Die heilsame Gnade - Predigt zu Titus 2,11-14 von Ralf Hoburg
2,11-14

Die heilsame Gnade - Predigt zu Titus 2,11-14 von Ralf Hoburg

Die heilsame Gnade

Die knappen Worte sind oft die eindringlichsten und wirklich bewegenden Worte. Oft benötigen sie keine großen Gesten, Umständlichkeiten oder das sprachliche Spiel über drei Ecken und Banden. Sie kommen zur Sache.  Bewegende Worte sind schnörkellos. Eine Zigarette im Mund, das Gegenüber mit dem Blick fixiert und dann in klarer Sprache das richtige Wort zur rechten Zeit. Nicht beschwörend, kein Stück moralisch, aber aufklärerisch und klar. So hat der in diesem Jahr verstorbene Altbundeskanzler Helmut Schmidt oft gesprochen und es ist seltsam, dass ich beim Stillen Lesen dieser Verse aus dem heutigen Predigttext Titus 2,11-14 innerlich die Stimme von Helmut Schmidt höre und ihn buchstäblich im Sessel wie bei seinem letzten Interview sitzend vor mir sehe. Ich weiß nicht, ob er diesen kleinen Text aus der Bibel überhaupt kannte und ob er ihn hätte mögen können, aber der Duktus dieses Textes, seine Widerspenstigkeit und Klarheit bilden eine gewisse Verbindung zwischen dem Text und ihm. Vielleicht ist es die innere Spannung zwischen Zeitdiagnose, Weltdeutung und eigener Glaubenshoffnung, die diese Brücke für mich baut. Jedenfalls regt diese für mich beobachtbare geistige Verwandtschaft dazu an, den aufklärerischen Impetus des Textes zu finden und die Klarheit herauszufiltern, die auch für manche wissenschaftlichen Bibelauslegerinnen und Bibelausleger in den Worten stecken. Jedenfalls ist der Text schon wegen seines Charakters als Teil eines Briefes ganz anders als die traditionelle Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, die vollkommen erzählerischer und zugleich epischer Natur ist. Aber der Text aus dem Titusbrief unterscheidet sich auch von den klassischen Texten aus den Paulusbriefen und ganz und gar anders ist er im Gegenüber zu manch prophetischen Texten, die in Bezug auf das Christusgeschehen zu Weihnachten eher weissagenden Charakter haben. Der Text ist spröde, sachlich formuliert, aber mit innerer Angespanntheit und Beteiligung. Er stellt ein Bekenntnis ohne Pathos dar.

I) Die zwei Pole des Lebens

Liest man über den Text klassische Auslegungsliteratur, so taucht immer wieder die Konzentration auf die Frömmigkeit auf. Es ist der eher christliche Blickwinkel, der das Augenmerk gleich schnurstracks in Titus 2,12 auf den Halbsatz „recht und fromm in dieser Welt leben“ fallen lässt. Wohl davon ausgehend mahnt ein anderer Ausleger in seinem Text von vor ca. 18 Jahren davor, den Text als Pfarrerin oder Pfarrer nicht zu missbrauchen und die spezielle weihnachtliche Kasualgemeinde, die zu später Stunde besonders wegen der musikalischen Gestaltung der Christmette zusammenkommt zu belehren, angriffslustig über Konsumismus zu predigen und so zu verprellen. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass der damalige Bischof einer großen evangelischen Landeskirche dann vorsichtig dazu aufruft darauf zu achten, wie denn der Prediger mit den vielen Gästen und den Erwartungen ihrer Hoffnungen und Illusionen zu Heilig Abend umgeht. Die Strenge dieses Textes mit seiner gewissen sachlichen Radikalität geht dabei indes verloren. Zu leicht lässt sich abdriften in ethische Gemeinplätze oder einer „Theologia gloriae“ folgend auf die Heilsamkeit der Gnade Gottes kommend. So gesehen könnte durchaus in der Gnade, die erschienen ist (Titus 2,11) der Rest des Textes untergehen und dann ist man schnell bei dem üblichen weihnachtlichen Erzählduktus. Die Gnade bestimmt durchaus den Text, aber nicht als erstes, sondern als zweites Argument, das antithetisch dem ersten entgegen gestellt wird.  

