Ein Geheimnis, das jeder versteht und niemand erklären kann - Predigt zu Römer 11,32–36 von Helmut Dopffel
11,32-36

„Ein Geheimnis, das jeder versteht und niemand erklären kann“

Liebe Gemeinde,

es gibt Situationen, in denen es mir die Sprache verschlägt – vor Erstaunen oder Entsetzen, vor lauter Glück oder weil mich der Schmerz überwältigt. Und wenn es mir nicht die Sprache verschlägt, oder wenn ich Worte wiederfinde, dann sind es oft zuerst die Worte anderer, ein Lied, ein Gedicht, ein Zitat, ein Vers, der mir die Worte gibt, die mir selbst gerade fehlen: What a wonderful day! Let it be! Oder es bleibt nur ein Buchstabe: O! O wie schön! O wie schrecklich! So ähnlich muss es Paulus gegangen sein. Er schreibt einen Brief an die christliche Gemeinde in Rom, und beim Schreiben klären sich seine Gedanken. Er denkt nach über eine Frage, die ihn sehr beschäftigt, nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Herzen, und die ihn im Grunde sein ganzes Leben lang seit seiner Berufung vor zwei Jahrzehnten umgetrieben hat. Paulus ist Jude, und er denkt darüber nach, warum die allermeisten Juden die Botschaft von Jesus Christus ablehnen, ihn nicht als Messias anerkennen, und deshalb auch nicht anerkennen, dass zum Gottesvolk nun viele Menschen gehören, die keine Juden sind. Unter dieser Ablehnung hat Paulus furchtbar gelitten, äußerlich und innerlich. Es sind doch seine Schwestern und Brüder, seine Familie, sein Volk, das Volk Israel! Und Israel ist von Gott erwählt, ist Gottes große Liebe. Kann Gott diese große Liebe einfach fallen lassen? Ist er nicht treu und verläßlich? Welcher Sinn liegt dann aber in dieser Verweigerung? Dieses Thema ist für die Kirche bis heute nicht erledigt. Und damit verbindet sich eine andere Frage, die uns ebenfalls auch heute noch beschäftigt und zu hitzigen Diskussionen führt: Wie ist es denn mit den Menschen anderer Religionen, Muslimen, Aleviten und Sikhs und Bahai und Buddhisten und Hindus und anderen, mit denen wir heute nicht nur auf dieser Erde, sondern in unserem Land zusammenleben und deren religiöse Überzeugungen wir zu respektieren haben? Sind sie nicht alle von Gott geschaffen und gewollt und seine Kinder? Was hat Gott mit all diesen Menschen denn vor?

Paulus, so sagt er, ist hier einem göttlichen Geheimnis auf der Spur. Ihm ist, beim Schreiben und beim Nachdenken über die Worte des Alten Testaments und die Worte Jesu und über seine eigenen Erfahrungen, ein Licht aufgegangen. Er hat etwas von diesem Geheimnis verstanden, auch wenn er es nicht erklären kann und es deshalb ein Geheimnis bleibt. Ihm ist etwas – eingefallen. Ein göttlicher Einfall! Er fasst ihn so zusammen: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ Und mit alle meint er alle, Juden und Heiden, in seiner Ausdrucksweise, heute würden wir sagen: Alle Völker, alleMenschen. Ausnahmslos alle!

Diese Erkenntnis überwältigt ihn. Und deshalb schreibt er, mitten in seinem Brief, ein Lied nieder, einen Hymnus. Wir wissen nicht, ob er das Lied selbst gedichtet hat oder ob er es zitiert, wir wissen aber, dass das Lied aus Zitaten besteht, und zwar aus jüdischen und heidnischen Zitaten. Und es beginnt mit O:

O welch eine Tiefe des Reichtums,
beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes!
Wie unbegreiflich sind seine Gerichte
Und unerforschlich seine Wege!
Denn wer hat des Herrn Sinn erkannt
Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?
Oder wer hat ihm etwas zuvor gegeben,
dass Gott es ihm vergelten müsste?
Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen

