Dem Tod zum Trotz - Predigt zu Psalm 90 von Jens Junginger (überarb. 19.11.)
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Dem Tod zum Trotz - Predigt zu Psalm 90 von Jens Junginger (überarb. 19.11.)

Dem Tod zum Trotz

129 Tote durch den Terroranschlag in Paris
8 tote Babys in einer oberfränkischen Kleinstadt
Weit über 2000 Tote - die in diesem Jahr bei ihrer Flucht über das Mittelmeer nach Europa ums Leben gekommen sind.

Liebe Gemeinde
diese Mitteilungen vom Tod von Menschen lassen uns den Atem stocken.
Je näher, je jünger, je unmittelbarer die verstorbenen, getöteten, ermordeten und umgekommenen Menschen uns sind,
umso mehr rückt ihr Tod uns auf den Leib,
umso mehr schockiert, verunsichert uns der Tod und macht uns bestürzt.
Der Alltag ist angehalten.
Die Zeit ist angehalten.
Es herrscht eine Art Ausnahmezustand. 

Auch am Turm unserer Stadtkirche scheint die Zeit angehalten worden zu sein.
Die Zeitanzeige fehlt.
Man hat dem Turm ein Stück seines Gesichts, genommen.

Mit dem Tod verschwindet ein Gesicht, viele Gesichter.
Uns wird eine wichtige, zum Teil prägende Person genommen.
Mit dem Tod durch Terror oder rational nicht fassbare Verzweiflungstaten
wird Leben zerstört
uns wird ein Stück der Glaube an das Gute im Menschen genommen.
Der Glaube an die Gültigkeit der Menschenwürde,
an den allgemeinen Wert der Verantwortung füreinander,
und damit ein Stück Hoffnung und Zuversicht

So verwundet wie der Turm erscheint, ohne Zeitanzeige, ohne Zifferblatt,
so sieht es bei uns aus, in uns,
angesichts des Todes eines Menschen
angesichts einer Vielzahl ausgelöschter unschuldiger Menschenleben,
durch Terror, im Meer, durch rätselhaftes Verhalten.

Der Tod verwundet uns. Er hinterlässt Leere.
Innere Leere, Unsicherheit, Hilflosigkeit, Desorientierung.

Wir halten heute die Zeit noch einmal an, ganz bewusst.
Wir denken an Menschen, deren Tod bei uns eine Leerstelle hinterlassen hat.
Wir halten die Zeit an, weil offene Fragen bleiben und wir Verunsicherung spüren.

Gemeinsam gedenken wir der Toten.
Gemeinsam erweisen wir den Toten die letzte Ehre, hier in einem öffentlichen Raum.

Wir wollen diesem unangenehmen Störenfried „Tod“ Raum geben.
Auch ein wenig trotzig.
Eben weil wir entsetzlichen Respekt vor ihm haben. Weil wir ihn nicht an uns herankommen lassen wollen. Und wenn er sich ankündigt, dann liebäugeln wir ja mit menschlicher Nachhilfe, und wollen uns zum Herr über Tod und Leben machen.

Wir wollen dem Tod einen Zeitraum geben, wie der Ladenbesitzer in einem italienischen Städtchen und seine Kollegen - mitten im Alltag.
Auf einer lauten Piazza mit Straßencafés und Souvenirläden bahnt sich der Ladenbesitzer auf einmal den Weg zur Tür, macht sie zu, kurbelt den Rollladen herunter, bleibt reglos davor stehen und blickte mit geneigtem Kopf auf den Platz.
Auch die Fenster in den anderen Läden wurden verdunkelt; es wird still.
Touristen schauen irritiert. Nur eine Glocke ist zu hören:
Ein Leichenzug verlässt die Kirche, überquert die Piazza.
Für einige Momente steht Zeit und Leben still.
In schweigendem Respekt gibt man dem Toten und seinen Angehörigen den Weg frei. (H.Prantl)

Lehre uns Gott bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden....
Lehre uns Gott bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden....
sagen, oder besser, bitten im Psalm 90 Menschen. Für sich, für uns.
Aus dem Wissen, aus der eigenen Erfahrung, dass das Leben immer wieder höchst gefährdet ist, dass es begrenzt ist.
Ja, dass es von Anderen begrenzt werden kann und wird, auf grausame Weise.
Und dass sich Menschen gegenseitig das Leben zur Hölle machen,
über andere richten und den Tod herbeiführen.