Diese Strenge der Textpassage, die oft unterschlagen oder übergangen wird, resultiert aus einer klaren Analyse einer auf das diesseitige Leben konzentrierten Lebensführung. Der Titusbrief zieht in diesem Vers 12 die Konsequenz aus dem in Kapitel 2,1-10 beschriebenen Tugendkatalog, der für die christliche Gemeinde gilt. Für ihn verfügt das Leben über zwei extreme Pole, die es in der christlichen Existenz zu meiden gilt: Da ist einerseits das „ungöttliche Wesen“ des Menschen und andererseits die weltlichen Begierden, die gestillt werden wollen. Während der Apostel Paulus von der Sünde als dem Kennzeichen der menschlichen Existenz spricht, redet der Titusbrief von der Begierde bzw. der Gier. Damit legt der Briefschreiber in nachpaulinischer Zeit eine scharfe Analyse gesellschaftlicher Zustände vor, die durchaus in ihrer skizzenhaften Knappheit auch die heutige Zeit charakterisieren könnte. Vermutlich gilt diese radikale Kennzeichnung menschlichen Verhaltens in Extremform für Auswüchse in jedem Jahrhundert. Aber – so warnte Helmut Schmidt schon vor langer Zeit in einem Buch – lässt die Gier die öffentliche Moral verschwinden, womit er den Werteverlust der gesellschaftlichen Elite in Wirtschaft und Politik anmahnte. Das Leben zwischen „ungöttlichem Wesen“ und „weltlicher Begierde“ anzusiedeln, ist ein scharfes Wort in unsere Zeit hinein.

Das Wort Gier fällt in den letzten Jahren häufig, wenn es um die Analyse von Wirtschaftstheoretikern wie dem aktuellen Nobelpreisträger Angus Deaton geht. Die Gier, der Profit oder der Gewinn zählen unbezweifelbar zu den Antriebsfedern im menschlichen Wesen. Aber nicht allein. Vielmehr weiß die heutige Wirtschaftspsychologie auch, dass menschliches Verhalten auf Teilhabe und Gabe ausgerichtet ist. Dieser innere Dualismus im Wesen des Menschen wird auch in dem Text angesprochen, der auch von der anderen Seite des Lebens weiß, nämlich der Besonnenheit, der Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Frömmigkeit. Man würde vielleicht heute sagen: Der Sehnsucht nach dem guten Leben! Titus beschreibt also das Leben in einem Spannungsverhältnis zwischen Begierde und Frömmigkeit und er bringt diese innere Spannung in Zusammenhang mit Gott. An dieser Stelle wird der Text äußerst interessant und für die Gegenwart von Bedeutung. Denn die Zügelung des Menschen zwischen Gier und der Ungöttlichkeit – oder mit Paulus gesprochen – der Sünde erfolgt durch die „Zucht“, die von Gott ausgeht. Dieses strenge Wort „Zucht“, das in der Lutherbibel verwendet wird, hat im griechischen Text eher die Bedeutung von erziehen oder auf etwas hin bilden.   

Jetzt kommt zum ersten Mal die Gnade ins Spiel, denn sie ist – bleibt man in dem Bild und beachtet auch die Grammatik des Textes – der „Zuchtmeister“, d.h. die Gnade hat einen modern gesprochen erzieherischen bzw. pädagogischen Charakter. Für heutige Ohren klingt das eher verstaubt und unmodern. Wieso soll die Gnade zu einem Instrument der Erziehung werden? Letzten Ende löst sich das Rätsel von der Offenbarung Gottes in Jesus Christus her. Dann aber wird auf Umwegen die Weihnachtsbotschaft doch zur geheimen Mitte des Texts Titus 2,11-14, der ja so auf den ersten Blick gar nicht weihnachtlich ist.

