In der Tiefe das Hohe, im Kleinen das Große - Predigt zu Micha 5 ,1-­14a von Prof. Peter Lampe
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In der Tiefe das Hohe, im Kleinen das Große - Predigt zu Micha 5 ,1-­14a von Prof. Peter Lampe

Liebe Weihnachtsgemeinde,

Gnade sei mit Euch und Friede in dieser Heiligen Nacht von dem, der da ist, der da war und der da kommen wird. Amen.

Heiliger Abend 2017. Es begab sich aber zu der Zeit, als der Kaiser Augustus sich aus dem Pariser Klimaabkommen verabschiedete, aus der Unesco, aus der UN-Flüchtlingsvereinbarung. Es begab sich zu der Zeit, als nachprüfbare Wahrheit als Lüge beschimpft wurde und Fake-news-Vorwürfe vom eigenen Lügen ablenkten. Als Big Brother und Big Data sich vielerorts zusammentaten. Als Minderheiten ihre Ansichten herausposaunten, indem sie diese als Volksmeinung verkauften – in Ländern, in denen die Bevölkerung, Gott sei’s gedankt, noch vielerlei Ansichten hegte. Es begab sich zu einer Zeit, als im weihnachtlichen Weißen Haus sich eine Wandelhalle mit gespensterhaft nackten Reisern schmückte, weiß von falschem Schnee, vielleicht um anzudeuten, wie in zehn Jahren Nationalparks aussehen könnten. Wer dort hindurch ging, wünschte sich eine warme Jacke herbei, obschon das Haus fossil beheizt war. Es begab sich zu derselben Zeit im Advent, als dieses Weiße Haus seine höchste Gesundheitsbehörde (CDC) anwies, bestimmte Wörter wie „verletzlich“, „wissenschaftsbasiert“ und „Vielfalt“ in Budgetdokumenten nicht mehr zu verwenden. Es begab sich zu der Zeit, als ein Jahrhundert amerikanischer Vorherrschaft und fünf Jahrhunderte westlicher Dominanz auf der Erde dem Ende sich zuneigten. Als niemand mehr Deutschland regieren wollte und, wie der britische Economist kommentierte, sleeping beauty die bundesdeutschen Regierungsgeschäfte verwaltete. Es begab sich, als sieben Millionen Jemeniten vor einer menschengemachten Hungersnot bedroht wurden, die die Welt Jahrzehnte lang nicht gesehen hatte. Zu einer Zeit, als es in den Herzen zitterte angesichts beginnender Erosion demokratischer Kultur – auch in Europa. Als, ja, als Furcht die Herzen beschlich, zum ersten Mal echte Furcht um die Zukunft der Kinder- und Enkelgenerationen. Es begab sich zu der Zeit, als der Weihnachtsevangelist Lukas in den Raum rief: „Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird“ (Lk 2,10), und als der Prophet Micha weissagte: „Du Bethlehem Ephrata, die du klein bist unter den Tausenden ..., aus dir soll mir kommen der, der.... sie weiden wird in der Kraft ... seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen ... und er wird der Friede sein“ (5,1-4). Allein, es begab sich zu einer Zeit, als der Glaube an Sicherheit, an Frieden schwer fiel.

Heilig Abend 2017. Da ist sie wieder, die zweitausendjährige Botschaft, dass der allmächtige Gott sich in einem ohnmächtigen Menschen zeigt, in einem Kind im Futtertrog des Ochsenstalls. Eine Botschaft für Esel, die die Dissonanz des Paradoxen nicht stört. Das Starke sei im Schwachen zugänglich. Gottes Heilschaffen im Elend eines Kreuzes, im Gestank eines Stalls zu finden. Und nur da zu finden. Was für ein Blödsinn, notierte bereits Paulus als Reaktion der Welt auf sein Evangelium (1 Kor 1,18ff). Gott sei verborgen in dem Schwachen? Und dort dann sichtbar, greifbar, be-greifbar? Das ist die Zumutung der Weihnachtsbotschaft. Die verstörende Zumutung, die trösten soll; die stärken soll – im weihnachtlichen Innehalten vor einer neuen Jahresrunde auf dem Karussell absurden Welttheaters.

