Der dritte Weg - Predigt zu Lk 24, (44-49) 50-53 von Jochen Riepe
24,44-53

I

‚Scheiden tut weh‘… aber gibt es nicht Abschiede, die ‚gesegnet‘ sind und gut tun? Eine Zeit des Abstands, die mit einer Träne im Auge freudig dem Wiedersehen entgegen blickt. Eine Distanznahme, aus der ich lerne, sodass wir einander neu begegnen können – gereifter, erwachsener, in Freiheit.
‚Er führte sie aber hinaus bis Bethanien und hob die Hände auf und segnete sie. Und es geschah, als er sie segnete, schied er von ihnen und fuhr auf gen Himmel. Sie aber beteten ihn an und kehrten zurück nach Jerusalem mit großer Freude und waren allezeit im Tempel und priesen Gott‘.

II

Er würde diesen Satz seiner Mutter nie vergessen, erzählte der junge Mann. Immer hätten sie ein Unwohlsein gespürt, ja regelrecht ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie nach einem Besuchstag noch einmal zum Fenster hochschauten und winkten. ‚Weint Oma jetzt? Ist sie traurig?‘ fragten die Kinder. Ja, Scheiden tut weh.
Irgendwann hatte er sich dann ein Herz gefasst und sie, etwas schamhaft und zögernd, der alten Dame gebeichtet – diese Abschiedsgefühle. Sie aber habe eher verblüfft reagiert – oder hatte sie nur so getan? – und dann wehmütig-weise lächelnd geantwortet: ‚Den Gedanken, es könnte das letzte Mal gewesen sein, kenne ich wohl‘, um dann energisch fortzusetzen: ‚Ich freue mich, wenn ihr kommt. Ich freue mich aber auch, wenn ihr geht‘.

III

Sie kehrten nach Jerusalem zurück mit großer Freude‘. Ich staune über über diesen leichten, singenden, klingenden Abschluss des Lukasevangeliums. Happy End. Jesus ist nicht mehr da, er ist ‚gen Himmel gefahren‘. Lukas erzählt zweimal vom Abschied Christi, um der Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit dieses Geschehens zu entsprechen. In der Apostelgeschichte werden wir von einer betenden, wartenden Jüngerschar lesen, harrend der Dinge, die da kommen sollen.
Im heutigen Evangelium liegt der Akzent etwas anders, so als wäre Pfingsten schon geschehen: Eine ‚gesegnete‘, ja, freudig-optimistische Schar. Menschen, die während der ‚vierzig Tage‘ nach Ostern von Jesus, dem Auferstandenen, über den Sinn alles Geschehenen aufgeklärt wurden. Er hatte mit ihnen gegessen und offen gesprochen: ‚Es muss alles erfüllt werden, was von mir geschrieben steht ‘ (24,44). Er hatte sie schließlich gesegnet und war dann – ‚geschieden‘. Statt sich aber nun hinter ‚verschlossenen Türen‘ (Joh 20,19) zu verbergen, zeigen sich die Jünger in der Stadt der Kreuzigung mutig und ‚mündig‘ in aller Öffentlichkeit – im Tempel, dem Ort, dem Gott seine besondere Gegenwart zugesagt hat: ‚Da soll mein Name sein‘ (1.Kön. 8, 29).

IV

Rückkehr mit ‚großer Freude‘. Sie ‚priesen Gott‘. Die Frage stellt sich allerdings von selbst: Wird hier der Schmerz und die Trauer des Abschieds nicht allzu schnell übersprungen? Ein Pfingsten vor der Zeit? Aufgeklärt, ja, eingeweiht wurden sie. Alles hat seine Ordnung, alles war so geschehen, wie die Schrift es vom ‚Menschensohn‘ vorausgesagt hat. Aber ist ihnen das wirklich mit allen Folgen klar? Die Zeit nach Ostern ist vorbei – Ende. Jesus ist nicht mehr da, seine gewiss besondere, aber doch leibliche, hörbare, greifbare Gegenwart ist ihnen – und damit uns! – genommen. Was aber sind wir ohne das Wort, ohne den Leib, den des anderen und den eigenen?
Jeder Trauernde kennt diese Situation: Schock, Resignation, Ratlosigkeit verlangen nach Ausdruck. Warum bleibt er nicht bei uns? Warum hat er mich verlassen? ‚Ja‘, mag der Evangelist darauf antworten, ‚ihr habt Recht, und ich habe das auch versucht… Manie bedeutet ‚himmelhoch jauchzend‘ etwas überspringen oder nicht wahrhaben wollen. Depression, ‚zu Tode betrübt sein‘, deutet das Gegenteil an: Bedrückung, ja, von einem Ereignis erschlagen sein … die schwere Wolke, die sich bedrohlich nähert. Es muss doch einen Weg mitten hindurch, einen dritten Weg sozusagen geben, der ins Leben zurück führt!‘