„Auf dass wir klug werden“, darum wird hier gebeten.
Will heißen: auf dass wir ein weises Herz bekommen.
Ein „weises Herz“ ?
Ich versteh es so: Dass wir mit Herz und Verstand unser eigenes und unser gemeinsames  Leben sinnvoll, erfüllend und solidarisch gestalten.
Mit den Menschen in unserer Nähe, in der Familie.
Mit Menschen, die uns fremd sind.
Mit den Menschen auf diesem Globus.
Vor allem, mit der Herzenserkenntnis, dass wir aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind. Mehr als jemals zuvor in der Weltgeschichte.

Zur Klugheit oder Herzensweisheit gehört,
dass wir uns selbst, als Einzelne,
dass wir uns als Tüchtigen,Mächtigen und Wohlhabenden in dieser Welt,
als die, die es zu etwas gebracht haben, gerade nicht selbstgerecht gebärden, abgrenzen und abschotten, aus Sorge und Angst,
auf ein paar Stücke vom Kuchen verzichten zu müssen, den wir dank vielerlei Zutaten und Erträgen aus allen möglichen Ländern und Regionen, zubereitet und gebacken haben.
„Denn, so sagt Jesus, wem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen, (Lukas 12,48).

Wir alle, jeder einzelne, lebt von Vorrausetzungen,
die wir nicht selbst geschaffen haben.
Daran erinnern die Worte des 90ten Psalms.
Ehe denn die Berge wurden und das Meer,
und du mit der Schöpfung in den Wehen lagst,
da bist du Gott gewesen…
Tausend Jahre sind vor dir /
wie der Tag, der gestern vergangen ist,
und wie eine Nachtwache.

70, 80 Jahre währt unser Leben.
Das ist vor Gott nicht mehr oder weniger als einen Augenblick,
wie eine kurze Nachtwache, zwischen dem gestrigen und morgigen Tag.

Was tun wir Menschen in einem solchen Augenblick Gottes,
der immerhin einige Jahrzehnte umfasst, eine Generation?
Was tun wir langfristig und nachhaltig den Bergen und dem Meer an? Den Mitmenschen?
Mit dem Ressourcenverbrauch, mit Rodung, Raubbau, Erderwärmung und Waffenlieferungen?

Was machen wir aus diesem Augenblick?

Lohnt sich dafür die Mühe und Arbeit? Macht das Sinn?
Oder ist eine derartig ausgerichtete Arbeit nicht doch eher vergebliche Mühe,
und kein sinnvolles, lebensförderndes Wirken und Tätig sein?

Erd- und weltgeschichtlich betrachtet ist die Zeitspanne eines Menschenlebens,
einer Generation, gleich einem Gras,
das am Morgen noch sprosst,
das am Morgen blüht und sprosst
und des Abends welkt und verdorrt.

Die Beter des Psalms erlebten diese kostbare Zeit
an sich selbst als eine Zeit, in der das solidarische Dasein Miteinander und Füreinander
die tragende und lebensförderliche Gegenseitigkeit, außer Kraft gesetzt wurde.

Es ist die Zeit nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil.
Eine Zeit sich ausbreitender Verarmung.
Menschen werden nichts satt, arbeiten in einen löchrigen Beutel, so beschreibt der Prophet Haggai die Lage (Haggai 1,6).
Die persische, später hellenistischen Weltmacht fordern Tribute und unterdrücken die Bevölkerung.
Darin hat der resignative Ton, der die Klage des 90sten Psalms zunächst durchzieht, seinen Grund:

Dass wir, so sagen die Betenden – unter diesen Bedingungen - so vergehen,
darin zeigt sich Gottes Zorn und sein Grimm, dass wir so plötzlich dahinmüssen.

