„Ein feste Burg ist unser Gott“ – Predigt zum Reformationsfest von Doris Gräb
Liebe Gemeinde!
„Ein feste Burg ist unser Gott“. – Dieses Lied gehört zum Reformationstag – schon immer. Und heute, an diesem 500. Gedenktag der Reformation, wie der staatliche Feiertag in diesem Jahr offiziell heißt, nun doch ganz besonders.
„Ein feste Burg ist unser Gott“ – gleich zu Beginn von uns allen gesungen - zu unserer Vergewisserung: ja, wirklich: ein feste Burg ist unser Gott.
Das gehört zum Reformationstag – und, noch mehr sogar, das gehört zu unserer evangelischen Identität. Mehr noch als die 95 Thesen, von denen wir vorhin – in der kraftvollen Sprache Martin Luthers - einige gehört haben.
Ich bin evangelisch. Wir sind evangelisch. Ja! Und das ist unser Lied, auch heute, bis heute – seit damals.
Damals – da waren nach dem Thesenanschlag im Jahr 1517 schon wieder 10 Jahre ins Land gegangen. Viel war geschehen, was Martin Luther gewiss so nicht vorausgesehen hat. Der Kampf gegen Rom; die Standhaftigkeit vor dem Kaiser und den Fürsten. Die Flucht auf die Wartburg. – Schon wieder der Streit um die rechte Lehre, jetzt unter seinen Schülern. Der Streit ums Abendmahl.
Und dann wütet zu all dem auch noch die Pest in Wittenberg. Die Luthers öffnen ihr Haus für Freunde und Schüler, pflegen Kranke, müssen Frauen und Kinder zu Grabe tragen.
In einem Brief an Nikolaus von Amsdorf schreibt Luther am 1. November 1527, 10 Jahre nach dem Thesenanschlag, wie ihm zumute ist: „Draußen sind Kämpfe, inwendig Schrecken, und zwar herbe; auswendig Streit – inwendig Furcht.“
Und da, so stelle ich es mir vor, da sitzt nun Luther in seiner Studierstube, von all dem unmittelbar erlebten Leid, von grundlegenden Zweifeln und Depressionen durchgeschüttelt und angefochten, und fragt sich: was kann mir jetzt noch helfen? Wo finde ich Hoffnung und Zuversicht? Wo ist ein Ort, zu dem ich fliehen kann?
Er liest in den Psalmen, liest den 46. Psalm, immer und immer wieder, in dem es heißt:
„Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben. Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken“.
Und – er erinnert sich an die Wartburg. Dort, hinter den trutzigen Mauern, hatte er einst Schutz gefunden, vor dem Zugriff des Kaisers – und des Papstes auch. Große Hilfe in äußerster Gefahr.
Dem 46. Psalm gibt er diese Überschrift „Ein feste Burg ist unser Gott“ – Und dann schreibt er das Lied, sein Lied, sein Bekenntnis.
„Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“. Und dazu auch die Melodie, die gar nicht depressiv und schwer, sondern eher leicht und bewegt daher kommt, wenn auch keinesfalls jubelnd oder gar triumphal.
Ein feste Burg ist unser Gott – ja, aber eben doch ganz anders als die trutzigen, meterdicken Mauern der Wartburg mit ihren Zinnen und Türmen. Anders auch als manches trotzige Luther-Denkmal.
Nein, Luthers Lied ist auf diesem Hintergrund kein Heldenlied; keine Marseillaise; kein Kampflied – wie so oft gedacht. – Ein englischer Soldat soll tatsächlich aus dem 1. Weltkrieg berichtet haben, wie unvorstellbar schrecklich es sei, das Maschinengewehr auf ein Regiment zu richten, das mit dem Gesang des Lutherliedes heranstürmt. – Eine Legende, vielleicht, vielleicht aber auch nicht.
Nein, da schreibt doch einer, der von Ängsten gequält, von Zweifeln übermannt ist, von Depressionen geschüttelt. Eher leise, und nicht triumphierend dringt es an unser Ohr:
Dennoch, dennoch, trotz allem: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr…..“ Auch dann noch: Gott wie eine Burg. Wie eine letzte Zuflucht, wenn alles ins Wanken gerät. Dennoch brauchst du dich nicht zu fürchten!
Ein Trostlied, auch für uns heute. Kein Heldenlied. In all den ambivalenten, widersprüchlichen Erfahrungen des Lebens, auch noch in abgrundtiefer Angst und bitterer Not kann ich dessen gewiss sein: da ist einer, der mich hält, der mich nicht ins Bodenlose sinken lässt, der mich mit seinem Schutz umgibt: Ein feste Burg ist mein, ist unser Gott. Darauf kann ich vertrauen, im Leben und im Sterben.
Und dennoch: Luther konnte vermutlich nicht ahnen, welchen missverständlichen Auslegungen sein Bild, sein Lied von der festen Burg im Lauf der Jahrhunderte ausgesetzt war.
In meiner Schwarzwälder Heimat, wo das eine Tal württembergisch – und dann evangelisch wurde – und das andere Tal, jenseits des Berges, habsburgisch und deswegen katholisch geblieben ist, sind die Berge zu Mauern, zu Schutzwällen geworden. Schier unüberwindlich, bis in die 60er, 70er Jahre des 20.Jahrhunderts. So trutzig wie die Berge, so trotzig und unerbittlich waren die Menschen in ihrem Bedürfnis nach Abgrenzung von der jeweils anderen, geradezu als feindlich empfundenen Konfession.
