„Die Geschenke, die ich als Kind an Weihnachten bekam, habe ich alle schon vergessen. Aber Jahr für Jahr stellt sich für mich zur Weihnachtszeit ein besonderes, unverwechselbares Gefühl ein; das verliere ich nie (...) die Weihnachtsgeschichten und -lieder tragen mich jedes Jahr wieder in der Erfahrung des Besonderen.“ Diese Worte des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm kann ich nachempfinden. Weihnachten hatte auch für mich als Kind immer etwas Geheimnisvolles an sich; es waren ganz besondere Tage, voller Magie und Staunen: Was verbirgt sich wohl hinter den Türchen im Adventskalender? Wie kann ein „Ros‘ entspringen aus einer Wurzel zart und ein Blümlein bringen mitten im kalten Winter“? Auf welchem Weg schleicht sich das Christkind ins Haus? Auch wenn ich mittlerweile längst das Geheimnis um Christkind und Weihnachtsmann gelüftet habe, bleibt jedes Jahr etwas von diesem Zauber, diesem ganz besonderem Glanz, der auf den Weihnachtstagen liegt, so als sei das Staunen aus meiner Kinderzeit nie ganz vergangen.
Als Kind ist man vielleicht offener für die magischen Momente im Leben; man trägt in sich noch ganz unverstellt die Ahnung, dass in den kleinen Dinges etwas Großes - ein Geheimnis - verborgen ist: Das zerbrechliche Wachsgesicht des alten Weihnachtsengels, der Lamettafaden, der sich wie feingesponnenes Gold um die Tannennadeln wickelt, der Duft von Plätzchenteig an den Händen meiner Mutter - aus solchen Momenten sind jene Sternstunden gewoben, die mit ihrem ganz eigenen Glanz unser Herz streifen und ein Geheimnis in sich zu tragen scheinen.
An einen Abend erinnere ich mich ganz besonders: Ich war ein kleines Kind und es war ein strenger Winter – jener Winter, in dem unsere Heizung über Weihnachten ausgefallen war. In unserer Weihnachtsstube stand ein kleiner Heizlüfter, der aber nicht wirklich gegen die Kälte ankam. Alle hatten ihre festliche Weihnachtsbekleidung gegen warme Pullover eingetauscht. Wir boten eine recht eigenwillige Festtagsgesellschaft: tropfende Nasen, klamme Finger um heiße Kakaobecher geklammert und dicke Pudelmützen über der Festtagsfrisur. Irgendwann machte mein Vater das Licht aus und zauberte ein Kleinfeuerwerk aus der Jackentasche, jene kleinen funkensprühenden stabförmigen Feuerwerkskörper mit dem Draht dran, den man in der Hand halten kann. „Wunderkerzen“, auch „Sternenfeuer“, „Sternenwerfer“ genannt. Ganz einfach und preiswert. Zwei Minuten Brenndauer sind lang genug für ein kleines Wunder: Das Aufflackern von tausend Sternen, das Knistern der Funken, der Schein des Lichts auf unseren lachenden Gesichtern, der Geruch von Feuerwerk, die Rauchfiguren, die sich verteilen und irgendwann im Nichts verlieren, all das bleibt unvergesslich. Ein Hauch von Magie, eine Sternsekunde, und das Wissen um ein Geheimnis tief in uns: Gott ist da - mitten unter uns, bei unseren tropfenden Nasen und klammen Händen. Dieses Wissen hat unsere kalte Stube und unsere lachenden Herzen in „magische Orte des Absoluten und der Transzendenz [verwandelt], wo das Wort ein Gesang, das Gehen ein Tanz ist, den es nicht gibt auf Erden. Aber wir gehen ihm entgegen (Michel Houellebecq).“