Zorn, Grimm das kennen wir (auch),
wir empfinden und teilen es,
über die Taten von Terroristen,
über Korruption, Ausnutzung,
über gezielte strategisch geplante Ungerechtigkeit.
Ein Zorn, den auch Jesus angesichts gottwidrigen Verhaltens kennt.    

Der Zorn Gottes wird sichtbar und spürbar im Zerfallen einer Gemeinschaft,
die die gegenseitige Verantwortung füreinander aufgegeben hat oder nicht ernst nimmt,
in einer Gesellschaft, in einer Staaten- und Weltgemeinschaft.

Wer aber glaubt es, dass sich darin Gottes Erzürnen offenbart?
Und wer nimmt das jemand ernst?
So fragen die Beter.
Anders formuliert:
Wieviel Leid und Tod, Terror, Flucht und Elend muss noch geschehen?
Eine berechtigte, eine nachvollziehbare Frage.
Gleichwohl bleiben die Betenden nicht im Grundsätzlich unkonkret Allgemeinen.
Sie bleiben Realisten:

Ja! Sagen sie, Verfehlungen sind nicht grundsätzlich zu vermeiden. Wir sind alle Menschen.
Es gibt Verfehlungen zu denen Menschen, wir Menschen, fähig sind:
Heftige, üble, böse, brutale.
Leidende und Sterbende werden ausgegliedert und sich selbst überlassen.
Rücksichtslose Habgier erzeugt fruchtbares Elend.
Kinder werden Eltern erbärmlich vernachlässigt.
Menschen werden in Ihrer Alterseinsamkeit einfach vergessen.
Menschen aus anderen Kulturen erfahren Ablehnung und Hass.
Bösartige Geschwätzigkeit macht sich breit

Und doch reden die Betenden hier nicht der Aussichtslosigkeit das Wort!

Gott ist und bleibt unsere Zuflucht ist, seit Generationen,
sagen sie sich und uns.
Darauf können und dürfen wir vertrauen.
D.h. Gott ist und bleibt zwar nicht der, der immer alles so herrlich regiert, richtet und lenkt.
Das wäre eine Lüge und eine Verlogenheit Gott gegenüber.

Aber er ist und bleibt unsere Zuflucht,
so wie es für Kinder oft Eltern sind,
wie es für immer noch viele Menschen, eine Kirche wie diese ist,
die deshalb möglichst viel offen sein muss, mitten im Alltag.
Er ist und bleibt unsere Zuflucht,
wie es die diakonisch und psychologische Beratung und Pflege ist,
wie wir es als Christen für Flüchtende sein wollen,
wie wir es sein wollen als Mitarbeitende in den Kirchengemeinden.

Gott ist und bleibt unsere Zuflucht,
für die Verstorbenen, die Leid tragenden, die Ermordeten
für die Trauernden,
für uns alle, die das Leben der Kinder, der kommenden Generationen
zum Guten gestalten wollen.  

Die Beter dieses bekannten Psalms behalten ihr Vertrauen.
Trotz widriger Erfahrungen und Beobachtungen.
Sie sind weder todesverliebt, so wenig wie wir, noch haben sie resigniert,
oder geben sich nur noch deprimierenden Moll-Tönen hin,
auch wenn es einem manchmal danach zumute sein kann.

Sie sind und bleiben ungeduldig Hoffende, wenn sie fragen
Wie lange.... soll das noch so gehen?
Wie lange …soll diese Zerrissenheit und der Unfrieden noch andauern?
Wie lange …soll mich der Tod diese Menschen noch belasten und umtreiben?