Aber nicht nur dort. Das Bild von der festen Burg kann auch im Flachland, jenseits der hohen Berge, zur Burg-Mentalität, zum Wagenburg-Denken verleiten, zwischen Kirchen, Konfessionen und Religionen, aber auch zwischen politischen Positionen und Parteien.
Ach, wenn Luther wüsste, wie sehr sein Trostbild, sein Trostlied von der Burg Gottes missbraucht worden ist, und bis heute missverstanden wird.
Ich weiß nicht, ob er entsetzt wäre, erschrocken, erst recht von Zweifeln umgetrieben und zu Boden geworfen.
Oder ob er uns, sobald wieder die Wagenburg-Mentalität droht, energisch an das Wort des Apostels Paulus erinnert hätte, das für ihn die Summe des Evangeliums war und nicht minder zu unserer evangelischen Identität gehört.
„Zur Freiheit hat uns Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“
Freiheit – das war gleich zu Beginn der reformatorischen Bewegung Luthers großes Thema, ja vielleicht sein eigentlicher Impuls. Schon im Jahr 1520 hat er seine drei großen Schriften geschrieben, die allesamt von der Freiheit handeln.
Ein Christenmensch ist ein freier Herr und niemanden untertan, auch nicht dem Papst, auch nicht dem Kaiser. –
"Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Gott helfe mir, Amen!"
In großer Freiheit vor dem Reichstag genau so in Worms gesagt. Das war der Impuls, der ihn angetrieben hat - und gewiss eine der Schlüsselszenen der Reformation.
Schier unglaublich für damalige Verhältnisse. In einer Zeit, in der die ganze Weltgeschichte in Bewegung geraten war, da steht in Wittenberg, am Rande der Zivilisation, wie er selbst es sagte, dieser kleine Augustinermönch auf und fragt in nie dagewesener Kraft und Intensität nach dem Grund seiner Lebens- und Heilsgewissheit.
Aus Gottes Gnade und durch seine Liebe bin ich der ich bin, ein freier Mensch –befreit zu einem Leben, das sich, was auch immer geschehen mag, in Gott, der festen Burg, gegründet und geborgen weiß.
Neben all den bahnbrechenden Entwicklungen und Entdeckungen, die sich am Anfang des 16. Jahrhunderts weltweit abzeichneten und die ganze Welt in ein neues Zeitalter führten, ist das vielleicht die größte Entdeckung schlechthin.
Ich, ich Martin Luther, ich armer, elender, sündiger Mensch hier in Wittenberg, ich verdanke mein Leben der Gnade und Liebe Gottes. Getragen von dieser Liebe bin ich in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes entlassen – und darf mein Leben in dieser Freiheit selbstbestimmt und selbstbewusst führen.
Gewiss, gewiss: Martin Luther selbst ist das beste Beispiel dafür, dass ein Leben in Freiheit nicht nur immer leicht und gradlinig verläuft. Freiheit führt in Konflikte und auch in Streit, weil sie doch die Vielfalt der Meinungen und Positionen zur Folge hat „Draußen sind Kämpfe, inwendig Schrecken und zwar herbe, auswendig Streit –inwendig Furcht“ – ja, immer noch, gerade in einem zur Freiheit befreiten Gotteskind. Das Leben mit all seinen unterschiedlichsten Erfahrungen bleibt ambivalent; die im Glauben an Gott gegründete Existenz angefochten und alles andere als siegesgewiss. Dass Gott allein in unserem widersprüchlichen Leben unsere feste Burg ist, dessen müssen wir uns immer wieder neu vergewissern.
Aber das Wagenburg-Denken, das haben wir doch nicht mehr nötig, gerade in unseren Gemeinden nicht.
Ein jeder Christenmensch ist in seiner religiösen Existenz autonom, unabhängig, frei, ein Kind Gottes, ein Priester, unmittelbar vor seinem Gott stehend. Unüberbietbar in seiner ihm zugesprochenen Würde. Ich bin es, - aber die anderen auch. Wer könnte es wagen, anders darüber zu befinden?
Als Joachim Gauck als Bundespräsident verabschiedet wurde, hat er sich beim großen Zapfenstreich „Ein feste Burg ist unser Gott“ gewünscht.
Der Choral habe ihm, so sagte er, schon im jugendlichen Alter Selbstvertrauen geschenkt in einer Gesellschaft, in der sich fast alle aus lauter Angst vor den Herren der Welt weggeduckt hätten.
Solches Selbstvertrauen dürfen auch wir haben, um uns aufrecht, mit gestärktem Rücken, einzusetzen für all diejenigen, die in diesen Zeiten von den Herren der Welt in die Flucht getrieben und mit dem Tod bedroht werden.
Von solchem Selbstvertrauen erfüllt, dem, das aus der christlichen Freiheit erwächst, können wir uns dann aber doch auch auf den Weg machen über manche Mauern hinweg, zu Gesprächen mit unseren katholischen Brüdern und Schwestern.
Denn auch wir, die wir aufrecht und bewusst evangelisch sind, haben die eine Wahrheit nicht für uns. Unsere Freiheit wird uns geschenkt, wird uns zugesprochen. So öffnet sie uns zugleich den Weg zum Anderen, zu den Anderen, die mit derselben unverwechselbaren Würde und den gleichen Freiheitsrechten ausgestattet sind wie wir.
Ein feste Burg ist unser Gott – also wirklich ein Trostlied, und ein Mutmachlied. Zum Leben in dieser Welt, zu einem Leben in Freiheit, auch für die Freiheit der anderen. Amen