Es gibt dieses Besondere, diese offenen Geheimnisse, das weiße Feuer zwischen den schwarzen Zeilen. Manchmal spüre ich in mir die „Gewissheit das Schöne zu finden in allem was lebt“ (Dorothee Sölle). Leben erschöpft sich nicht in dem, was an der Oberfläche und offensichtlich ist. „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns und wir sahen seine Herrlichkeit“ (Joh 1,14). Seit Gott in die Welt gekommen ist, ist alles durchzogen von seiner Gegenwart. Seitdem leuchtet im Dunkel verborgen das Licht, seitdem ist etwas im Menschen heil allem Unheil zum Trotz. Das Geheimnis von Weihnachten: Leben ist mehr, als es auf den ersten Blick scheint, in der Tiefe jeden Lebens ist Gott, unsichtbar, verborgen vielleicht, aber er ist da. Das verändert alles. „Weil Gott in tiefster Nacht erschien, kann unsere Nacht nicht endlos sein.“ (EG 56) Groß ist dieses Geheimnis des Glaubens und es ist heute geoffenbart, hell und klar! Aber wie oft in unserem Alltag sehen wir es nicht mit unseren verfinsterten, verkrümmten und verstockten Herzen! Wie oft sehen wir nur das Dunkel in uns und um uns herum? Wie oft verschließen wir uns vor der Herrlichkeit des Lebens? Wie oft kreisen wir nur um uns selbst, verlieren uns im Kleinen, ohne nach der leuchtenden Tiefe zu fragen, das unser Leben durchzieht? Ein Rabbi hat einmal gesagt. „Wehe, die Welt ist voll gewaltiger Lichter und Geheimnisse, und der Mensch verstellt sie sich mit seiner kleinen Hand.“
Ich habe in den Wochen des Advents jeden Tag versucht, offen zu sein für die gewaltigen Lichter und kleinen Geheimnisse und wieder wie ein Kind das Staunen einzuüben. Das war in der Hektik nicht immer leicht, zwischen all den großen und kleinen Sorgen, die uns ja alle auf unterschiedliche Weise herausfordern und bisweilen auch niederdrücken. Aber ich habe mir vorgenommen, „nicht müde [zu] werden, sondern dem Wunder leise wie einem Vogel die Hand hin[zu]halten“ (Hilde Domin). In der „Gewissheit das Schöne zu finden in allem was lebt“ bin ich jeden Tag eine halbe Stunde durch meine Wohnung, durch die Stadt oder die Natur gegangen, um einen Moment mit ganz eigenem Zauber aufzuspüren und „leuchtende Wurzeln der Sehnsucht aus der Tiefe [zu] heben“ (Nelly Sachs). 24 Fotos habe ich auf meinem Smartphone festgehalten. 24 Lichter und Geheimnisse. 24 Spuren Sternenstaub: Eine Rosenknospe im grauen Novemberpark. Ein abgeliebter Teddybär auf einer Fensterbank. Zwei Blätter an einem Ast im Spiel mit Licht und Wind. Die Karte mit dem Engel im Bücherregal, die mir vor langer Zeit Trost gespendet hat. Das vertraute Lächeln meines Mannes beim Lesen. Bunte kleine Gummistiefel in der Kita an einem Regentag. Der zartviolette Morgenhimmel. Ein Blumenstrauß, behutsam in die Arme eines Grabengels gelegt. Das warme Leuchten des Herrnhuter Sterns in einer dunklen Gasse. 24 Fotos. 24 x die Ahnung, dass sich das Leben nicht in dem erschöpft, was an der Oberfläche und offensichtlich ist. 24 x die Ahnung, dass in der Tiefe eines jeden Lebens ein Geheimnis leuchtet.
Der Schriftsteller Franz Kafka hat einmal einen wunderschönen Gedanken formuliert. „Es ist sehr gut denkbar, dass die Herrlichkeit des Lebens um jeden und immer in ihrer ganzen Fülle bereit liegt, aber verhängt, in der Tiefe, unsichtbar, sehr weit. Aber sie liegt dort, nicht feindselig, nicht widerwillig, nicht taub. Ruft man sie beim richtigen Wort, beim richtigen Namen, dann kommt sie.“ Ein Name ist dieser Tage in aller Munde, heute klingt er hell und klar: Wunder-Rat, Friede-Fürst, Gott-Held, Jesus Christus, „offenbart im Fleisch, gerechtfertigt im Geist, erschienen den Engeln, gepredigt den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit“ (1 Tim 3,16).
Amen