Eine Halsstarrige lernt beten - Predigt zu Ex 32,7-14 von Anika Mélix
Predigttext: Ex 32,7-14 (Elberfelder)
7 Da sprach der HERR zu Mose: Geh, steig hinab! Denn dein Volk, das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, hat schändlich gehandelt.
8 Sie sind schnell von dem Weg abgewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht, sind vor ihm niedergefallen, haben ihm geopfert und gesagt: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben!
9 Weiter sagte der HERR zu Mose: Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein halsstarriges Volk.
10 Und nun lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und ich sie vernichte! Dich aber will ich zu einer großen Nation machen.
11 Mose jedoch flehte den HERRN, seinen Gott, an und sagte: Wozu, HERR, entbrennt dein Zorn gegen dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast?
12 Wozu sollen die Ägypter sagen: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie von der Fläche des Erdbodens zu vertilgen? Lass ab von der Glut deines Zornes und lass dich das Unheil gereuen , das du über dein Volk bringen willst!
13 Denke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und denen du gesagt hast: Ich will eure Nachkommen so zahlreich machen wie die Sterne des Himmels, und dieses ganze Land, von dem ich gesagt habe: »Ich werde es euren Nachkommen geben«, das werden sie für ewig in Besitz nehmen.
14 Da gereute den HERRN das Unheil, von dem er gesagt hatte, er werde es seinem Volk antun.
Predigt
Eins
Liebe Gemeinde,
wenn ich es mit eigenen Augen sehen könnte.
Wenn ich die biblischen Wunder erleben würde.
Wenn sie heute geschähen. Heute, hier in meinem Alltag.
Dann, ja dann wäre es so viel einfacher.
Am Ball zu bleiben, an diesem Gott, an diesem Glauben, am Gebet.
„Sie sind schnell von dem Weg abgewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht, sind vor ihm niedergefallen, haben ihm geopfert und gesagt: Das sind deine Götter, Israel, die dich aus dem Land Ägypten heraufgeführt haben! Ich habe dieses Volk gesehen, und siehe, es ist ein halsstarriges Volk.“
Ein Wunder scheint nicht zu helfen.
Nicht einmal ein großes. Vielleicht das größte.
Gott hat sein Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten befreit. Er hat das Meer geteilt.
Ich meine: WOW!
Und dem Volk fällt nichts Besseres ein, als sich einen Gott aus Gold zu gießen und ihn für die Meer-Sache anzubeten. Das ist absurd! „Halsstarrig“ ist da noch ein freundlicher Ausdruck.
((lange Pause aushalten))
((leise))
Sagt die, die es nach einem bewegenden Gottesdienst manchmal nicht einmal für fünf Minuten schafft, des Erlebten zu gedenken.
Sagt die, die oft vergisst, am Tag auch nur ein Wort an den zu richten, von dem sie auf der Kanzel erzählt, dass er der Grund ihres Seins sei.
Sagt die, die in schweren Stunden Stoßgebete um Hilfe gen Himmel richtet und dann in dem Moment, in dem sich die Situation löst, sich selbst, dem Zufall oder irgendwelchen Einzelpersonen dankt.
Sagt die Halsstarrige.
Zwei
„Und nun lass mich, damit mein Zorn gegen sie entbrennt und ich sie vernichte! Dich aber will ich zu einer großen Nation machen.“
Was ist Zorn?
Meine Tochter brüllt das Haus zusammen. Sie hat Durst. Einen furchtbaren, quälenden, nicht aushaltbaren Durst. So legen zumindest ihre verzweifelten Schreie nahe. Es ist nicht so, dass sie noch nichts zu trinken bekommen hätte. Genau genommen ist der letzte Schluck fünf Minuten her. Da war ich bei ihr. Das war das letzte von sechs Malen. Innerhalb der vergangenen Viertelstunde. Jedes Mal trinkt sie einen winzigen Schluck, dreht sich zur Seite und schließt die Augen. Dieses Mal reicht es mir. Ich reiße die Kinderzimmertür auf, reiche ihr die Wasserflasche (warum sie da nicht selbst ran darf, ist eine andere, sehr sehr nasse Geschichte) mit einem zischenden „Danach will ich nichts mehr hören!“. Sie explodiert sofort: „Ich will doch nur trinken! Darf ich nicht mal trinken? Gar nichts darf ich! Immer machen wir das, was Du willst. Ich bin Dir doch sowieso egal!“ Ich merke, wie mir heiß wird. Ich denke an den vergangenen Tag. Ich bin um halb 6 aufgestanden, um ihr noch für eine Stunde zurück in den Schlaf zu helfen. Ich habe geduscht, ein gesundes Frühstück gerichtet, sie geweckt und in die Betreuung gebracht. Ich habe die Mittagspause durchgearbeitet, weil sie gebeten hatte, früher abgeholt zu werden. Ich war pünktlich bei der Einrichtung. Ich habe ihr ein Eis spendiert und danach habe ich ihr den Rücken gekrault, während sie mir unter Tränen vom Streit mit einer Freundin erzählte. Wir haben ein Spiel gespielt und gemeinsam die Wäsche zusammengelegt. Wir haben zu Abend gegessen und ich habe ihr noch fünf Mal geduldig etwas zu trinken gebracht. „Ich bin Dir doch sowieso egal!“ Das tut weh. Zorn steigt in mir auf. Das nehme ich nicht an. Nicht heute. Nicht an diesem Tag. So nicht!
