Den ganzen Nachmittag schon sitzt sie in der Kapelle des Krankenhauses. Die Kerzen am Lichterbaum brennen. Sie hält einen bunten Faden in den Händen, den sie immer wieder betrachtet, befühlt, ihn irgendwie ausmisst. Ich sitze einige Reihen hinter ihr. Dann wendet sie sich zu mir um, blickt mich an und sagt: „Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? Ich denke schon den ganzen Nachmittag darüber nach.“
Das eigene Leben, wie ein bunter Faden. Individuell die Farben, das Material, die Stärke der Einzelfäden, die zusammenkommen und auch die Länge. Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? – als Krankenhausseelsorgerin ist diese Frage für mich allgegenwärtig.
Ich denke an einen Besuch auf der Palliativstation, an die Worte einer Patientin: „Mein Lebensfaden wird bald abgeschnitten. Schnipp schnapp, einfach so.“ Traurig und resigniert liegt die schmale, blasse Frau im Bett. „Es gibt keine Hoffnung mehr. Keine Therapieoption“, fährt sie fort. „Warum?“ fragt sie? „Warum passiert mir das? Hätte ich das gewusst… so gerne würde ich … ist das gerecht? Wie kann Gott das zulassen … wo ist er überhaupt?“ Die Klage einer schwerkranken Frau, die ihren Tod vor Augen hat und so gern noch leben würde. Die Klage, die Bitte, der Schrei hin zu Gott – so alt wie die Menschheit. Biblisch, wenn Hiskia betet:
In der Mitte meines Lebens muss ich dahinfahren, zu des Totenreichs Pforten bin ich befohlen für den Rest meiner Jahre. Ich sprach: Nun werde ich nicht mehr sehen den Herrn, ja, den Herrn im Lande der Lebendigen, nicht mehr schauen die Menschen, mit denen, die auf der Welt sind. Meine Hütte ist abgebrochen und über mir weggenommen wie eines Hirten Zelt. Zu Ende gewebt hab ich mein Leben wie ein Weber; er schneidet mich ab vom Faden. Tag und Nacht gibst du mich preis; bis zum Morgen schreie ich um Hilfe; aber er zerbricht mir alle meine Knochen wie ein Löwe; Tag und Nacht gibst du mich preis. Ich zwitschere wie eine Schwalbe und gurre wie eine Taube. Meine Augen sehen verlangend nach oben: Herr, ich leide Not, tritt für mich ein! Was soll ich reden und was ihm sagen? Er hat’s getan! Entflohen ist all mein Schlaf bei solcher Betrübnis meiner Seele. (Jes 38, 10b-15)
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Frieden, um Freiheit, um Hoffnung, bitten wir. In Sorge, im Schmerz, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 1)
Ich erinnere mich an einen anderen Besuch: „Ich weiß, dass mein Leben nach dem Unfall am seidenen Faden hing“, das sagt der Patient immer wieder. Seit über drei Monaten liegt er nun hier im Krankenhaus. Mühsam lernt er gerade wieder laufen. Sprechen und schreiben kann er schon wieder. Es liegt noch ein langer Reha-Weg vor ihm. Und er weiß auch, dass er in sein altes Leben so nie wieder zurückkehren kann und wird. Die alte körperliche und geistige Fitness wird er nicht wieder erreichen. Und doch ist er voll des Glücks, der Dankbarkeit über diese unverdiente zweite Chance, wie er sie selbst nennt. „Und die nutze ich, diese zweite Chance, jeden Tag, da können sie sicher sein!“ Ja, da bin ich mir sicher, so wie er mich anstrahlt. Dieser Mann hat Heilung erfahren – und er erzählt dies weiter, quasi als Loblied, den Menschen und auch Gott. Auch das ist biblisch. Ich lese das Gebet des Hiskia weiter:
Herr, davon lebt man, und allein darin liegt meines Lebens Kraft: Du lässt mich genesen und am Leben bleiben. Siehe, um Trost war mir sehr bange. Du aber hast dich meiner Seele herzlich angenommen, dass sie nicht verdürbe; denn du wirfst alle meine Sünden hinter dich zurück. Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht, und die in die Grube fahren, warten nicht auf deine Treue; sondern allein, die da leben, loben dich so wie ich heute. Der Vater macht den Kindern deine Treue kund. Der Herr hat mir geholfen, darum wollen wir singen und spielen, solange wir leben, im Hause des Herrn. (Jes 38, 16-20)
Mein Handy klingelt. Es ist meine Freundin. „Hast Du Lust heute ein bisschen zu feiern?“, fragt sie. Ich bin etwas überrumpelt. „Wieso? Was gibt es denn zu feiern?“ „Das Leben“, sagt sie ganz schlicht. Und sie fügt hinzu: „Ich war heute bei der Krebsvorsorge. Und vorher hatte ich wieder diese scheiß Angst. Dieses Gefühl, es könnte alles einfach ganz schnell zu Ende sein und ich kann nichts machen. Aber: Alles ist gut! Ist das kein Grund zu feiern?“ Ja, wir feiern das Leben, einfach so, weil es nicht selbstverständlich ist. Was für ein schöner, fröhlicher Abend mit Lachen und Reden, mit Brot und Wein.
