Das Lebenslied - Predigt zu BWV 106 „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“ und Jesaja 38,10-20 von Kathrin Oxen
38,10-20

Der Tag, dessen Kalenderblatt ein anderer abreißt

Einmal kommt ein Tag. Der hat angefangen, wie Tage eben so anfangen. Oder wollte aufhören, wie Tage eben so aufhören. Der Morgen und das Frühstück. Das Tagwerk, noch von anderen bestimmt oder schon selbst gewählt. Dazwischen oder danach die Ruhe. Der Tisch mit dem Brot, der Wein im Glas, der Abend, die Nacht, der Schlaf.
Irgendwann, an einem dieser ganz normalen Tage, wirst du die Stimme hören. Sie ist ruhig und tief. Sie singt das Lied vom Tod: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.“ Sie singt dir das ins Ohr, wie selbstverständlich, als wüsstest du das schon. Und du weißt es ja auch, schon lange weißt du das.
Aber du konntest trotzdem nicht wissen, wie es sein würde, wenn es soweit ist. Dein Herz flattert wie ein Vogel und eine kleine Melodie übertönt alles andere. „Du wirst sterben“, zwitschert sie, „du wirst sterben und nicht lebendig bleiben.“
Einmal kommt der Tag. Jeder von uns weiß, dass es so ist. Und keiner von uns weiß, wann es soweit ist. Und was soll man sich eigentlich wünschen für diesen Tag?
Noch das Haus bestellen können vorher, noch Abschied nehmen können? Aber auch Abschied nehmen müssen, von allem und von allen?
Oder lieber schnell fortgerissen werden, von allem und von allen? Einmal kommt der Tag, dessen Datum du nicht liest in der Zeitung, dessen Kalenderblatt ein anderer abreißt (Rudolf Otto Wiemer).

 

Der König ist krank, der König wird sterben

Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben. Mit ruhiger Stimme hat der Prophet Jesaja dem König Hiskia diese Worte ausgerichtet. Der König ist krank, der König wird sterben. Hiskia steht vor diesen Worten wie vor einer Wand. Sie schieben sich zwischen ihn und die Welt. Sie nehmen ihn weg von allem und weg von allen.

Ich sprach: In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. (Jes 38,10f.)

So geht es mir, sagt Hiskia. Ich werde weggenommen von allem und von allen. Das geht ganz schnell. Ich bin wie ein Zelt, das einfach zusammensinkt, obwohl es doch so mühsam aufgebaut worden ist. Löse einen Pflock, nimm eine Stange weg und auf einmal liegt alles am Boden.
Ich bin wie ein Stück fertiger Stoff auf dem Webstuhl. Plötzlich sieht dem niemand mehr an, wie sorgfältig da Reihe an Reihe, Jahr an Jahr geschoben worden ist. Wie schmal doch dieses Stück Leben am Ende ist. Und irgendwann schneidet einer den Faden ab und rollt das Stück Leben zusammen und nimmt es mit, wer weiß wohin.
Und es ist egal, ob es nun der goldene Faden eines Königs ist oder ein ganz gewöhnlicher Faden. Ob es der König Hiskia ist oder ob ich es bin. In ihm leben, weben und sind wir, solange er will. In ihm sterben wir zur rechten Zeit, wenn er will. (BWV 106,2a Coro).

 

Morgen früh, wenn Gott will?

Wenn er will – das klingt nach. In der Kantate und in mir. Schon als Kind habe ich mich gefürchtet vor der Zeile im Abendlied: „Morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt.“ Wenn ich nicht einschlafen konnte, dann habe ich nachgedacht, ob Gott sich das vielleicht gerade überlegt: Mich nicht mehr aufwachen zu lassen.
Und jetzt, in der sogenannten Mitte meines Lebens, kommt diese Kinderangst manchmal zurück, nachts, wenn ich nicht schlafen kann.
Wohl jeder von uns hier kennt einen Menschen, der in der Mitte des Lebens gehen musste. Heute werden in allen Gottesdiensten die Namen der Toten genannt und oft auch die Zahl ihrer Jahre.
Ich denke heute an einen, den wir in diesem Jahr begraben mussten, der einfach weggenommen wurde von allem und von allen. Wie vor einer Wand standen wir vor seinem Tod. Die rechte Zeit war das nicht. Die allerbeste Zeit schon gar nicht. Auch wenn es Gottes Zeit gewesen sein mag.
Wenn Gott will. Das klingt nach. Einmal wird mein Name genannt werden und die Zahl meiner Jahre. Ich habe es nicht in der Hand.

Tag und Nacht gibst du mich preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! (Jes 38,13f.)