II) O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit…“

Das uns allen bekannte und vertraute Kirchenlied von Johannes Daniel Falk (EG 44) setzt die Erkenntnis des Titusbriefes in Musik und Melodie um. Die Geburt Jesu Christi versteht die biblische Tradition und mit ihr die Theologie und die christliche Frömmigkeit als Heils- oder Gnadenzeit. So deuten die Evangelien und der Apostel Paulus in seinen Briefen aus der Perspektive der Auferstehung und von Kreuz und Ostern aus das Leben und Sterben Jesu Christi als Offenbarung. Verwendet die Bibel den Begriff der Gnade, so wird darin ein Doppeltes ausgedrückt: Der in der Krippe liegende Jesus von Nazareth ist einerseits Ausdruck der Offenbarung Gottes und mit dieser fundamental neuen Zuwendung Gottes zum Menschen, die sein Bekenntnis zum Volk Israel nicht überwindet, sondern fortsetzt, hat sich andererseits für den Menschen gleichzeitig etwas fundamental Neues ereignet.  Die Gnade geht von Gott aus, er ist der Aktive und diese Aktivität übt eine Wirkung auf den Menschen aus. Aus diesem Grund formuliert der Titusbrief im heutigen Predigttext, dass die heilsame Gnade Gottes allen Menschen erschienen ist. (Titus 2,11) Zwei Worte lassen hier sofort aufhorchen und befremden uns teilweise auch wiederum: Dass die Gnade als „heilsam“ beschrieben wird, macht deutlich, wie die Wirkung der Gnade zu verstehen ist. Die Gnade wird – aus christlicher Perspektive – zu einem Zustand des Lebens. Die christliche Existenz, die immer auch Glauben beim Einzelnen voraussetzt, wird wie Paulus es oft beschreibt eine Existenz unter der Bedingung der Gnade. Der Reformator Martin Luther leitet aus dem Begriff der Gnade die Tatsache der Rechtfertigung ab. Das berühmte Lutherlied „Vom Himmel hoch da komm ich her“ (EG 24), das jedes Jahr zu Weihnachten auf der „Top 10“ der Kirchenlieder steht, übersetzt die Rechtfertigungsbotschft in die Volkssprache eines Liedes. „Er ist der Herr, Christ, unser Gott,/ der will euch führ aus aller Not,/ er will eu’r Heiland selber sein,/ von allen Sünden machen rein“. Die Wirkung der Gnade ist also die Rechtfertigung des Menschen. Und nun wird auch innerhalb des kleinen Textes Titus 2,11-14 die logische Verbindung der Verse 11 und 12 deutlich. Nur der Mensch, der sich im Glauben der Gnade Gottes teilhaftig weiß, der versteht warum die Gnade zum pädagogischen Zuchtmeister wird, um sich von dem „ungöttlichen Wesen“ und den „Begierden“ des Lebens zu verabschieden. Damit ist aber nicht ein grundsätzliches Leben im Verzicht gemeint, wie irrtümlicher Weise etwa Teile des Pietismus annahmen. Es geht nicht darum, andächtig und fromm zu leben. So ist der Aspekt aus Titus 2,12 und der Ruf nach Frömmigkeit und Rechtschaffenheit eine Folge von Gnade und nur begrenzt eine religiöse Leistung. Der Mensch kann durchaus kräftig sündigen, wie Luther hin und wieder bemerkte, aber: die Offenbarung macht klar, wo die „Glocken“ in der Welt läuten, nämlich nicht in der Gier nach dem weltlichen Utopia.

Und ein wenig befremdlich – zumal in einer sich radikal kulturell wandelnden Welt – ist zugleich eine kleine Bemerkung in dem Text, dass eben diese heilsame Gnade „allen Menschen“ zu Teil wird. In diesem Anspruch der Universalität der Gnade Gottes liegt durchaus ein Stachel inmitten einer Gesellschaft, die sich als religiös plural, vielseitig und offen versteht. Wir feiern zwar traditionell das Weihnachtsfest am Heiligen Abend, aber wir wissen zugleich, dass wir keine christliche Mehrheitsgesellschaft mehr sind, dass Juden, Muslime und Anhänger asiatischer Religionen ebenso in unserer Gesellschaft leben. Kann da gelten, was der Text behauptet: die heilsame Gnade Gottes ist allen Menschen erschienen? Werden darin nicht Anhängerinnen und Anhänger anderer Religionsgemeinschaften vereinnahmt? Ich denke, dass in heutiger Perspektive hier ein „sowohl als auch“ gilt: Religion hat immer auch den Anspruch auf Heil und Erlösung. Insofern steckt in jeder Religion durchaus ein „fundamentaler“ Gedanke. Der christliche Gedanke der Offenbarung verweist auf die Hoffnung der Herrlichkeit, wie Titus 2,13 betont. Auch der jüdische Glaube hofft auf die Wiederkehr Jahwes und der Islam betont nicht minder den Gedanken der Erlösung. Die großen Religionen vereint das Wissen um die Erlösungsbedürftigkeit der Welt.

