1Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! 2Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen. Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen. 3Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich gebe Ägypten für dich als Lösegeld, Kusch und Seba an deiner statt. 4Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe, gebe ich Menschen an deiner statt und Völker für dein Leben. 5So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, 6ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, 7alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Wenn ich den Satz höre, bin ich glücklich, wenn ich ihn sagen kann, noch glücklicher: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“. Es ist der erste Satz in einem großen Stück! Alle Instrumente stimmen ein. In den Stimmen liegt ein Jubel. Der Auftakt ist grandios. „Fürchte dich nicht!“
Sie kennen den Satz auch? Wie gerne würde ich Sie jetzt fragen! Vielleicht verbinden Sie mit ihm auch Erinnerungen? Nach dem Gottesdienst könnten wir in ein Gespräch kommen! Wir haben hier einen beliebten Taufspruch vor uns. Eltern wählen ihn für ihr Kind. Eine große Verheißung, die am Anfang eines Weges steht. „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Das steht vor eigenen Leistungen, aber auch vor eigenem Versagen. Eine große Freiheit tut sich auf, für die es nur das Wort gibt „Liebe“! Jesaja hat auch das formuliert: „Weil du teuer bist in meinen Augen und herrlich und weil ich dich lieb habe.“ Spricht nun der Herr!
Sammeln wir weiter: Konfirmation. Das ist ein großer Tag für die Familie, aber auch für die Gemeinde. Auf der Urkunde wird auch ein Konfirmationsspruch stehen. Junge Menschen suchen ihn sich aus – oder bekommen ihn geschenkt. Jesaja hat wohl nicht geahnt, dass die Wahl auf ihn fällt.
Wie viele Lebensgeschichten stehen dazwischen, über Jahrhunderte verteilt? Früher war mit der Konfirmation für die meisten Kinder die Kindheit zu Ende. Der „Ernst des Lebens“ begann. Das ist heute zwar anders, aber die Abenteuer, in das eigene Leben hineinzuwachsen, sind nicht einfacher geworden.
An eine Trauung denken wir auch. Zwei Menschen wollen ihr Leben miteinander teilen, durch dick und dünn gehen, schöne und harte Zeiten gemeinsam meistern – bis der Tod sie scheidet. Liebe verträgt keine Begrenzung, kein Haltbarkeitsdatum. Dabei wissen wir, wie zerbrechlich Beziehungen sind. Der gemeinsame Weg kann beschwerlich werden. Mit der Trauung ist ein großer Anfang verbunden, für den wir Gottes Segen erbitten. Eine Traukerze wird überreicht – und im Vorgespräch ein Trauspruch ausgesucht. Viele finden ihn im Internet. Jesaja ist da gut vertreten!
Schließlich drückt dieser Spruch bei einer Trauerfeier oder am Grab eine große Hoffnung aus. Während wir zurückschauen auf ein Leben mit den vielen Facetten und Beziehungen, während wir oft auch mit unseren Gedanken ganz alleine sind, hören wir, was wir uns selbst nicht sagen können: „Ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein“. Es ist wie ein Band, das um ein Leben gelegt wird – oder wie eine Krone, die ihm aufgesetzt wird. Die Grautöne bekommen Farbe. Was im Leben unvollendet bleibt, Fragment, wird von Gott zusammengehalten und in sein Bild von mir, von uns, geformt.
Hanns Dieter Hüsch (1925 bis 2005)[1], das „schwarze Schaf vom Niederrhein“, hat ein Gedicht daraus gemacht:
„Ich bin vergnügt
erlöst
befreit
Gott nahm in seine Hände
Meine Zeit
Mein Fühlen Denken
Hören Sagen
Mein Triumphieren
Und Verzagen
Das Elend
Und die Zärtlichkeit.“
Eine Taufgeschichte
Ich denke jetzt an Olga und Heinrich. Ihre Namen sind nicht echt – ich hätte sie fragen müssen, ob ich ihre Geschichte erzählen darf. Sozusagen auf EKD-Ebene. Vor vielen Jahren schon sind sie aus Kasachstan nach Deutschland gekommen. Ihr Deutsch hörte sich ziemlich alt an, als sie irgendwann im Gottesdienst auftauchten. Dass noch andere Menschen aus ihrer verlassenen Heimat da waren und auf sie zu warten schienen, hat ihnen sichtlich gutgetan. Sie kamen immer öfter. Nur zum Kaffee blieben sie nicht. Wollten sie nur unter sich bleiben? Hatten sie Angst vor den anderen? Fühlten sie sich fremd?
Aber dann war da der Wunsch: Wir möchten getauft werden. Beide hatten schon graue Haare. Und ein bewegtes Leben hinter sich. Ein Glücksfall? Ein Glücksfall! Zum Taufgespräch bin ich zu ihnen gegangen. Wir saßen in ihrem kleinen Wohnzimmer. Sie erzählten. Von Kasachstan, von der Familie, von ihrer Familiengeschichte. Von Verwandten und Freunden, die blieben. Von der Arbeit, die sie einst verrichteten. Vom Aufnahmelager im „Westen“, vom schweren Anfang in der neuen Welt – in unserer Stadt. Vom Gefühl, die falsche Sprache zu sprechen und nicht verstanden zu werden. Von der Angst, nicht Fuß fassen zu können. Einiges, was sie erzählten, kannte ich schon von anderen Geschichten. Sie waren nicht allein. Nachdem die Formalitäten geklärt waren und das Formular zur Anmeldung einer Taufe fein säuberlich ausgefüllt war, mussten wir noch ein Feld ausfüllen: Taufspruch. Wir haben in der Bibel geblättert. Es war wie eine Entdeckungsreise. Glücklicherweise waren manche Sätze, Spitzen-Sätze, dick gedruckt, fielen also auf. Der Versuchung, ihnen etwas zu „empfehlen“, wollte ich nicht erliegen. Die Bibel auf dem Küchentisch, Luther 1912, war wie ein Versprechen.