 

Fünfzehn Jahre

Der König ist krank, der König wird sterben. Hiskia hört das Lied vom Tod in der Mitte seines Lebens. Wie eine Wand steht das vor ihm. Und sein Herz ist wie ein kleiner flatternder Vogel.
Aber dann sagt Gott: Gut, Hiskia, du hast recht. Das ist noch nicht die rechte Zeit. Das ist zu früh. Du bekommst noch fünfzehn Jahre dazu. Du darfst noch weiter wohnen in diesem Zelt, das dein Leben ist. Du kannst noch ein bisschen weiter weben am großen Webstuhl.
Ich kenne einen, der war sehr krank. Ich wusste nichts davon und als er mir das gesagt hat, da hat mein Herz geflattert wie ein Vogel. Er weiß, dass er jetzt geschenkte Jahre lebt. Er lebt sie nicht anders, als er vorher gelebt hat, er reist nicht in der Welt herum oder hat wilde Affären. Aber ich finde, er lebt diese geschenkte Zeit sorgfältig. Er hat sich eine sehr schöne neue Wohnung genommen, als Zelt. Für den Morgen und das Frühstück, das Tagwerk, die Ruhe, das Brot auf dem Tisch und den Wein im Glas.
Sein Lebensmuster hat sich nicht geändert. Aber er wählt aus, welche Fäden er aufnimmt. Ob er noch einmal fünfzehn Jahre bekommen hat, weiß er nicht, aber es ist auch nicht wichtig. Fünfzehn Jahre, das ist einmal lebenslänglich. Und alle unsere Jahre sind geschenkte Zeit. Die Stimme singt uns das ins Ohr: Ach Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf das wir klug werden. (Ps 90,12)
Hiskia kann den Faden noch einmal aufnehmen. Er lebt weiter, er webt weiter. Seine Jahre sind geschenkt und begrenzt, sie sind gezählt und kostbar. Der König war krank, der König wird leben. Und er singt ein Lebenslied:
Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. (Jes 38,18-19a)

 

In der Mitte

Wenn du einen Menschen kennst, der in der Mitte des Lebens gehen musste. Oder wenn du einen Menschen kennst, der die geschenkten Jahre lebt. Dann bist du in der Mitte des Lebens angekommen. Dabei zählt nicht, wie viele Jahre du schon hinter dir hast. Johann Sebastian Bach war erst zweiundzwanzig, als er diese Kantate schrieb. Da war seine Mutter schon viele Jahre tot. Er war schon lange klug geworden. Schon als Kind, das sich fürchtet in der Nacht. Weil es weiß, dass die Mutter nicht wieder aufgewacht ist am Morgen.
Und darum hat er noch eine andere Stimme hineingeschrieben in seine Kantate. Sie erklingt in der Mitte der Kantate, in der Mitte des Lebens. Sie singt dazwischen und dagegen, mit aller Kraft, hell und klar gegen die anderen Stimmen. Die würden das Lied vom Tod immer weiter singen: Du musst sterben.
Aber die Stimme singt dagegen an: Ja, komm Herr Jesu, komm! Wie ein klagendender Vogel auf dem Dach (Ps 102), wie ein Hilferuf hört sich das an.
Komm, Jesus. Du hast den gleichen Faden aufgenommen wie wir. Du hast gelebt, wie wir leben, am Morgen, am Abend, mit Brot auf dem Tisch und Wein. Du weißt doch, wie das alles ist.
Und dein Leben wurde dir weggenommen. Es ist grausam abgerissen. Wie die Stimme am Ende abreißt. Ein Takt Stille ist in diesem Lied. Die gleiche Stille wie damals, als du gestorben bist am Kreuz auf Golgatha.
Komm, Jesus. Zeig du uns, wie das geht. Als du sterben musstest, da hast du gesagt In deine Hände befehle ich meinen Geist, du hast mich erlöst, du treuer Gott.(Ps 31,5)
Und dein Vertrauen hat sogar noch gereicht für den, der da neben dir am Kreuz hing. Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein. (Lk 23,43)
Der Tod zerreißt den Faden nicht, mit dem wir an Gott hängen. Das können wir an dir sehen, Jesus. Komm du und hilf uns, dass wir das glauben.


Das Lebenslied

Der König war krank, es lebe der König! Hiskia hat aufgeschrieben, was mit ihm passiert ist: Siehe um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe. (Jes 38,17)
Hiskias Lied vom Tod ist zu einem Lebenslied geworden. Es hat noch lange Zeit nach ihm Menschen hoffen lassen. Denn davon lebt man, von solchen Lebensliedern. Und von solcher Musik. Von dieser klaren, zarten Stimme des Lebens gegen all die Stimmen des Todes.

Der Tod zerreißt den Faden nicht, mit dem wir an Gott hängen.
Der Tod ist ein Schlaf geworden, nur ein Schlaf.
Und einmal kommt der Tag, an dem wir das sehen.
Amen.

Perikope
20.11.2016
38,10-20