III) Weihnachten – Fest der Religionen

Wenn am Heiligen Abend viele Menschen – und wahrscheinlich nicht nur Christinnen und Christen – in die mit Kerzen erleuchteten Kirchen gehen, dann sind ihre Gedanken und Gefühle wahrscheinlich fernab all dieser theologischen Spitzfindigkeiten und Argumentationen. Weihnachten ist das Fest der Geburt Jesu von Nazareth. Der Titus-Brief bezeichnet es als die Hoffnung auf die Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesus Christus. (Titus 2,13) Dieser Heiland wird in der christlichen Tradition als der „Erretter“ beschrieben. An dieser Stelle wird der Predigttext ganz hymnisch und weist über sich hinaus, indem der Briefschreiber die ganze biblische Tradition zu Zeugen nimmt. Er bezieht sich in V. 14 ganz bewusst auf den Hymnus aus dem Philipper-Brief und bekennt, dass der Tod am Kreuz ein Opfer darstellt, das der Erlösung des Menschen diente. Wenn also am Heiligen Abend der Geburt des Heilandes in Gebet, Predigt und nicht zu vergessen in der Musik gedacht wird, dann schwingt bei aller Rührseligkeit der Krippen-Ästhetik mit Engelchen auch immer diese schonungslose Radikalität der Kreuzes-Botschaft mit. Das Kind in der Krippe ist identisch mit dem Mann am Kreuz und wieder wird deutlich, dass beides Wirkung auf den Menschen hat.         

Weihnachten macht in Einem klar: Offenbarung – Gnade und Erlösung zielen auf den Menschen und vor allem darauf, dass ihm ermöglicht wird, anders in der Welt zu leben. In dieser Hinsicht wird Weihnachten über den engen christlichen Rahmen hinaus ein Fest aller Religionen, ohne damit gleichzeitig Gläubige anderer Religionen vereinnahmen zu wollen. Indem das Kerzenlicht von dem Geschehen der Krippe auf die Gesichter der Menschen strahlt, wird der Sinn aller Religionen klar: Es geht um die Botschaft und Erkenntnis der Erlösung. Diese Erkenntnis eint die Religionen. Die Wege dorthin, von der Theologie bis hin zur Frömmigkeit mögen unterschiedlich sein, doch eint sie die Erkenntnis um die Sehnsucht nach Erlösung. So gesehen mag es befremdlich sein, aber könnte doch gerade das Weihnachtsfest ein Fest der Religionen sein – unabhängig von christlichem Bekenntnis. Vielleicht ist das noch Zukunftsmusik, aber bedarf eine Gesellschaft im Wandel nicht auch einer Erneuerung ihrer religiösen Festkultur?  Dann wäre der Satz des Titusbriefes recht gesprochen, dass die heilsame Gnade allen Menschen erschienen ist (Titus 2,11). Weihnachten macht klar: es geht um die Erlösung und die heilsame Gnade. Und da ist es fehl am Platze zu spekulieren, wer denn nun den „bessern Gott“ hat. So spricht bei Gotthold Ephraim Lessing der Protagonist Nathan der Weise die Worte: „Wenn hat, und wo die fromme Raserei, den bessern Gott zu haben, diesen Bessern der ganzen Welt als besten aufzudringen, in ihrer schwärzesten Gestalt sich mehr gezeigt, als hier, als itzt? Wem hier, wem itzt die Schuppen nicht vom Auge fallen… doch sei blind, wer will!“ Ohne fromme Raserei der Religion nach dem „bessern Gott“ könnte in der Welt mehr Frieden sein, würde die französische Zeitungsredaktion Charlie Hebdo auch heute ihre Arbeit weiter tun, wären die religiösen Attentate von New York, London und jüngst Paris überflüssig und wäre Flucht nicht der letzte Ausweg.