Der ferne Gott - Predigt zu Jeremia 23,16-29 von Jürgen Kaiser
23,16-29

Liebe Gemeinde,

Als Ulf Poschardt an Heilig Abend aus der Christmette kam, sonderte der Chefredakteur der „Welt“ um 0.48 Uhr einen Tweet ab: „Wer soll eigentlich noch freiwillig in eine Christmette gehen, wenn er am Ende der Predigt denkt, er hat einen Abend bei den Jusos bzw. der Grünen Jugend verbracht?“ Der Tweet hat eine heftige Diskussion zum Thema in Gang gesetzt. „Sie haben schon länger dieses Gefühl, dass Kirche zu politisch geworden ist?“, wurde Poschardt in einem Interview gefragt und bekannte: „Na klar. Evangelische Kirchentage sind von grünen Parteitagen oft nur schwer zu unterscheiden. Die Rolle des Pfarrhauses für die deutsche Politik ist von Gudrun Ensslin über Angela Merkel bis Katrin Göring-Eckart und Frauke Petry kaum zu unterschätzen. Politik ist in Deutschland viel zu sehr säkularisierte Religion. Am schlimmsten ist das Gift des säkularisierten Protestantismus.“ [Zeit Online, https://www.zeit.de/2018/02/ulf-poschardt-christmette-politik-kritik-tw….]

Er sitzt im Schatten der hohen Mauer. Männer in langen Mänteln eilen über den Platz. Er sieht, dass sie ihn bemerken, aber sie grüßen nicht. Er grüßt auch nicht. Sie verschwinden im Palast. Jeremia ärgert sich. Seine Kollegen sind gefragt. Er nicht. Sie werden gerufen, um ihre Analysen vorzutragen. Seine Mahnungen will keiner hören. Seine Kollegen haben andere Methoden. Sie benebeln sich mit Räucherwerk, haben schöne Träume und sagen angenehme Dinge. Solche Leute sind gern gesehene Gäste im Palast.
Als die Sonne ganz hinter der hohen Mauer verschwindet, geht Jeremia ins Haus und ruft seinen Schreiber. „Schreib!“, sagt er und diktiert:

So spricht der HERR der Heerscharen: Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen! Sie täuschen euch, sie verkünden die Schauung ihres eigenen Herzens, nicht das, was aus dem Mund des HERRN kommt. Immer wieder sagen sie zu denen, die mich verachten: Der HERR hat gesagt: Ihr werdet Frieden haben! Und zu jedem, der im Starrsinn seines Herzens lebt, sagen sie: Es wird kein Unheil über euch kommen! Wer hat denn in der Versammlung des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat auf sein Wort geachtet und hat es gehört? Sieh, der Sturm des HERRN ist losgebrochen als Zorn, ein wirbelnder Sturm, gegen das Haupt der Frevler wirbelt er. Die Wut des HERRN wird sich nicht legen, bis er die Pläne seines Herzens ausgeführt und verwirklicht hat. In ferner Zukunft werdet ihr es ganz begreifen. Ich habe die Propheten nicht gesandt, und dennoch sind sie gelaufen, ich habe nicht zu ihnen gesprochen, und dennoch haben sie geweissagt. Wenn sie aber in meiner Versammlung gestanden haben, sollen sie mein Volk meine Worte hören lassen und sie zurückbringen von ihrem bösen Weg und von der Bosheit ihrer Taten. Bin ich denn ein Gott der Nähe, Spruch des HERRN, und nicht auch ein Gott der Ferne? Kann sich einer in Verstecken verstecken, und ich würde ihn nicht sehen? Spruch des HERRN. Fülle ich nicht den Himmel und die Erde? Spruch des HERRN. Ich habe gehört, was die Propheten gesagt haben, die in meinem Namen Lüge weissagen: Ich habe geträumt, ich habe geträumt! Wie lange noch? Haben die Propheten, die Lüge weissagen und die den Trug ihres Herzens weissagen, überhaupt Verstand; sie, die planen, mit ihren Träumen, die sie einander erzählen, meinen Namen in Vergessenheit zu bringen bei meinem Volk, wie ihre Vorfahren meinen Namen vergessen haben über dem Baal? Der Prophet, der einen Traum hat, soll einen Traum erzählen, der aber, der mein Wort hat, soll treu mein Wort sagen. Was hat das Stroh mit dem Getreide gemein? Spruch des HERRN. Ist mein Wort nicht so: wie Feuer, Spruch des HERRN, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?