Diese Betenden – und da sprechen sie einem aus dem Herzen –
sind von einer tiefen Sehnsucht beseelt, von einer Sehnsucht, in die sie uns mit den Bitten einstimmen lassen möchten.
Und vielleicht seufzen wir da ein wenig mit:

Kehre dich doch endlich wieder zu uns und sei uns gnädig!
Fülle uns frühe mit deiner Gnade,
gib uns nun ebenso viele Freudenjahre!
Lass uns noch erleben, dass du handelst
in und durch die, die deinen willen geschehen lassen
zeig unseren Kindern deine große Macht!
Herr, unser Gott, sei freundlich zu uns!

Lass uns
den natürlichen schmerzfreien Tod annehmen
den Menschen gemachten gewaltsamen Tod bekämpfen,
das sterben von Menschen begleiten,
lass uns Menschlichkeit und solidarische Gegenseitigkeit leben,
mit den Menschen, die zu uns kommen,
mit den vernachlässigten und ausgebeuteten Regionen der Welt.

Lehre uns gerade dafür Arbeit und Mühe aufwenden, und lass es gelingen,
das Werk unsere Hände, Du Gott, unsere Zuflucht.

Liebe Gemeinde
Mit dem Ewigkeitssonntag halten wir die Alltagszeit an, um uns anhand der Gedanken des 90ten Psalms noch einmal bewusst zu machen, dass wir sterben müssen, auf dass wir ein weises Herz bekommen.
Wir kommen in den Worten dieser Psalmbeter selbst mehrfach vor.
In Worten, die uns teilweise als Redewendungen bekannt sind,
mit unserer unterschiedlichen, wechselnden Stimmungen vor:

Als trauernd Klagende, als sehnsüchtig Hoffende,
als die, die den Tod Beklagen,
die die Verstorbenen ehren,
als die, die wir Leid, Verzweiflung und Unrecht,
und das Sterben anderer miterlebt haben,
als solche, die wir wiederum den gewaltsamen Tod
und die Zerrissenheit unter Menschen und Völkern erleben.
als die, die gegen den Augenschein des Faktischen,
sich immer wieder von Gott angenommen und gestärkt erleben.
In eben dieser mehrfachen, manchmal hin und her gerissenen, Existenz erleben wir uns.
Gerade in solchen Momenten und Phasen
da bleibt  uns nichts anderes,
als Gott um Beistand und Zuspruch,
um Trost und Ermutigung zu bitten.
Und uns zugleich uns an dem Schönen und Beglückenden zu erfreuen,
das wir erleben, und Gott gerade dafür zu loben:

„Der du allen Leben den Atem schenkst
hab Du Gott mit uns noch Geduld

Sei gnädig, gib die Kraft
der Todesnot zu widersteh’n,
die Menschenhochmut schafft
gib, Gott, uns Weisheit,
unsre Zeit
in Lob und Klage zu besteh’n.(Eckert)

Rühr uns an, Gott unser Zuflucht,
lass uns untereinander in Berührung kommen
die Hand auch des ganz Anderen fassen
zum Trost, zur Stärkung, für uns selbst
   
lass deine Freundlichkeit in uns durch Mark und Bein gehen
lass sie in unser Herz und in den Verstand fließen
lass uns die Trauer
und deine Einladung annehmen,
das Leben zu feiern
dem Tod zum Trotz.

Amen


Literatur:
„damit wir klug werden“ - Vortrag von Prof. Dr. Christl M. Maier
http://www.kirchentag-wuerttemberg.de/fileadmin/mediapool/einrichtungen/E_dekt_la_wue/Vortrag_Losung_Dr._Maier.pdf
Sölle/Schrottroff, Hannas Aufbruch, Aus der Arbeit feministischer Befreiungstheologie, Gütersloh 1990
Prantl, Heribert, Letzte Ehre, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.Oktober 2015;  http://www.sueddeutsche.de/politik/totenmonat-november-letzte-ehre-1.2715422
Eckert, Eugen; Gott ist mein Lied, ist meine Macht, München 1996