Was ist Zorn?
Wikipedia sagt: „Im Vergleich zur Wut entzündet sich der Zorn vornehmlich an falsch oder ungerecht empfundenen Verhaltensweisen oder Verhältnissen und hat zum Ziel, diese zu verändern. Wut kann auch ziellos auftreten und unkontrolliert nach allen Seiten explodieren.“
Ich muss bei diesen Worten an all die Zornigen der letzten Wochen und Monate denken. Die Bauernprotestler, die Klimakleber. Da scheint es einige zu geben, die so tief verletzt sind, dass ihr primäres Anliegen ist, diesen Schmerz zu teilen. Da scheint es einige zu geben, die so wütend sind, dass man den Eindruck gewinnt, sie wüteten um der Wut willen. Aber da gibt es auch viele, die nicht nur verletzt und wütend sind, sondern zornig. Die wirklich etwas verändern wollen. Die hoffen, endlich nicht mehr zornig sein zu müssen.
Was ist Gottes Zorn?
Diese Gedankenkreise um den Zorn, öffnen mir eine kleine Tür, zu dem zornigen Gott in unserem Text.
Vielleicht ist hier ein Gott, dessen Zorn aus Verletztheit rührt. Seine Zuwendungen – einfach vergessen. Und vielleicht ist hier noch dazu ein Gott, der hofft, nicht mehr zornig sein zu müssen?
Drei
„Mose jedoch flehte den HERRN, seinen Gott, an und sagte: Wozu, HERR, entbrennt dein Zorn gegen dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast?“
Es ist Krieg in Israel und Palästina.
Es ist Krieg und ich bete.
Es bleibt Krieg und je länger er währt, desto seltener bete ich. Desto fader schmecken die Fürbitten in meinem Mund. Wie soll man da beten?
Die Gewaltorgie des siebten Oktobers schnürt mir die Luft ab. Und auch die unbeschreiblichen Taten der Hamas, ihr strategischer Missbrauch der „eigenen“ Bevölkerung für ihr erklärtes Ziel, Jüd:innen vom Angesicht der Erde zu vertilgen, ändern nichts daran, dass sich mir bei den Bildern unterschiedslos sterbender Palästinenser:innen der Bauch zusammenzieht.
Schlimmer noch: Manchmal erwische ich mich dabei, dass mir beim Gedanken an den 07. Oktober die Luft nicht mehr wegbleibt und die Bilder der sterbenden Palästinenser:innen in den Nachrichten meinen Bauch nicht mehr bewegen.
Je länger, je mehr: Ich habe keine Lösung und muss sie nicht haben. Aber beten, beten will ich, beten muss ich. Doch wie nur? Wie?
Ob der heutige Predigttext hier Antwort geben kann? Ich kann und will den aktuellen Konflikt nicht in die Logiken des Textes von Befreiung und Zorn, von Halsstarrigkeit und Vertrauensbruch einzeichnen.
Aber ich kann und will von Mose lernen. Er hört gut zu, als Gott sich - auch sprachlich! - von seinem Volk distanziert:
„Da sprach der HERR zu Mose: Geh, steig hinab! Denn dein Volk, [Mose], das du aus dem Land Ägypten heraufgeführt hast, hat schändlich gehandelt.“
Es scheint, als ließe Mose Gott diese Formulierung nicht durchgehen, wenn er antwortet:
„Wozu, HERR, entbrennt dein Zorn gegen dein Volk, [HERR], das du mit großer Kraft und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast?“
Mose spricht das Volk wieder in Gottes Hand.
Mose kennt die Geschichte Gottes mit seinem Volk, deshalb kann er Gott dabei behaften.
Von Mose lerne ich beten.
Wieder will ich vorsichtig sein. Das erwählte Volk Gottes mit dem modernen Staat Israel gleichzusetzen, führt in eine Sackgasse. Keine konkrete gegenwärtige Größe mit dem erwählten Volk zu identifizieren ebenfalls.
Aber vielleicht so:
Ich flehe, im Gedenken an die von diesem Konflikt geschundenen Jüd:innen im Land und weltweit, dass Gott daran denkt, dass sie SEIN sind. Dass er sie schon einmal mit großer Kraft befreit hat.
((Pause aushalten))
Und die anderen?
((Pause aushalten?))
Gott hat nicht Dich und mich aus Ägypten befreit. Diese Geschichte ist weder für noch über Dich und mich geschrieben. Aber in diesem monumentalen Befreiungsakt hat Gott auch Dir und mir gezeigt, wer er ist. Er hat seinen Charakter zu erkennen gegeben als einer, der Befreiung schenkt, der Leben liebt, der Hilfe bringt.