Martin Dutzmann sitzt in seinem Büro mitten in Berlin. Hin und wieder verlässt er es, um in den Bundestag zu gehen oder einen Staatssekretär zu besuchen. Martin Dutzmann ist ein freundlicher Mensch. Dass er laut wird, den Zeigefinger hebt oder mit der Faust auf den Tisch haut, kann ich mir kaum vorstellen. Dass er heikele Themen lieber verschweigt, um seinem Gesprächspartner nicht die Laune zu verderben, kann ich mir auch nicht vorstellen. In der Versammlung des Herrn hat Martin Dutzmann meines Wissens noch nicht gestanden, dass er das Wort des Herrn direkt gesehen oder gehört hätte. Aber er sitzt im Rat der EKD und hört direkt, was dort gesagt wird.

Die Kirche ist der Meinung, dass sie etwas zu sagen hat. Sie soll sich um die Seele ihrer Mitglieder kümmern, sie muss sich aber auch zu Wort melden, wenn in der Gesellschaft etwas vor sich geht, das Gott so nicht wollen kann. Die Kirche glaubt, dass das Evangelium nicht nur ihren einzelnen Mitgliedern etwas zu sagen hat, sondern der gesamten Gesellschaft. Sie sieht sich zu einem prophetischen Wächteramt berufen. Sie darf nicht schweigen, wenn sie in Politik und Gesellschaft Tendenzen wahrnimmt, die sich an Gottes Geboten gemessen nur als Fehlentwicklungen brandmarken lassen.
Deshalb äußern sich die Pfarrer und Pfarrerinnen auf den Kanzeln auch politisch, bemängeln und kritisieren. Dass sie sagen, was gut ist, kommt auch vor, aber seltener. Die Kirchen institutionalisieren sogar die politische Einmischung. Die Landeskirchen haben Länderbeauftragte, die den Kontakt zu den Landesregierungen und Landesparlamenten halten, die EKD hat Herrn Dutzmann, den Bevollmächtigten des Rates der EKD in Berlin und Brüssel.

Die Kirche kritisiert. Aber sie wird auch kritisiert. Nicht zuletzt dafür, dass sie kritisiert. Die Kirche solle sich nicht einmischen, sondern bei ihrer Sache bleiben. Oft sind solche Einwendungen ihrerseits politisch motiviert und kommen von einer Seite, für die die Kirche zu links ist. Andere monieren, die Kirche betone ihre politische Verantwortung vor allem, um ihre gesellschaftliche Relevanz zu demonstrieren und ihrer eigenen Marginalisierung entgegenzusteuern, und warnen vor der Moralisierung und Emotionalisierung des Christentums. [Ulrich H.J. Körtner, Für die Vernunft. Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche, 2017.]
Von der anderen Seite wird die Kirche kritisiert, weil sie zu zahm sei. Sie sitze den Mächtigen auf dem Schoß, sage nur, was die hören wollten und sei so glücklich über ihre guten Beziehung zum Staat, dass sie es gar nicht wage, das zu tun, was ihr Auftrag ist: Sich für die einzusetzen, die keine Stimme haben, und dem Recht und der Gerechtigkeit im Land zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Klagen des Propheten Jeremia und des Chefredakteurs Poschardt liegen nicht ganz auf derselben Linie. Jeremia klagt über seine Kollegen, die den falschen Leuten das Falsche sagen. Zu denen, die nichts von Gott wissen wollen, sagen sie, Gott ist mit euch, alles ist gut, ihr werdet euren Frieden haben. Poschardt beklagt nicht, dass die Kirche ihr prophetisches Amt wahrnimmt und gesellschaftliche und politische Fragen anspricht. Er beklagt nur, wie sie das tut. Nämlich in einer Weise, die sich nicht mehr unterscheidet von Parteiprogrammen oder Wahlkampfreden zumeist eher linkerer Gruppen. Der Punkt ist aber nicht die eher linke Einfärbung, sondern die Ununterscheidbarkeit zwischen Kanzelwort und Wahlkampfrede. Mit Blick auf die Weihnachtspredigt, die Poschardts Tweet ausgelöst hat, ist der Vorwurf kaum von der Hand zu weisen.

Wer hat denn in der Versammlung des HERRN gestanden, dass er sein Wort gesehen und gehört hätte? Wer hat auf sein Wort geachtet und hat es gehört?
Woher nehmen wir unsere Botschaften? Wessen Worte reden wir?
Prediger und Predigerinnen, Länderbeauftragte und EKD-Bevollmächtigte lesen die Bibel und die Zeitung. Doch für manche ist der Weg von der Bibel zur Zeitungsmeldung sehr kurz. Jede Kritik wird von Straße aufgeglaubt und dem Wort Gottes als Fußnote angeheftet, wenn nicht gar als Schlagzeile übergestülpt.
Jeremias Anklage einer allzu gefälligen, staats- und systemdienlichen Einlullungs- und Propagandaprophetie könnte Wasser auf die Mühlen derer sein, die meinen, die Kirche müsse um des Evangeliums willen Tacheles reden, deutlicher Partei ergreifen und die Missstände und die Ungerechtigkeit beim Namen nennen. Aber ist das wirklich das, was wir bei Jeremia lesen? Wären das nicht die allzu kurzen Wege von der Bibel auf die Straße, ein elektrisierter Aktionismus, der das Evangelium mit Kurzschlüssen mehr gefährdet als es zu bezeugen? Dann brennt einem Kanzelredner bei starker Weihnachtsspannung leicht die Sicherung durch und verdirbt einem Chefredakteur die Stimmung.

