Betreten wärmstens empfohlen!
28,10-17

Betreten wärmstens empfohlen!

Liebe Gemeinde hier im Fraumünster und zuhause.  Es gibt einen markanten Berg im Berner Oberland, Niesen heisst er, und markant ist er, weil er vom Thunersee aus gesehen in etwa die Form einer Pyramide hat. Deshalb wird er neuerdings unter dem Label „Swiss Pyramid“ vermarktet. Zwei Wanderwege führen da hoch, der eine ist ziemlich steil, der andere schlängelt sich gemächlicher hinauf. Natürlich gibt’s auch eine Bergbahn. Meine Frau aber lotste mich im letzten Jahr freundlich, aber bestimmt an der Talstation vorbei, zu Fuss sollten wir da hochsteigen. Das rege den Kreislauf an und sei gesünder. Und tatsächlich, nachdem wir da hochgeschnauft waren, genossen wir den grandiosen Blick auf den Thunersee und auf die Hochalpen gleich doppelt.

Als nach dem Verschwinden der Sonne ein eisiger Wind einsetzte, habe ich meiner Frau mit Hinweis auf meine Knie - ebenso freundlich und bestimmt wie sie - eine Talfahrt mit der Niesenbahn vorgeschlagen. Bald waren wir glücklich im Bähnchen. Mein Blick fiel sogleich auf eine solid-gerahmte Tafel mit den üblichen Angaben zu den technischen Daten – 1910 erbaut, 3499 Meter Gesamtlänge, Steigung 68%  - und dann, fett und feierlich hervorgehoben: „Mit 11674 Stufen ist die Treppe entlang der Niesenbahn gemäss Guinness Buch der Rekorde  die längste Treppe der Welt.“ - ein Hammer, nicht? In unserer kleinen Schweiz diese Weltrekordtreppe!

Als Theologe und Pfarrer kam mir jedoch bald der Gedanke: Haben denn die noch nie von der biblischen Jakobsgeschichte und von der Himmelsleiter dort gehört? Die war bestimmt länger als jene dann doch eher bescheidenen 11674 Stufen unserer Swiss Pyramid… Zuunterst aber auf jener Tafel der Hinweis – und das ist nun nochmals ein echter Hammer: „Das Betreten der Treppe ist aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt.“ Vielleicht gibt’s ja auch ein Guinness Buch der besten unfreiwilliger Scherze… Bei der Himmelstreppe, da bin ich mir gewiss, gibt es garantiert kein solches Schild: Betreten verboten. Im Gegenteil, die Jakobsgeschichte will uns ja gerade sagen: Betreten der Himmelsleiter ausgesprochen sinnvoll und empfohlen. Die Jakobs-Geschichte und diese Himmelsleiter hat viele Theologen und Künstler inspiriert – ein Urbild seelischer Aufstiege, der überwältigenden Erfahrung neuer Hoffnung, neuen Lebens. Man könnte sagen: da sieht einer die Lichter am ewigen Horizont wieder. Es gibt ein mystisches Buch des heiligen Bonaventura aus der Zeit vor der Reformation, das genau von diesem Aufsteigen der Seele handelt: Stufe um Stufe, Sprosse um Sprosse beschreibt er den Aufstieg des Geistes zu Gott – ein Klärungs- und Reifungsprozess… Auch den Reformator Calvin hat dieses Wortbild beflügelt– bei ihm ist der Aufstieg deutlicher auf unser Tun und Wirken in der Welt bezogen, step by step – aber auch bei ihm ist klar: es handelt sich um ein menschliches, inneres Wachstum.

