Der gedeckte Tisch zum Reich Gottes - Predigt zu Jesaja 25,6-9 von Ralf Hoburg
25,6-9

Im schweizerischen Rundfunk konnte man vor wenigen Jahren unter der Überschrift „Gutes Essen ist wie eine Offenbarung“ ein Interview lesen, das sich mit der Lust am Kulinarischen beschäftigt. Darin war zu lesen, dass „Essen“ geradezu in der postmodernen Genuss-Gesellschaft zu einer „Ersatzreligion“ geworden ist und viele Menschen im stilvollen Essen eine gewisse Orientierung suchen. Und dann kam in dem Interview der Schlüsselsatz, der mich hat aufhorchen lassen: „Gutes Essen ist wie eine Offenbarung. Ich muss in dem einzelnen Moment des Genusses ganz aufgehen können.“ Der schweizerische Gastrokritiker Daniel Böninger geriert sich hier geradezu zum Theologen. Ästhetik und Offenbarung gehen eine Verbindung miteinander ein.

Eine andere Assoziation drängt sich auf: Bis zuletzt wurde auf dem untergehenden Schiff Titanic gefeiert, getanzt und gegessen. Das letzte Essen auf der Titanic bestand in der ersten Klasse aus einem 11 Gänge Menu mit diversen Zwischenspeisen und als Getränk dem „Punch Romaine“. Dieses Menu, das den Genuss während des Untergangs beschreibt, hat in gewisser Weise – weil es dokumentiert ist – Ewigkeitscharakter erhalten. Wer im Internet sucht, findet die Rezepte zum „Nach-Kochen“. Auch die Henkers-Mahlzeit kann in diesem kulturhistorischen Zusammenhang erwähnt werden. Auch hier wird in der Begründung des tieferen Sinnes dieses absurden Brauches eine metaphysische Dimension erkennbar.

In allen beschriebenen Fällen kommt dem Essen ein Verweischarakter zu. Es steht „für etwas“, das mitschwingt, aber das nicht so recht ausgesprochen werden kann: Im einen Fall die Symbiose von Person und Genuss und im anderen Fall die Panik des Untergangs bzw. der Apokalypse und dem Wegsehen vor dem Untergang. Und im Fall der Henkersmahlzeit vielleicht die Bitte um Vergebung.

Dem Essen – oder dem „Mahl“ – haftet etwas merkwürdig Entrücktes, Spirituelles oder Metaphysisches an. Nicht zuletzt gründet auch die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen in ihrem Stiftungsgeschehen in dem letzten Mahl, das Jesus von Nazareth im Kreise seiner Jüngerinnen und Jünger gefeiert hat. Daran anknüpfend erinnert auch das Osterfrühstück, das am Tag der Auferstehung der religiöse Ausdruck der tiefen Freude ist. Das Osterfrühstück ist dann zum Teil gemeinsam mit der Segnung von Speisen bereits sehr früh im christlichen Brauchtum verankert.  Das Fasten in der katholischen Kirche, das die Passionszeit hindurch bestimmt und das „Fastenbrechen“ zu Ostern mit dem opulenten Essen zu Ostern bilden zwei Pole in der religiösen Festkultur. Auch das Judentum und der Islam haben ebenfalls ein religiöses Brauchtum, in dem Speisen und Essen eine Rolle spielen. Das Ende des Ramadan wird durch das Fest des Fastenbrechens (Bayram) begangen. Hier kommen Familie und Freunde zu einem mehrtägigen Feiern zusammen, bei dem gut gegessen wird.

Ist also in der Tat die Genuss-Gesellschaft von heute im Zelebrieren und in ihrem Drang nach „gutem“ und „teurem“ Essen zutiefst religiös ohne es zu merken? Vielleicht geht diese Vermutung doch zu weit, aber dem Religiösen auf die Spur zu kommen, könnte in dem aktuellen Bibeltext aus Jes. 25,6-9 stecken, der der Predigttext für den Ostermontag ist. 

I/

Das Festmahl im Angesicht der Gerichtspredigt

Der Kontext des Predigttextes aus Jes 25,6-9 mutet auf den ersten Blick eher fremdartig an. Der Abschnitt findet sich inmitten der sog. Jesaja-Apokalypse von Kap. 24-27, das über das Weltgericht und den Untergang der Weltmächte handelt. Das Prophetenbuch Jesaja, dessen Text über einen langen Zeitraum ab 800 v.Chr. entstanden ist, setzt in diesen Kapiteln die Gerichtsworte gegen die Völker fort. Der Verfasser dieses Textabschnittes – darin ist sich die Bibelforschung seit langem einig – ist nicht der historische Prophet, sondern ein späterer Autor.