Ich bin davon überzeugt, dass diese Verse allen Menschen etwas sagen, nicht nur denen, die wir heute „religiös musikalisch“ nennen. Die unbegreiflichen Gerichte, die unerforschlichen Wege: Das sind doch ganz reale Lebenserfahrungen. Dramatisch erzählt werden sie zum Beispiel im Buch Hiob, das nicht ohne Grund bis heute populär ist. Hiobs Leben wird durch eine unerklärliche, schreckliche Folge von Unglücksfällen zerstört, sein Wohlstand vernichtet, seine Kinder getötet, er selbst krank, es bleibt ihm nichts als das nackte elende Leben und auch das ist gefährdet. Und das alles, obwohl er ein frommer und gerechter Mann ist, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Warum? Warum ist ihm all das widerfahren? Warum war das sein Weg? Darüber grübelt er nach, darüber grübeln seine Freunde nach, darüber grübeln Menschen aller Zeiten nach. Da wird dieser Satz des Paulus zu einem Vehikel für Resignation, Zynismus und Zorn: Unbegreiflich und unerforschlich sind Gottes Wege. Was ist das für ein Gott! Dafür kann man Gott doch nicht loben! Nein, dafür kann man Gott nicht loben, und dafür dürfen wir ihn auch nicht loben. Das wäre doch nur heroisch und unwahrhaftig. Das will Gott nicht.

Die unbegreiflichen Gerichte, die unerforschlichen Wege können aber auch in eine ganz andere Richtung führen. Manchmal sehen wir lange keinen Weg, und dann entsteht er doch unter unseren Füßen. Die Dinge fügen sich, unerwartet und unvorhersehbar und wunderbar. Wir begegnen einem Menschen, der uns schon immer Angst gemacht hat, an unbekanntem Ort, und zucken zusammen und denken O je, muss das sein? Doch diesmal ist es anders, wir kommen ins Gespräch, ein Faden spinnt sich wo nie einer war, das erste Lächeln, und die Angst macht sich davon als wäre sie nie gewesen. Ja, es musste sein, diese Begegnung. - Eine Erinnerung, die uns bedrückt, eine Schuld die wie eine schwere Last auf uns liegt löst sich auf, weil jemand das richtige Wort gefunden hat, das unser Herz erreicht und leicht und hell macht. - Oder wir blicken zurück auf unseren Lebensweg und sehen: Wäre damals meine erste heftige Liebe erhört worden, wäre ich meiner großen Liebe nie begegnet. Hätte ich mich damals nicht erfolglos beworben, hätte ich die neue Stelle nie bekommen. Und wir erahnen, im Rückblick, im Nachhinein: Gottes Wege sind verborgen und führen doch zum Ziel. Er schreibt auf krummen Linien gerade. Er fügt. Natürlich waren wir selbst es, die diesen Weg gegangen sind. Natürlich waren es andere Menschen, die uns den richtigen Rat gegeben, das lösende Lächeln geschenkt haben. Und doch: Das allein war es nicht. Alles hat sich merkwürdig gefügt.

Es sind die Geheimnisse des eigenen Lebens, und darüber hinaus die Geheimnisse des Lebens überhaupt und vielleicht auch die Geheimnisse der Geschichte und des Universums, an die uns dieses Lied des Paulus von der Tiefe Gottes und seinen unergründlichen Wegen denken lässt. Und vieles bleibt rätselhaft, und manches schmerzlich rätselhaft. Das Lied des Paulus löst diese Rätsel nicht, und nur manchmal blitzt im Leben eine Ahnung auf, wie es sein könnte, diese Auflösung. Aber wenn wir wissen, dass es nicht ein dumpfes und zufälliges Geschick ist, das unser Leben bestimmt, sondern dass es die unerklärlichen und unerforschlichen Wege Gottes sind, auf denen wir gehen oder geführt werden, dann sind wir nicht verlassen, sondern geborgen in einer unbegreiflichen Weise. Wenn wir wissen, dass wir es nicht mit den Rätseln des Schicksals, sondern mit einem Geheimnis Gottes zu tun haben, dann hat sich schon viel verändert.

Für Paulus hat das Geheimnis aber noch einen ganz anderen und präziseren Sinn. Ihm geht es nicht um die Rätsel des eigenen Lebens oder des Universums. Seine Frage heißt ja: Was hat Gott mit den Menschen vor, die nicht an Jesus Christus glauben?  Und da hat er einen Blick auf das Geheimnis erhascht, der sich mit vier Punkten umschreiben lässt:

  1. Gott ist nicht exklusiv. Glauben heißt, zu vertrauen: ich bin sein. Glauben heißt nicht: Gott gehört mir, und nur mir. Oder uns, und nur uns. Gott ist für alle da, denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
  2. Gott hat für jeden und jede den eigenen Weg, und er findet ihn. Für die Juden so, für die Heiden anders. Für dich so und für mich so. Gott findet jeden Menschen und führt ihn zu sich. Für alle gibt es einen Weg. Es geht immer um alle und alles, denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
  3. Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Wir Menschen leben im Ungehorsam. Das ist mir sofort plausibel, wenn ich auf mich selbst blicke. Und es ist mir sofort plausibel, wenn ich auf unsere Welt heute schaue, oder auf die die Geschichte der Menschheit. Ungehorsam bedeutet ganz schlicht: Wir tun nicht, was für uns, für andere Menschen, für diese Welt, für die Zukunft gut wäre und notwendig ist. Ungehorsam heißt: Wir wollen nicht lieben. Doch Gott ist viel größer als unser Ungehorsam, und seine Liebe stärker als unsere Lebensfeindlichkeit. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.
  4. Und schließlich: Dass Gott für alle da ist, dass er für jeden seinen Weg findet, dass seine Liebe stärker ist als unser Ungehorsam: All das haben wir nicht verdient. Wir haben es nicht verdient, können es nicht verdienen, müssen es nicht verdienen. Wir haben es auch nicht gemacht. Wir haben auch keinen Anspruch darauf, sowenig wie es einen Anspruch auf ein gutes Leben, auf ungestörten Wohlstand und Wellness und Gesundheit gibt. Gottes Handeln an uns zerstört alle Machbarkeitsphantasien und jedes Anspruchsdenken. Es ist allein Gottes Tiefe und Reichtum und Weisheit und Erkenntnis, von der wir leben, der wir unser Leben und Weiterleben verdanken. Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.

Gottes Größe und Reichtum ist – das Heil für alle. Das ist das Geheimnis, das Paulus plötzlich versteht, das auch wir verstehen können. Und doch bleibt es ein Geheimnis, denn: Warum ist das so? Warum tut Gott das? Darüber staunt Paulus. Deshalb schreibt er dieses Lied.

Die Tiefe Gottes ist also nicht einfach schwarz und dunkel und bedrohlich. Diese Tiefe der Gottheit ist voller Reichtum und voller Licht und Liebe. Sie ist ein Geheimnis, denn sie ist unerschöpfbar, und keiner kann auf den Grund schauen oder gar auf den Grund kommen.  Aber das Geheimnis ist nicht stumm. Es ist voller Musik. Es hat eine Botschaft: Dass er sich aller erbarme. Es ist ein Geheimnis, weil es jeder verstehen, aber niemand erklären kann. Kein Kalkül, keine Vernunft, keine Moral, keine Philosophie kann das erklären. Aber wir alle verstehen, was es bedeutet. Er erkennt uns, bevor wir ihn erkennen. Er hält uns, auch wenn wir ihn loslassen und loswerden wollen. Wir haben unsere Geschichte mit Gott, und die ist brüchig und voller Fragen und Zweifel und Ungehorsam. Aber Gott hat seine Geschichte mit uns, und die ist treu und verlässlich und voller Liebe und Kraft. Wir sind geliebter, als wir es uns vorstellen können.

Können wir noch mehr sagen über dieses Geheimnis? Die Kirche hat das in ihren Glaubensbekenntnissen gewagt. Der eine Gott ist Gott als Vater, Sohn und Geist, ist also in sich selbst Beziehung, Gemeinschaft, Liebe. Gott ist Vater, Sohn und Geist, und der Geist ist das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn. So etwa, ganz grob zusammengefasst, erklärt das die christliche Theologie, und sie hat das mit großem geistigen Aufwand und Raffinesse entwickelt. Wir glauben nicht an diese Feinheiten der Theologie. Wir glauben aber, dass der eine Gott Liebe ist, in sich selbst zuerst, und dass dann diese Liebe ausstrahlt nach außen und uns und alle umfasst, damit er sich aller erbarme.

Das ist das Geheimnis, das wir erblicken, wenn Gott uns in sein Herz schauen lässt. Aber warum dieses Herz Gottes ist, wie es ist und was es ist, das bleibt ein Geheimnis, bis ans Ende der Zeiten und vielleicht sogar in alle Ewigkeit.

Deshalb sind auch mit dem Lied des Paulus nicht alle Fragen beantwortet, alle Rätsel gelöst, alle Geheimnisse gelüftet. Im Gegenteil: Jedes Geheimnis schafft neues Staunen und neue Fragen und neues Suchen, und dieses erst recht. Wir bleiben unterwegs. Amen.

 

Perikope
22.05.2016
11,32-36