Ich flehe, im Gedenken an die von diesem Konflikt geschundenen Palästinenser:innen im Land und weltweit, dass Gott ihnen zum dem Befreier wird, von dem ich weiß, dass er es ist.
Von Mose lerne ich beten.
Vier
„Mose jedoch flehte den HERRN, seinen Gott, an und sagte: Wozu, HERR, entbrennt dein Zorn gegen dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast? Wozu sollen die Ägypter sagen: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie von der Fläche des Erdbodens zu vertilgen? Lass ab von der Glut deines Zornes und lass dich das Unheil gereuen 〈, das du〉 über dein Volk 〈bringen willst〉! Denke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und denen du gesagt hast: Ich will eure Nachkommen 〈so〉 zahlreich machen wie die Sterne des Himmels, und dieses ganze Land, von dem ich gesagt habe: »Ich werde 〈es〉 euren Nachkommen geben«, das werden sie für ewig in Besitz nehmen.“
Ein verletzlicher Gott befremdet. Ein Gott, dessen Verletzung in Zorn umschwingt allemal.
Wie reagiert Mose?
Zwar scheint er auf den ersten Blick sachlich zu argumentieren:
„Du hast sie doch selbst befreit!“
„Was sollen die anderen denken?“
„Du hast es doch selbst versprochen.“
So ließe sich das knapp zusammenfassen.
Doch bei genauerem Hinsehen trägt er hier keine Sachargumente vor. Er reagiert nicht auf den vordergründigen Zorn. Er reagiert auf die hintergründige Verletzung. Er beginnt, mit der Theologin Magdalena Frettlöh gesprochen, Gott zu ent-zürnen. Ihm die Zornesfalten aus dem Gesicht zu streicheln. Seine vor Wut verzerrten Gesichtszüge zu glätten. Ihm zuzusprechen: Ich lasse dich nicht!
„Ich denke daran, was Du für uns getan hast.“
„Für alle war es sichtbar!“
„Ich vertraue auf die Verlässlichkeit deines Versprechens.“
Von Mose lerne ich beten.
Fünf
Es fällt mir schwer so von Gott zu sprechen: Zu erzählen, wie er sich von einem Menschen bewegen lassen muss.
Oder vielleicht: Bewegen lässt?
Oder vielleicht: Bewegen lassen will?
((Pause))
Wieso lässt sich Gott eigentlich von Mose ent-zürnen?
„Dein Volk hat schändlich gehandelt.“
„Sie sind schnell vom Weg abgewichen.“
„Sie haben sich ein goldenes Kalb gegossen.“
Diese Ursachen des göttlichen Zorns – sind sie plötzlich einfach vergessen?
Wenn göttlicher Zorn auf Veränderung zielt, wäre dann Besänftigung nicht einzig möglich, durch die Umkehr der Halsstarrigen?
Die Verse des heutigen Predigttextes beantworten mir diese Frage nicht. Aber sie erzählen davon, dass einer, der zu Gott spricht (und ihm vorher sehr gut zuhört!) einen Unterschied macht!
((Pause))
Wir feiern heute den Sonntag Rogate. „Betet!“ Diese Aufforderung zum Gebet ergibt für mich nur dann Sinn, wenn ich an einen Gott glauben darf, der hofft, nicht mehr zürnen zu müssen.
Ich will so beten, als sei es möglich, Gott durch ein Gebet zu ent-zürnen. Ihn umzustimmen, auch wenn es um Geschicke ganzer Völker geht. Ihm die Zornesfalten aus dem Gesicht zu streicheln.
Ich will so beten, als machte Gebet einen Unterschied.
Von Mose lerne ich, dass Gebet einen Unterschied macht.
„Da gereute den HERRN das Unheil, von dem er gesagt hatte, er werde es seinem Volk antun.“
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Leipziger Stadtkirche. Tendenziell gebildet, bürgerlich, Alter vornehmlich 50+ sowie junge Familien. Hier wird politisch gepredigt und gebetet. Gleichzeitig nehme ich wahr (mich eingeschlossen), dass zwar Krise um Krise weitergebetet wird, die Erwartung, dass dies Gott WIRKLICH bewegen könnte, aber schwindet.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
So ein spannender und spannungsreicher Text. So viele unterschiedliche Spuren. So ein sperriges Gottesbild. So viel bleibt ungelöst. Beflügelt? Ich weiß nicht… Herausgefordert, gereizt, nicht losgelassen, an mir gearbeitet… Oh ja!
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Dass Gebet wirklich etwas bewegt, dass Gott einer ist, der sich bewegen lassen will: Das ist nicht neu. Mir aber neu ins Herz gefahren.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Die Widerspenstigkeit des Textes und die vielen Spuren, die er legt (zur Halsstarrigkeit, zum Zorn, zum Volk Gottes, zur Befreiungserfahrung, zur Verheißung, zum Vernichtungswillen, zum Gebet), haben es schwer gemacht, die Predigt wirklich „rund“ werden zu lassen. Den Impuls, noch einmal nach einer Gesamtaussage und dem „roten Faden“ zu suchen, verdanke ich meinem Predigtcoach. Vielen Dank!