Wie nähern wir uns der alten Botschaft? Fast auf den Tag in vier Monaten jährt sich zum 500. Mal die Heidelberger Disputation, die Martin Luther im Hörsaal der Freien Künste der Heidelberger Universität bestritt. Am 26. April 1518. Nur ein paar Schritte von hier. Er verteidigte vor stirnrunzelnden Theologieprofessoren, aber begeisterungsfähigen Studenten 28 Thesen, die seine Kreuzestheologie entfalteten. Ich zitiere ein paar Sätze Luthers, die er den skeptischen Theologen ins gerunzelte Gesicht schleuderte: Nur „der [verdient ein rechter Theologe genannt zu werden], der das, was von Gottes Wesen sichtbar und der Welt zugewandt ist, als in Leiden und Kreuz sichtbar gemacht begreift.“  Oder sagen wir es anders: Nur der, der den Himmel im Stalltrog zu finden vermag. Der Disputant Luther spitzte zu: Gott kann nur dort, „nur in den Leiden und im Kreuz gefunden“ werden. Er ist der „in Leiden verborgene Gott“ [deus absconditus in passionibus]. Im Unscheinbaren verborgen. Im kleinen Volk am Rande des Römerreichs, im kleinen Ephrata in Judäa, in einer Viehkrippe, in einem Kind.

Gott verborgen und zugleich sichtbar sub contrario – das heißt, im genauen Gegenteil von dem, was sonst mit Gott verbunden wird, im Gegenteil von Glorie, Kraft, Weisheit. Stattdessen schäbiger Stall, kindliche Ohnmacht und Narretei paradoxer Botschaft – die die Welt veränderte.  

Überlegen wir einen Augenblick, was dieses Zusammendenken von Gegensätzen anzustellen vermag. Was macht es mit einer Kultur, wenn sie lernt, im Schwachen, Unscheinbaren, im Stallkind Gott zu entdecken? Ethisch bedeutete dies – und kein anderer begriff dies besser als Matthäus – ethisch bedeutete dies, im Gesicht des Hilflosen, des Kranken  das menschliche Angesicht Gottes zu sehen, und das hieß: das geschundene Antlitz Jesu Christi (Matth 25). Es bedeutete, am Krankenbett Christus zu begegnen; selbst dem dementen Patienten Würde zuzusprechen, dem Obdachlosen, der Geflüchteten. Wer Menschen liebt, und seien sie hässlich, blickt Gott ins Gesicht. Wir spüren, wie sehr die weihnachtliche Denkart des sub contrario den schwachen Menschen aufwertete, ihm Würde zusprach. Paulus nahm denselben ethischen Impuls auf. In Philipper 2 zitierte er einen alten Christushymnus aus den ersten beiden Jahrzehnten des Christentums und führte ihn so ein: „Seid so gesinnt, wie es Christus Jesus war: Obgleich er göttlicher Gestalt war..., entäußerte er sich selbst und ... ward den Menschen gleich .... Er erniedrigte sich selbst“. Statusverzicht, Sich-Zurücknehmen, das Zurückstellen von Eigeninteressen – um anderer willen. Das ist es, was Gott vorlebt. Das ist Lieben in radikaler Form. Wer dies schafft, ohne sich selbst zu schaden, ohne das Liebe-dich-selbst zu vernachlässigen, der findet die Gestrandeten, der beherbergt die Heimatlosen, der verbindet die Gebrochenen. Er kann nicht mehr die Schwachen als „Loser“ verhöhnen, wie Mr. Trump dies tut. Frieden schafft das nicht. Frieden schafft, wenn eine wohlhabende Familie bei sich zu Hause einen begabten Jungen aus einem Dorf in Nepal aufnimmt, damit er in Europa das Abitur absolviert, um zurückzukehren in sein Land und in Kathmandu zu studieren. Wenn dieselbe Familie sich mit anderen Wohlhabenden in Zürich zusammentut, um in Entwicklungsländern auf den Dörfern Bibliotheken einzurichten und die Menschen ins Lesen und Nachdenken zu locken. Das schafft Frieden – über Ländergrenzen hinweg. Diese Familie geht selten zur Kirche, aber sie hat etwas vom tätigen Christensein verstanden. Vom Aufsuchen der Schwachen, vom Aufrichten der Kleinmächtigen.