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Einsicht, Beherztheit, um Beistand bitten wir. In Ohnmacht, in Furcht, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 2)
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Wer entscheidet über seine Länge?
Das Bändchen in meinem Gesangbuch ist – vielleicht gar nicht so zufällig – bei Psalm 90. Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden. Ja, wir wissen, dass wir irgendwann sterben werden. Ja. Auch Hiskia, der das biblische Loblied singt und Heilung erfahren hat. Auch der Patient, der so glücklich und dankbar ist, dass sein seidener Lebensfaden wieder fest wurde. An dem Abend mit meiner Freundin, da haben wir es bedacht und dabei und deswegen das Leben gefeiert, bewusst, bei Brot und Wein.
Die Endlichkeit bedenken, beim Feiern, in Gesundheit, in Krankheit und im Gebet. Und darauf zu vertrauen, dass Gott mich hört, mich erhört. Aus Erfahrung, nicht nur von der Palliativstation, wissen wir, dass Erhörung nicht bedeutet etwa eine Krebserkrankung zu heilen. Aber ist Erhörung nicht auch Kraft, Trost, Halt, Geborgenheit, Vertrauen, dass Gottes Kraft in den Schwachen mächtig ist? Es ist die Sehnsucht da, dass aus der Klage vor dem Tod das Vertrauen in das Leben werden kann.
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Um Heilung, um Ganzsein, um Zukunft bitten wir. In Krankheit, im Tod, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 3)
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Ich habe immer nur einen Teil des Lebensfadens in der Hand, nicht den Anfang und auch nicht das Ende. Mit diesem Teil kann ich etwas machen. Diesen kann ich befühlen, ertasten, etwas hineinweben, herausreißen, an etwas anknüpfen. Der rote Faden bei all den offenen Fragen ist der Liebesfaden Gottes zu uns. Dieser kennt keinen Anfang und kein Ende. In ihn hineingewebt sind alle unsere individuellen, bunten Lebensfäden.
Meine Gedanken gehen wieder zurück zu der Frau in der Krankenhauskapelle. Der Faden, den sie in ihren Händen befühlte, den hatte sie aus dem Taufbecken genommen. Diese Worte sind darin eingraviert: Fürchte Dich nicht. Ich habe dich erlöst! Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein! (Jes 43, 1)
Wie ist das eigentlich mit dem Lebensfaden? Meine Antwort an die Frau in der Kapelle ist: Ich vertraue darauf, dass unser Lebensfaden in Gottes Händen gut aufgehoben ist – und deswegen auch niemals reißt oder abgeschnitten wird, egal was passiert. Ja, unser Lebensfaden ist bei Gott in guten Händen – und so vertraue ich bei und in allem auf sein „Fürchte Dich nicht!“ Amen.
(Lied, wenn möglich von Kantor*in gesungen: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein. Es ist ein Sehnen, ist ein Durst nach Glück, nach Liebe, wie nur du sie gibst. Dass du, Gott, das Sehnen, den Durst stillst, bitten wir. Wir hoffen auf dich, sei da, sei uns nahe Gott. Ergänzungsheft zum EG 24, 4)
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Mein Predigtort ist die Kapelle des Krankenhauses. Meine Gemeinde sind eine kleine Zahl von Patient*innen, die ich in der Regel vorher nicht persönlich kenne. Auch wird der Gottesdienst per Video in die Zimmer übertragen. Ich feiere Gottesdienst mit und für Menschen, die sich im Krankenhaus in einer Ausnahmesituation befinden. Ein Gespür für die Kostbarkeit und Unverfügbarkeit des Lebens liegt oft in der Luft, ebenso wie die Frage nach Sinn und Ziel des Lebens sowie angesichts von schweren Diagnosen die Frage des „Warum“.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Das Bild des Lebensfadens zu skizzieren und auszugestalten hat mir großen Spaß gemacht. Dieses Bild aus dem Predigttext aufzunehmen, es in den Ort Krankenhaus mit den Lebensgeschichten und -fragen der Menschen hineinzutragen und mit der Geschichte Gottes zu verbinden – eine Komposition, die mich beflügelt.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Wie ist das mit dem Lebensfaden? Eine existentielle Frage heute genauso wie zu biblischen Zeiten. Allein mit dem auf Gott vertrauenden „Fürchte dich nicht“ kann ich diese Frage für mich und mein Gegenüber aushalten.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Fokussierung im Bild des Lebensfades und die Zentralisierung auf den vertrauenden klaren Schluss.