V

‚Ich freue mich, wenn ihr kommt, ich freue mich, wenn ihr geht‘. Er würde, sagte der junge Vater, diesen melancholisch getönten und dann doch schlagfertigen, humorigen Satz seiner Mutter nie vergessen. Er genieße geradezu den Trost und die Befreiung, die in ihm liege. ‚Ich habe richtig lachen müssen, und die Kinder sahen mich verwundert an.‘
Wie viele Momente eines Abschieds, wie viele unterschiedliche Stimmungen und Erlebnisweisen die Frau auf diese Weise sprechend auf den Punkt brachte. Nach einem langen Besuchstag war sie schlicht erleichtert, wenn alles geschafft war, und sie sich – erholen konnte: Leibhafte Anwesenheit von Kindern und Enkeln ist anstrengend. Besuch verlangt Vorbereitung und viel Aufmerksamkeit, und manchmal geht er uns sogar auf die Nerven.
Dann aber auch spürte er in diesen Worten so etwas wie Stolz: ‚Ihr fahrt jetzt in eure Welt zurück, und ich habe meine Welt. Ich schaffe meinen Alltag und kann durchaus für mich sorgen. Dass wir miteinander verbunden sind, das bleibt doch.‘ Und schließlich klang noch etwas Drittes mit: Ja, es kann immer das letzte Mal gewesen sein. Jede Umarmung, jeder Abschiedskuss enthält diesen Schmerz. Aber zugleich liegt in ihm die Erwartung, die Vorfreude auf eine neue Begegnung. ‚Wann sehen wir uns im nächsten Monat? Wartet nicht zu lange, dass das Heimweh nicht so groß wird.‘

VI

Der lukanische Bericht von der Himmelfahrt Jesu, vom segnenden Scheiden des Herrn und von der Freude seiner Jünger scheint mir in manchem unseren familiären Erfahrungen ähnlich. Man muss nur kurz einmal erwägen: Was, Jesus, der Auferstandene, wäre über die vierzig Tage nach Ostern hinaus auf Dauer bei ihnen geblieben… sie wären gleichsam ‚geisterhaft‘ (24,37) immer wieder in plötzlichen Erscheinungen heimgesucht, ja, überfallen worden? Ein zutiefst beängstigender, bedrückender und unfreier Kontakt. Sie hätten ihn schließlich nicht mehr ausgehalten und sich sehnsüchtig eine Rückkehr zur, wenn auch tristen, Normalität gewünscht.
Der Auferstandene aber gibt sie in seinem Abschied segnend frei und überlässt sie als Gesegnete sich selbst. Einen ‚Mund und Weisheit‘ (Lk 21,15) hatte er ihnen darum versprochen, die Fähigkeit, situationsgerecht, sozusagen schlagfertig und souverän, in bedrängenden Lagen zu sprechen. Es gilt auch umgekehrt: Sie dürfen ihn frei- und Gott übergeben – guten Gewissens, ohne Schuldgefühle, ohne Klammern, denn er ist ‚zu Gott entrückt und für die Wiederkunft bewahrt‘ (E. Hirsch). Der manische Überflieger mag dann denken: ‚Jetzt können wir endlich machen, was wir wollen‘, legt nun los und stellt das Haus auf den Kopf. Der Deprimierte mag klagen: ‚Jetzt können wir gar nichts mehr tun, dieser Schmerz vergeht nie‘. Der Weg zwischenhindurch, der österlich getröstete und mit seinem Wort beschenkte, denkt und handelt, lobt und preist in Treue zum Gehenden. Wie wir heute schon pfingstlich sagen dürfen: in der ‚Kraft des Heiligen Geistes‘ (Apg 1,8).
Die ‚(Zwischen-) Zeit der Kirche‘, die Zeit nach der Himmelfahrt des Herrn, die das Warten auf die Wiederkunft Christi ‚erträglich macht‘ (H. Conzelmann), ist darum ein – mitunter schmerzlicher –Lernprozess. Lernen, ja, in diesem kleinen, endlichen Leben mündige und weise, erwachsene Zeugen Jesu zu werden und seinen ‚Weg‘ (Apg 9,2) neu zu gehen; ein Weg, auf dem die Gemeinde immer wieder gefährdet ist und ‚wie im Sieb geschüttelt‘ (Lk 22,31) wird.  