Bei Jesaja stockten ihre Blicke. „Und nun spricht der Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“ Ich sehe noch die Blicke, die die beiden wechselten. Gesagt haben sie nichts. Aber auch so war alles klar: Er ist es, dieser Spruch, dieses Wort!
Wenn wir jetzt Zeit hätten, würde ich Ihnen gerne mehr erzählen, wie unser Gespräch dann verlaufen ist. Es ist ein ziemlich langes Gespräch geworden. Ein paar Schlaglichter dürfen wohl sein. Wir haben den ganzen Text gelesen.
Wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, und wenn du durch Ströme gehst, sollen sie dich nicht ersäufen.
Wenn du ins Feuer gehst, wirst du nicht brennen, und die Flamme wird dich nicht versengen.
Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels, dein Heiland.
Die beiden erzählten von Stalin und seiner „Bevölkerungspolitik“, als sie von dem Wasser und dem Feuer lasen. Sie erzählten vom „großen Krieg“. Sie erzählten von bedrohlichen Situationen, die sie erlebt haben, davon, wie eingeschüchtert und ängstlich sie waren und sich nicht wehren konnten. Die große Geschichte ist wie ein Bulldozer über sie hinweggegangen. Wasser und Feuer – Bilder für Zerstörung und Tod. Wir sprachen dann darüber, was die Taufe ist: Ein Hindurchgehen. Eine Passage in das Leben.
Hanns Dieter Hüsch mag jetzt noch einmal zu Wort kommen:
„Was macht, dass ich so fröhlich bin in meinem kleinen Reich?
Ich sing und tanze her und hin, vom Kindbett bis zur Leich.
Was macht, dass ich so furchtlos bin an vielen dunklen Tagen?
Es kommt ein Geist in meinen Sinn, will mich durchs Leben tragen.
Was macht, dass ich so unbeschwert und mich kein Trübsinn hält?
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt wohl über alle Welt“
An einer Stelle lebten die beiden „Taufbewerber“ richtig auf:
Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln,
ich will sagen zum Norden: Gib her!, und zum Süden: Halte nicht zurück!
Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde,
alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Was Jesaja wohl dachte? Ich habe den beiden von der großen Heimkehr erzählt, die dem Volk Israel in der Verbannung zugesagt wurde. Das Volk Israel war damals in Babylon. In der Heimat war Jerusalem verwüstet, der Tempel in Schutt und Asche gelegt, Familien auseinandergerissen. Während die Himmelsrichtungen wie Gefängnisse wirken, verkündet der Prophet, dass sie „alle“ wieder nach Hause kommen. Weil Gott es so will, weil er es so sagt. Nein, richtig interessiert waren die beiden nicht, eine alte Geschichte zu hören – sie waren viel zu sehr mitten drin. Sie verbanden mit den Himmelsrichtungen Hoffnungen, dass die vielen Trennungen, die es im Leben von Menschen und Völkern gibt, aufgehoben werden. Keine Angst mehr. Keinen Hass mehr.
Bitte, entschuldigen Sie, ich kann Ihnen nur bruchstückhaft widergeben, was wir bis weit in den Abend hinein in dem kleinen Wohnzimmer bedachten. Als der Taufspruch seinen Platz im Formular gefunden hatte und wir uns verabschiedeten, hat Jesaja gelächelt. Naja, der Jesaja, der uns heute Abend so freundlich und liebevoll begegnet ist.
Der Taufgottesdienst
Am Sonntag darauf feierten wir die Taufe der beiden im Gottesdienst unserer Gemeinde. Es war eine bewegende Szene, als sie am Taufbecken standen und ihre Köpfe sanken. Als das Wasser über ihren Haaren perlte. Sie hatten ihre Namen genannt. Und die Gemeinde hörte: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Olga und Heinrich.
Doch, es war ein Anfang! Aber in diesem Anfang war schon ein ganzes Leben beschlossen. Die Erfahrungen, die nicht verblassen. Die Ängste, die immer wieder hochkommen. Die Hoffnungen, die nicht versiegen.
Wenn ich den Satz höre, bin ich glücklich, wenn ich ihn sagen kann, noch glücklicher: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!“. Es ist der erste Satz in einem großen Stück! Alle Instrumente stimmen ein. In den Stimmen liegt ein Jubel. Der Auftakt ist grandios. „Fürchte dich nicht!“
Als Jesaja den Menschen in Babylon eine neue Zukunft ansagte, als die alten Geister noch ihr Unwesen trieben, mussten die vier Himmelsrichtungen – Osten und Westen, Norden und Süden – ihre Abwehrhaltung aufgeben:
Die Söhne von ferne,
die Töchter vom Ende der Erde –
kommt!
Ihr Verloren drüben,
ihr Geschassten dort –
kommt!
Ihr Heimatlosen in der Ecke,
ihr Verfluchten auf der Flucht –
kommt!
Alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen
Und zubereitet
Und gemacht habe.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn.
[1] Ich bin vergnügt, erlöst, befreit. Erinnerung an Hanns Dieter Hüsch. Deutschlandfunk 10. Juni 2018.