Und kein Wunder, waren Künstler von dieser Himmelsleiter begeistert: Unendlich viele Gemälde und Zeichnungen gibt es. – Hinreissend ist die Darstellung Marc Chagalls im blauen Jakobsfenster hier im Fraumünster. Eindrücklich, wie Jakob unten als Schlafender zu sehen ist – und eine fein geschwungene Himmelsleiter von seinen Füssen bis in den Himmel aufragt – Was für ein Sinnbild! Was für eine wunderbare Geschichte! Denn jeder von uns trägt solche Sehnsuchts-Bilder in sich. Hoffnungsvolle Bilder von einem Aufstieg, von Sprossen und Stufen in seinem Leben, die zu etwas Gutem, Edlen, Reinen hinführen. – Ich meine nicht Karriereschritte, sondern die Hoffnung, menschlich zu wachsen. Man muss ja nicht gerade ein Heiliger werden, aber ich für meinen Teil bin glücklich dann, wenn ich etwas von der Kraft des Heiligen in meinem Leben wiederfinde und daran teilhabe, wenn bei mir persönlich ein Stück Himmel auf die Erde kommt. Ich jedenfalls bin dann am glücklichsten, wenn ich meine Trägheit, meine Selbstbezogenheit überwinden kann – und ich an etwas Guten, etwas menschlich wirklich Gutem mittun kann, nicht in Siebenmeilenstiefeln, aber Schritt für Schritt in eine gute Richtung. Betreten wärmstens empfohlen also - so sagt uns die Jakobsgeschichte -! Denn es handelt sich hier um eine himmlische Leiter. Warum hilft sie Jakob aus einer persönlichen Sackgasse heraus? Weshalb öffnen sich ihm hier neue Horizonte?

Kehren wir zurück zur Jakobsgeschichte. Wichtig ist nun, dass wir uns die Vorgeschichte dieses Traums von der Himmelsleiters vor Augen führen: Jakob ist keineswegs ein gemütlicher Schläfer und ein friedlich Schlummernder, als er in Bethel den Schlaf sucht:  Mit sich selbst entzweit, mit seinem Bruder entzweit und in einen schrecklichen Streit verwickelt – und ich vermute: auch mit Gott entzweit – so elend muss es Jakob zumute gewesen sein, als er sich damals in Bethel auf den nackten Boden legt, um Ruhe zu finden. Seinen Kopf bettet er nicht auf ein Kopfkissen, sondern auf einen harten Stein, denn er hat kein Dach über dem Kopf, er ist auf der Flucht. Auf der Flucht ist er, weil er zweimal seinen Bruder betrogen hat, und dies recht hinterhältig: Zuerst hatte er eine Schwäche seines Zwillingsbruders Bruders Esau ausgenützt, und ihn in einer kleineren Erbschaftssache massiv über den Tisch gezogen – das ist die Geschichte mit dem Linsengericht. Dann setzte er noch eins drauf eignete sich raffiniert und mit gekonntem Betrug den ganzen Familienbesitz an, das ist die Geschichte mit dem väterlichen Segen. Was natürlich sofort zu einem Riesenkonflikt führte: Nun droht Esau seinem Bruder, das werde er nicht lebend überstehen, und Jakob muss flüchten.

So liegt Jakob nun als Flüchtling dort in Bethel am Boden: Auf der Flucht vor seinem Bruder, vor allem aber flieht er vor sich selbst und seiner Vergangenheit. Denn ungestraft setzt man sich nicht über alle Regeln und Gesetze hinweg, skrupellos, nur um des eigenen Gewinns und Erfolgs willen... Und lange hält man solches nicht durch: Einsam, unter freiem Himmel legt sich er auf den nackten Boden, sucht Schlaf und versinkt bald in einen Traum. Was für einen Traum träumt Jakob wohl? Ich von mir aus hätte gesagt: Der hat garantiert einen Albtraum! Er träumt, dass sein Verfolger Esau sich ihm bedrohlich nähert, er mit Bleifüssen kaum vom Fleck kommt... Geschähe es ihm nicht recht, diesem Streber und Betrüger, wenn er nun wirklich eingeholt würde, wenigstens im Traum? Tatsächlich aber träumt der Mann, dass der Himmel über ihm offen steht, weitgeöffnet, und eine lange Leiter vom Himmel bis zu seinen Füssen herunter: Und auf dieser Himmelsleiter sieht er Engel hinauf und herunter steigen, die Boten Gottes! Und er hört eine Stimme, die zu ihm spricht und sagt: hab keine Angst, ich beschütze dich, schenke dir meinen Segen. Du hast Zukunft und Hoffnung, denn aus dir und deinen Kindern wird ein grosses Volk werden. Der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schiesst: Was für ein frecher Typ - unverschämt dieser Jakob! Der zweite Gedanke: psychologisch gesprochen ist das doch ein geradezu klassisch illusionärer Wunschtraum – der sieht auch jetzt noch nicht die Realität, sieht nur sich, seine Zukunft, noch im Traum ist er ein Schwindler...

