen haben, werden sie bitter aufgelacht haben, ähnlich wie am 13.11.1989 viele Bespitzelte und Stasi-Opfer bei Erich Mielkes Worten „Ich liebe doch alle, alle Menschen“.
Gott ist bei den Geschlagenen und den Ermordeten. Gott geht mit denen, die nach den Verschwundenen suchen. Gottes Freund_innen lassen nicht locker, dass ihr Schicksal aufgeklärt wird. Gott solidarisiert sich mit gedemütigten Menschen, die hin und her geschubst, ausgetrickst und an den Rand geschoben werden.
Nein, Gott macht keine Opfer und fordert keine Opfer. Gott stellt sich auf die Seite der Opfer. Und Gott gibt ihnen ihre Würde zurück. Gott stellt sie ins Licht. Gott vergisst keinen ihrer Namen.
Paulus schreibt: „Wisst ihr nicht, dass alle, die in Jesus getauft sind, in seinen Tod hinein getauft wurden? Durch die Taufe sind wir mit ihm zusammen in den Bereich des Todes begraben.“ (Römer 6,3.4a) Taufe hat etwas mit diesem Sterben von Jesus zu tun. Der alte Adam, der alte Mensch soll im Wasser ersäuft werden, damit ein neuer ersteht, heißt es oft. Ich glaube stattdessen, Taufe in den Tod bedeutet, dass Jesus uns mitnimmt auf die Seite der Untergetauchten. Er zieht uns auf die Seite der Opfer. Wer getauft ist, soll nie vergessen, wohin Gott gehört und wohin wir gehören.
Die Welt der Reichen und Schönen gaukelt uns Wohlstand und Glück vor. Nur manchmal offenbart sie ihre Kehrseite, ihre brutale Seite. Sie profitiert von der Armut. Sie lebt davon, daß alle anderen ausgeschlossen sind. Alle, die nicht hineinpassen, die es nicht bis nach oben schaffen oder nicht mehr brauchbar sind, werden ausgespuckt. Sie basiert auf dem Ausschluss.
Gottes Welt ist eine inklusive. Bei Gott haben alle einen Platz, auch die im Schatten stehen, die sonst keine Chance haben. Die einfachen Leute, die Behinderten und die Armen. Die, die anderen nicht nach dem Munde reden und vor der Macht zu Kreuze kriechen.
Was Gott bei der Taufe zu Jesus gesagt hat, gilt für alle: Du bist mein geliebtes Kind, an dir habe ich Wohlgefallen. Dafür ist Jesus gestorben. Dafür ist er aufgestanden und hat dem Tod getrotzt. Und wir mögen es mit ihm. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Die Predigt ist im Blick auf eine interessierte Gemeinde in einer Kleinstadt konzipiert, bei der auch Mitarbeitende der Diakonie anwesend sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Es berührt mich, mit welcher Mühe und Akribie Menschenrechtsverletzungen von Betroffenen und Engagierten dokumentiert werden, manchmal unter Lebensgefahr.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie Widerstand, Mut und Solidarität sich hinter den Passionsgeschichten entdecken lassen.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Der Coach hat mich ermutigt, den ursprünglich sehr kurzen Bezug zu dem Tod von Alexander Nawalny etwas auszubauen.