Der Gesamtzusammenhang des Textbereiches von Kap. 24-27 behandelt als Thema das „Gericht“. Geradezu die Negativ-Folie zu dem freudigen Fest in Kap 25,6, das von gutem Wein spricht, malt Kap. 24 vor Augen, wo davon die Rede ist, dass der Wein dahin ist und „der Weinstock verschmachtet, und alle, die von Herzen fröhlich waren, seufzen.“ (Jes. 24,7) Aber warum dieses Gericht und vor allem gegen wen? Während einerseits das Gericht über die gesamte Erde ergeht und alle Bewohner zerstreut und zerstört, wird dann andererseits wieder nur von einer Stadt gesprochen, die zerstört wird.  Die Stadt selbst bleibt unerwähnt und der Leser wird nicht in Kenntnis gesetzt. Die Bibelwissenschaft spricht hier deshalb von der „anonymen Stadt“. Nur kurz wird an einer Stelle dieser Gerichtspassage in Kap. 24 dann über die Gründe gesprochen, wenn es in V. 20 heißt: „denn ihre Missetat drückt sie, dass sie fallen muss und nicht wieder aufstehen kann.“  Diese Stelle verweist auf einen tiefen Zusammenhang im alttestamentlichen theologischen Kontext, nämlich die Abwendung des Volkes von JHWH als Ursache für Gericht und Strafe. Schon die biblische Erzählung der Sintflut (1. Mose 6-8) deutet diesen Zusammenhang an und das Auftreten der Gerichtspropheten führt diese Tradition fort. Die Vorstellung vom Gericht und dem Zorn JHWH’s gehört fest zum Bestand des jüdischen Glaubens. Aus unserer Sicht ist dies eher fremd. 

Vor allem die frühen Propheten Amos, Jeremia und Jesaja zählen – so könnte man es sagen – zu den Analysten der Gesellschaft. Sie sind Seismographen der jüdischen Gesellschaft in der Zeit des frühen Königtums und prangern in ihren Sprüchen und Texten offen und drastisch die Zustände an. Dabei erheben sie den Anspruch, dass aus ihren Worten und auch Zeichenhandlungen JHWH selbst spricht und sie Mund und Gefäß des göttlichen Wortes sind. Sie legitimieren sich durch ihre eigene „Berufung“ und ihre Gerichtsworte sind vor allem eine Anklage an das Volk. In der Gerichtsrede führt JHWH selbst das Wort.  

Wie aber ist nun konkret das „Festmahl“ im Angesicht des Gerichtes zu verstehen?  In Kapitel 25 nimmt der Prophetentext eine völlig andere Wendung. Die Stadt ist zerstört und der Prophet stimmt jetzt das „Danklied der Erlösten“ an. (Kapitelüberschrift Lutherbibel) Die Stadt ist jetzt offensichtlich eine Stadt der Feinde und sie ist zum Steinhaufen gemacht. Das Lesen dieser Zeilen mutet gerade aus der Perspektive der Gegenwart des Jahres 2019 merkwürdig an. Die zerstörten Städte und Dörfer in Syrien, die Kämpfe um die IS-Terror-Milizen und flüchtende Menschen – wer hat diese medialen Bilder nicht irgendwie im Kopf? Und wenn im Text vom Wüten der Tyrannen (Jes. 25.4) die Rede ist, komme ich heute leider nicht umhin auch an die bedenkliche Entwicklung in Israel zu denken, wo plötzlich über neue Gebietsansprüche auf den Golanhöhen nachgedacht wird und in der politischen Landschaft des Staates Israel ein gefährlicher Kurs in Richtung der „Ultraorthodoxen“ beschritten wird. Der Krieg in Palästina ist eine unendliche Geschichte und wer wollte nicht, dass dies endlich im Namen von Religion aufhört? Gleichzeitig kommen dann aber wieder auch beim Lesen des Textes andere Gedanken in den Kopf und die Opfer sprechen aus dem Text. Die „Armen“, die „Schutz in der Trübsal“ erhalten (Jes. 25,4) werden plötzlich mit ihrer inneren Erleichterung wahrnehmbar. Aber ob sie wirklich ein Fest nach der Zerstörung feiern würden? 

 

II/

Das Fest und das Reich Gottes

Von der Bibelwissenschaft wurde der Textabschnitt Jes. 25.6-8 „Orakel“ verstanden bzw. als ein eschatologisches Gedicht, das also in poetischer Sprache verfasst ist und ein Zukunftsbild nach der Vernichtung entwirft. Auch dies ist tief im Selbstverständnis des jüdischen Glaubens verankert. Die Leidensgeschichte des biblischen Volkes Israel, die nach den alttestamentlichen Erzählungen die ägyptische und babylonische Gefangenschaft erlebt hat – von den Progromen in der späteren Geschichte und der Shoa im 20 Jahrhundert einmal abgesehen – lebt aus einem Hoffnungsgedanken.