Liebe Gemeinde, dieser Traum von der Himmelsleiter ist eine der stärksten Geschichten des Alten Testaments. Die Bibel erzählt sie, weil dieser Traum für den Jakob einen Wendepunkt markiert, eine Gotteserfahrung im Traum, die sein Leben grundlegend verändern wird. Von jetzt an wird er vor seinem Bruder nicht mehr flüchten, sondern er stellt sich seiner Vergangenheit, er sucht Versöhnung und Frieden mit seinem Bruder Esau.

Marc Chagall stellt diese dramatische Szene hier im Fraumünster eindrücklich dar: Unübersehbar zwischen den schlafenden Jakob und die Engel auf der Himmelleiter hat er eine späteres Kapitel der Geschichte hinein-gemalt, nämlich den Kampf Jakobs mit dem Engel. Richtig dazwischen hineingeschoben, damit wir die Dramatik der Situation nicht vergessen: Nach dem überwältigenden Traum muss Jakob selbst etwas tun, allen Mut zusammennehmen und zu Esau gehen. Mitten im Grenzfluss Jabbok, den Jakob überqueren muss, um zu Esau zu kommen, mitten in jenem Fluss muss er einen Kampf bestehen– und jetzt realisieren wir: So ganz einfach war das nicht, Jakob ringt mit dieser dunklen Gestalt, er ringt mit sich, vielleicht mit seiner Angst und seinem Zweifel. Er muss sich seiner Geschichte stellen. Er muss sich selber, seine Ängste, seine Scham, seine Verzagtheit überwinden, und vor allem eben: er muss nun selber handeln und etwas tun, um Frieden zu finden mit seinem Bruder. Und so besteht dieses Ringen, und dann gelangt er ans andere Ufer des Flusses und geht zu seinem Zwillingsbruder Esau, und ihn um Versöhnung zu bitten. Und grossartig, wie Esau seinen Bruder von weitem kommen sieht, ihm entgegenläuft und ihn in die Arme schliesst – ein bewegendes Happy End.

Betreten der Himmelsleiter also empfohlen, liebe Gemeinde. Für Jakob ist ebenso klar, wie es für uns alle klar sein dürfte, dass man auf Himmelsleitern nicht in den Himmel steigen soll… Himmelsleitern sind nicht dazu da, dass wir abheben und in luftige Höhen steigen, wo es kalt und die Luft dünn ist. Himmelsleitern führen uns, wie die Jakobsgeschichte zeigt, zu unseren Mitmenschen zurück, sie machen uns mutig und zuversichtlich, wenn es um Frieden und Versöhnung geht. Wir sollten unsere Füsse schön auf dem Boden behalten. – Himmelleitern erneuern die Verbindung zu Gott  – und wenn die stimmt, dann gibt es keinen Grund, mutlos und verzagt zu sein. Aber grundlegend ist jener Moment, wo Jakob aufwacht und seinem Traum und der Stimme vertraut – darauf vertraut, dass es Gott ist, der ihn auf diesen Weg des Friedens und der Versöhnung setzt. Himmelsleitern zeigen uns jenes weite und fruchtbare Land wirklicher Menschlichkeit  – ein Ausblick und ein Panorama wie oben auf dem Niesen, eine herrliche Aussicht, nur tiefer, grösser, und auch hier gilt: betreten empfohlen.

Amen.