VII

Sie kann sich selbst überheben und frohlockend im Himmel wähnen. Das Erbe Jesu wird zu einer Verfügungsmasse, aus dem sie im Hochgefühl ihrer Kräfte nehmen und verwerfen kann: ‚Wir sind die Guten‘. Sie kann aber auch eine traurige Gemeinschaft werden, die sich mit Jesu Abschied nicht abfindet, die verstummt und sich sektenhaft verschließt: ‚Herr, wohin sollen wir gehen?‘ Lukas erzählt von einem dritten Weg: Die Jünger ‚beteten ihn an‘. Die Kirche des ‚Mundes und der Weisheit‘ ist eine des Gesprächs mit Gott und des freimütigen Gesprächs untereinander. Das Leben ist nicht schwarz und weiß. Gerade in den Kontroversen dieser Zeit brauchen wir einen Raum der ‚Meinungsfreiheit‘, der Freude, des Streitens, des Leidens aneinander – und des Humors.
Denn wes das Herz voll ist, des geht der Mund über‘(Lk 6,45). Es hatte ja gedauert, bis unser junger Vater seinen Mund öffnete und seine Gedanken aussprach. Wie vieles bleibt gerade unseren Nächsten gegenüber in uns verschlossen. Wie oft haben wir in der Gemeinde das Gefühl, Wichtiges bleibe ungesagt aus Angst, eine ‚unerwünschte‘ Meinung zu vertreten. Das Schöne an unserer familiären Aussprache ist: Die Mutter hatte ergeben, versöhnlich und humorig in einem geantwortet. Sie war betroffen, fand aber zugleich Distanz. Geistesgegenwart. Das war ihre Art, zu segnen und die Scheidenden freizugeben. Ich kann mir vorstellen, wie auf der Heimfahrt Vater und Kinder fröhlich miteinander sangen. Es hatte sich etwas gelöst. Ihre Lippen waren aufgetan.

VIII

Abschied: Unser Glaube hat eine Träne in den Augen, Zeichen eines Heimwehs (Phil 1,23), das sich immer wieder meldet. ‚Wann kommt ihr wieder? Lasst es nicht zu lang werden.‘ Wird denn Jesus, der im Himmel ‚bewahrt‘ ist, wiederkommen? Werden wir ihn erkennen, oder wird er fremd sein und uns dieses peinliche Gefühl überkommen: Wir haben uns auseinander gelebt. Oder gar: Wir haben ihn vergessen.
Das sind Fragen, die alle Jünger-Freude begleitet, solange es eine Gemeinde Christi gibt. Fragen aber auch, an denen wir – miteinander sprechend – wachsen, reifen und Freiheit erlernen können. Unter einem heiteren Gotteshimmel, denn ein Zeuge Jesu zu sein ist keine Last, sondern Teilhabe an der Quelle des Lebens.

Vier Fragen zur Predigtvorbereitung an Pfarrer Jochen Riepe

1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich erhoffe für den Tag Christi Himmelfahrt einen offenen Himmel (sky) (nicht nur für Open Air-Feiernde). Dass aber bei allen meteorologischen Unsicherheiten diesem Tag ein innerer offener Himmel (heaven) entsprechen kann, lehrt der lukanische Text (und der Posaunenchor wird diese Botschaft auf seine Weise verstärken: ‚Jesus Christus herrscht als König‘). Die Predigt möchte der Gemeinde aus Jung und Alt zum Entdecken ihres persönlichen ‚Open Air‘ anleiten.

2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Die Anekdote des jungen Vaters tritt ins Gespräch mit dem lukanischen Verständnis der Himmelfahrt Christi. Mittels ihrer Verwendung gelingt es, die Vielschichtigkeit von Trennungssituationen anzudeuten. Abschied bedeutet Schmerz, aber auch den Anfang der ‚Zwischenzeit‘ der Kirche (H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 7. Aufl. 1993, S. 195). Aussagen über die ‚Wiederkunftsgewissheit‘ Jesu (E. Hirsch) und die Wiedersehenserwartung seiner Gemeinde bilden den Horizont der Predigt.

3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Gerade in diesen politisch-gesellschaftlich polarisierten Zeiten braucht die Gemeinde in ihrer ‚Zwischenzeit‘ das offene, eben erwachsene, respektvolle und auch humorvolle Gespräch. Das macht Mühe, aber es bewahrt uns vor einer Ideologisierung bzw. Verfeindung (‚wer nicht für uns ist, der ist gegen uns‘) unserer Kommunikation oder einer bloßen Wiederholung dessen, was im ‚Mainstream‘ erwünscht ist.

4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Ich danke meiner Beraterin (Predigtcoach) für ermutigende und kritische, sehr konkrete Hinweise, die mir halfen, den Text zu straffen und seine Kohärenz zu stärken.

Perikope
18.05.2023
24,44-53