Jeremia mobilisiert gegen die falschen Propheten nicht zum Protest auf der Straße. Er reißt vielmehr einen tiefen Graben auf. Er rückt Gott in weite Ferne. Er wirft ein Schlaglicht auf die dunkle Seite Gottes, auf einen fernen Gott, der sich nicht für politische Botschaften einspannen lässt, nicht für die liebsamen, aber auch nicht für die unliebsamen.
Bin ich denn ein Gott der Nähe, Spruch des HERRN, und nicht auch ein Gott der Ferne? Kann sich einer in Verstecken verstecken, und ich würde ihn nicht sehen? […]Der Prophet, der einen Traum hat, soll einen Traum erzählen, der aber, der mein Wort hat, soll treu mein Wort sagen. Was hat das Stroh mit dem Getreide gemein? Spruch des HERRN. Ist mein Wort nicht so: wie Feuer, Spruch des HERRN, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmettert?

Woher nehmen wir unsere Botschaften? Wessen Worte reden wir?
Jeremia hat keine Träume. Er hat Gottes Wort. Direkt und unmittelbar. Seine Kritik an den Lügenpropheten artikuliert er als Spruch des Herrn. Was er redet, redet gar nicht er selbst, sondern Gott.
Hier stellt sich ein Gott vor, der Politik und Kirche gleichermaßen die Illusionen raubt. Weder will er einspringen, wenn die Politik nicht weiter weiß, noch mag er der Kirche helfen, ihren Bedeutungs zu kaschieren. Er steht nicht zu Diensten, ist nicht einfach ein Gott zum Dabeisein, Mitsein und Mitmachen, zum Segnen und Absegnen. Gott lässt sich nicht für politische Ziele einspannen. Weder zur höheren Legitimierung von Regierungspolitik, noch zur höhere Legitimierung von Opposition und Protest.
Er ist auch und zuerst einmal auch darin ein ferner Gott, dass sich seine Worte nicht einfach in politisches Handeln übertragen lassen und dass Martin Dutzmann nicht einfach Gesetzesvorlagen aus der Bibel abschreiben und dem Staatssekretär auf den Schreibtisch legen kann. Der Gott Israels bekennt sein hohes Engagement für Recht und Gerechtigkeit. Nur sind diese Werte, was immer sie meinen, längst in die politischen Programme eingewandert. Wer sie einfach per „copy & paste“ aus der Bibel in die Predigt oder in kirchliche Verlautbarungen übernimmt, muss sich tatsächlich fragen lassen, worin eigentlich der Unterschied liege zwischen Bibel und Parteiprogramm.

Daher ist man gut beraten, ruhig zu bleiben, still zu halten, Bibel zu lesen, zu predigen, was man dort gelesen hat und nicht so zu tun, als sei man täglich in den Versammlungen des Herrn und höre, ja sehe das Wort Gottes.
Ruhig bleiben, abwarten. Wenn Gott stürmt, wenn sein Zorn entbrennt, wenn sein Wort hämmert, wird man es schon mitkriegen. Und dann wird man nicht mehr schweigen können. Aber erst dann.

Jeremia sitzt im Schatten der hohen Mauer. Er hat nicht gut geschlafen in dieser Nacht. Sein letzter Text hat ihn gequält. Er hasste seinen Beruf, seiner Berufung misstraute er von Anfang an. „Ich weiß nicht wie das geht, ich bin zu jung“, hatte er gesagt. Aber der Herr sprach: „Sag nicht: Ich bin noch jung… Was immer ich dir gebiete, wirst du sagen. Er berührte seinen Mund und sagte: Ich lege meine Worte in deinen Mund, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen. (Jer 1,4-10)
Das war lange her. Aber Jeremia musste immer daran denken, wenn er im Schatten der hohen Mauer saß. Er musste schon vieles ausreißen und verderben in seinem Leben. Doch er weiß: Irgendwann kommt die Zeit, dass Gott ihm sagt: Jetzt baue und jetzt pflanze.
Gott wird sich melden. Gott wird sich einmischen. Wir werden es hören. Zu seiner Zeit. Wie und wo und wann er es will. Amen.

 

Perikope
03.06.2018
23,16-29