Dieser Hoffnungsgedanke verwendet in der hebräischen Tradition Bilder, Symbole und Worte. Eines dieser festen Glaubenssymbole ist der Berg. Der Berg ist der Ort, an dem JHWH dem Mose erschienen ist und ihm die Tafeln der 10 Gebote übereignet hat. Es ist ein heiliger Ort – ein Ort der Offenbarung. Und so bezieht sich der Predigttext mit einigen Andeutungen auch auf das Ereignis der Offenbarung gegenüber Mose. Auf dem Berg war Rauch und so konnte der Prophet Moses JHWH nicht sehen. (1. Mose 19). In der Offenbarung, von der nun der Prophet Jesaja erzählt und bei dem es um ein Festmahl geht, wird die Hülle weggenommen (Jes. 25,7) und können -  so darf vermutet werden – alle und so auch die Heiden JHWH sehen. Es ist also eine Offenbarung, die man mit den Worten des Theologen Karl Barth als das „totaliter aliter“ – also den oder das Ganz Andere – bezeichnen kann. Und in Vers 9 komplettiert Jesaja den Gedanken: „Siehe, das ist unser Gott, auf den wir hofften, dass er uns helfe. … Lasst uns jubeln und fröhlich sein über sein Heil.“

Das Kommen des Reiches Gottes ist also in der Vorstellung der hebräischen Bibel verbunden mit einem großen Freudenmahl. Der Begriff kommt in der Geschichte Israels erst mit der Zeit der Prophetie und Apokalyptik auf. In diesem Begriff finden sich gleich mehrere Vorstellungen vereint, von denen das Kommen Gottes zum Endgericht eine der wichtigsten Elemente darstellt. Die jüdische Prophetie deutet in diesem Begriff die Exilsgeschichte Israels und entwickelt gleichzeitig eine Zukunftsvision. Dabei bleibt in gewisser Weise unklar, ob mit dem Begriff des Reiches Gottes zugleich auch ein politisches Verständnis verbunden ist.

 

III/

Ostern und die Überwindung des Todes

An der Vorstellung des Reiches Gottes und seiner Verwirklichung durch die Auferstehung von Jesus Christus trennen sich letztlich die jüdische und die christliche Vorstellung. Hier sind sich die jüdische und islamische Religion im Übrigen einig, dass Jesus von Nazareth nicht der endgültige Messias und damit Gottes Sohn ist, sondern als außerordentlicher Mensch in der Tradition der jüdischen Propheten gesehen werden muss. Ostern – und damit das christliche Bekenntnis der Auferstehung – trennt die semitischen Religionen Judentum, Christentum und Islam.   

Für Christinnen und Christen ist der gekreuzigte Jesus von Nazareth der Messias und der Christus. Ein Neutestamentler benutzte dafür einmal die Sentenz:  „Die Sache Jesu geht weiter“ und er meinte, dass Jesu Vorstellung vom nahen Reich Gottes mit seiner Auferstehung Bestandteil in der Wirklichkeit der Welt geworden ist. Im Glauben an den Christus des Neuen Testamentes wird mit der Auferstehung am Ostersonntag die Passage des Textes aus Jes. 25,8 wahr: „Er wird den Tod verschlingen auf ewig“.

Mit der Überwindung des Todes – so die Glaubensaussage im Neuen Testament – hat das Reich Gottes „schon jetzt“ begonnen, auch wenn die Wirklichkeit der Welt eher als ein düsteres Szenario erscheint. Und wenn das Reich Gottes in gewisser Weise schon unter uns ist, dann kann auch das große Freudenmahl beginnen. Ich stelle mir dies in einer wunderbaren Landschaft in Szene gesetzt vor. Einer meiner Lieblingsfilme „Erbsen auf halb sechs“ des Filmregisseurs Lars Büchel bringt ein solches Diner am russischen Lagoda-See in Szene. Leuchtende rote Fahnen wehen und man blickt von einem, mit einer weißen Tischdecke geschmückten langen Tisch  auf das Meer, das den Betrachter die Unendlichkeit erahnen lässt.  Obwohl der Tod mit am Tisch sitzt in dieser Szene, erscheint der Tod dennoch als überwunden in der metaphysischen Atmosphäre des kulinarischen Mahls.

Mit dem Oster-Schmaus zelebrieren wir also letztlich den Vorgeschmack des Reiches Gottes und hier gehen dann wirklich Ästhetik und Offenbarung eine Verbindung ein. Dem Grunde nach hatte also der schweizerische Gastrokritiker (was immer das ist) Recht. Im Genuss bekommt der Mensch ein Vorgeschmack auf das Reich Gottes und enthält die Ästhetik einen Hauch von Offenbarung. Es wäre nun wahrscheinlich zu verwegen, die Sitte des „Probier-Häppchens“ zu theologisieren, aber dem Genuss beim Essen sollten wir vielleicht doch manchmal mehr eine theologische Note beigeben, um aus der Schale der Ästhetik den Kern der Offenbarung zu spüren. Wahrscheinlich nicht umsonst definierte der theologische Altmeister des 19. Jahrhunderts Friedrich D.E. Schleiermacher die Religion in seinen Reden als „Sinn und Geschmack für das Unendliche“.  In diesem Sinne wünsche ich Ihnen genussvolle Ostern. 

Perikope
22.04.2019
25,6-9