Das weihnachtliche Denken des sub contrario bewirkt darüber hinaus ein Zweites. Nicht nur ändert der Blick auf das Schwache sich. Es ändert sich umgekehrt der Blick auf Gott. Herkömmliche Gottesbilder werden umgeworfen. Der allmächtige Gott thront nicht nur abseits in jenseitigen Himmeln, unnahbar, ein höchstes Sein. Nein, Gott ist auch „Vater“, der selbst die Haare auf Deinem Kopf zählt, wie Matthäus kühn behauptet (10,29-31). Gott wird „Vater“ an Weihnachten. Eine mutige Weihnachtsbotschaft: Der ferne Souverän als uns Naher. Gott uns nah im Kind der Krippe, einem Kind, das Immanuel heißt, übersetzt “Gott-mit-uns”.

Christinnen und Christen glauben an den, der selbst im menschlichen Dunkel uns noch als Immanuel von allen Seiten umgibt. Als Immanuel, den wir im Gebet bedrängen dürfen und der am Ende des Matthäusevangeliums verspricht: „Siehe, ich bin bei euch – alle Tage – bis an der Welt Ende.“ Fiele ich auch in den tiefsten Abgrund, „so bist du dennoch da“, bekennen die Psalmen (vgl. Psalm 139,5-12). Oft genug nicht als rettender Engel, der wundersam wendet, nein, oft genug selbst geschunden – aber da vielleicht näher als irgendwo sonst. Hier liegt ein, wenn nicht das Geheimnis christlichen Glaubens. Der Souverän thront nicht; er liegt in einem Stalltrog, er hängt an einem Kreuz, an der Seite anderer Menschen. Das ist Weihnachten. Gott – der Immanuel in geschundener Welt.

Und ein Drittes und Letztes ergibt sich aus dem Denken im Paradoxon. Luther verband in der Heidelberger Disputation seine Kreuzestheologie mit seiner Heilslehre (mit seiner sogenannten Rechtfertigungslehre). Will sagen, Gott nimmt einen Menschen nicht deshalb an, weil dieser schrecklich fromm ist, gute Taten und eine weiße Weste vorzuweisen hätte. Wer hat das schon? Gott nimmt einen Menschen einzig deshalb an, weil er ihn als sein Geschöpf vorbehaltlos liebt, ohne weiteres, obgleich dieser Mensch nichts vorzuweisen hat, mit leeren Händen vor ihm steht und mit Ballast auf dem Buckel. Noch einmal Luther-Originalton aus dem Heidelberger Hörsaal nebenan: „Die Liebe des Menschen   entsteht ... an dem, was sie als liebenswert vorfindet.“ „Die Liebe Gottes [dagegen] findet nicht vor, sondern schafft sich, was sie liebt“ [amor Dei non invenit, sed creat suum diligibile]. Sie „liebt, was ... schlecht, töricht und schwach ist, um es ... gut, weise und stark zu machen.“ Sie „verströmt sich so“ und schafft Gutes. Eben „weil sie geliebt werden, sind die Sünder schön, nicht weil sie schön sind, werden sie geliebt.“ Die Liebe Gottes wendet sich „dorthin, wo sie das Gute dem Schlechten und Bedürftigen austeilen kann.“ Für Luther bedeutete diese Erkenntnis ein ungeheueres Befreien von religiösem Druck. Gott schenkt in leere Hände hinein. Gott kommt liebevoll nah – unverdient. Mögen Sie, mögen wir ein wenig davon erspüren in dieser Heiligen Nacht. Mögen wir Heimat und Herberge finden im neuen Jahr. Siehe, ich bin bei Euch alle Tage – als Immanuel geschunden wie Ihr, Euch an der Seite; aber als souveräner Gott auch Herr des Welttheaters. Werft Euch mir in die Arme, “die ihr mühselig und beladen seid“ (Matth 11,28). Ihr werdet Frieden finden in Euch und von dort aus Frieden stiften. Beherzt. Mutig. Nicht resignierend. Zu Beistand wie zu Widerstand bereit, wo er nötig werden wird – an der Seite des Immanuel und inmitten der Gemeinschaft anderer Christinnen und Christen. Keiner von uns ist auf einsamem Posten, egal, was kommen mag. So lasst uns getrost sein und  froh dieses Weihnachtsfest begehen. Siehe, ich bin bei Euch alle Tage, spricht der Friedefürst. Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu in dieser Heiligen Nacht. Amen.