Eine unendliche Geschichte - Predigt zu Joh 6,1-15 von Rudolf Rengstorf
Liebe Leserin, lieber Leser!
Wenn Jesus von Nazareth ein Mensch war wie wir, dann konnte er fünftausend Mann nicht mit fünf Broten und zwei Fischen sättigen und auch noch für eine ganze Menge Reste sorgen. Das wusste der Evangelist Johannes natürlich auch. Und doch erzählt er diese Geschichte, weil es bei dem Menschen Jesus nicht geblieben ist. Er hat sich als der vom Tod Auferstandene gezeigt. Und damit war klar: Er ist in die Herrlichkeit und Macht Gottes eingegangen. Er ist der Christus, der Retter und Heilbringer der Menschen geworden. Und so haben die Evangelisten von ihm erzählt. Von dem Menschen Jesus von Nazareth, in dem Christus sich ankündigt. Deshalb weisen die Geschichten von Jesus immer über sich hinaus. Sie zeigen, wie das Handeln dieses einen Menschen in die Zukunft hineinwächst und immer mehr Menschen erfasst. Fürs Predigen sind diese Erzählungen geschrieben: dazu also, die Menschen in die unendliche Geschichte Jesu und seiner Leute zu verstricken.
So ist in der Speisungsgeschichte zum einen der Mensch Jesus zu sehen, wie seine Zeitgenossen ihn kannten: Wie aufmerksam er seine Mitmenschen im Auge hatte und wie gern er ihr Gastgeber war. Und zugleich wird deutlich, was von ihm zu erwarten ist, wenn Menschen massenhaft nicht genug zu essen haben. Diese beiden Ebenen werden hier übereinander gelegt und zwar so, dass die Hörenden sich und ihre Zeit darin wiedererkennen können und mithineingezogen werden.
Ich gehe die Geschichte noch einmal mit Ihnen durch. Und wenn Sie bei meiner Auslegung denken: Also eigentlich wollte ich wissen, wie das damals war, und jetzt redet der auf einmal von heute: Genau das ist die Absicht dieser unendlichen Geschichten. Also von vorne:
Jesus ging weg ans andre Ufer des Galiläischen Meeres, das auch See von Tiberias heißt. Und es zog ihm viel Volk nach, weil sie die Zeichen sahen, die er an den Kranken tat. Jesus aber ging hinauf auf einen Berg und setzte sich dort mit seinen Jüngern. Es war aber kurz vor dem Passa, dem Fest der Juden.
Nach wie vor zieht Jesus in aller Welt viele Menschen zu sich. Weil seine Worte zu Herzen gehen. Weil seine Taten die Welt verändern. So hat er mit seiner außergewöhnlichen Zuwendung zu Kranken und Behinderten den Startschuss für das gegeben, was sich heute alltäglich in Arztpraxen und Krankenhäusern vollzieht. Und mit ihm gelangen auch wir Nichtjuden in die Nähe von Passa, in die Nähe des Gottes, der sein Volk aus der Sklaverei befreit. Er befreit davon, andere Menschen über mein Leben bestimmen zu lassen. Er bringt auf den Weg in das gelobte Land, auf den Weg dahin, wo Leben gelingt und geborgen ist.
Da hob Jesus seine Augen auf und sieht, dass viel Volk zu ihm kommt, und spricht zu Philippus: Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben? Das sagte er aber, um ihn zu prüfen; denn er wusste wohl, was er tun wollte. Philippus antwortete ihm: Für zweihundert Silbergroschen Brot ist nicht genug für sie, dass jeder auch nur ein wenig bekomme. Spricht zu ihm einer seiner Jünger, Andreas, der Bruder des Simon Petrus: Es ist ein Knabe hier, der hat fünf Gerstenbrote und zwei Fische. Aber was ist das für so viele?
Jesus sieht die vielen Menschen, die zu ihm kommen, und er merkt sofort: Die brauchen doch erstmal was zu essen. Die Sorge um das leibliche Wohl steht hier noch vor der Aufgabe, ihnen das Evangelium zu predigen. Diakonie kommt nicht erst – wie bei Kirchens üblich – an zweiter Stelle. Sie steht hier noch vor der Verkündigung. Das hat die Hildesheimer Blindenmission, mit der ich mich auskenne, begriffen. Zuerst sorgt sie seit ihrer Gründung vor über hundert Jahren dafür, dass blinde Kinder und Jugendliche in den ärmsten Ländern Südostasiens in ein Zuhause kommen, in dem sie leben und lernen können. Erst dann erfahren sie von Jesus, der die Blinden nicht übersehen hat.
In den Volksmassen, die da auf Jesus zukommen, erkenne ich heute die Menschen, die sich von Hunger und Not getrieben nach Europa aufmachen. Und auch jene, die vergeblich auf Weizen aus der Ukraine und aus Russland warten. Das ist eine schier aussichtslose Lage. Da mag es geboten sein für „alle“– wie es in unseren Fürbittgebeten immer heißt – zu beten. Aber mit unseren begrenzten Mitteln – so sieht es aus – ist da nichts zu machen. Und entsprechend armselig fallen die Kollekten aus. Und dann ist da plötzlich die Rede von einem Kind, das fünf Brote und zwei Fische hat. Ein Kind, das noch nicht gelernt hat, seine Habe zu berechnen und mit ihr zu kalkulieren. Und genau dieses Kind wird zum Dreh- und Angelpunkt der Geschichte von der Speisung der fünftausend. Ich erkenne in ihm die Unbekümmertheit des „Wir schaffen das“. Wir lassen das Rechnen und Kalkulieren und fangen an mit dem, was wir haben. So hat auch Greta Thunberg allein mit ihrem Protestschild angefangen, mit dem sie sich mehrere Wochen während der Schulzeit vor das schwedische Parlament setzte. Unfassbar, was binnen weniger Jahre mit „Fridays for Future“ draus geworden ist!
Jesus aber sprach: Lasst die Leute sich lagern. Es war aber viel Gras an dem Ort. Da lagerten sich etwa fünftausend Männer. Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, so viel sie wollten. Als sie aber satt waren, spricht er zu seinen Jüngern: Sammelt die übrigen Brocken, damit nichts umkommt. Da sammelten sie und füllten zwölf Körbe mit Brocken von den fünf Gerstenbroten, die denen übrigblieben, die gespeist worden waren.
Die Unbekümmertheit des Kindes macht Jesus sich zueigen. Also nichts von wegen: Wir müssen die Leute zurückschicken. Können hier doch nicht die ganze Welt… Nein, erstmal sollen sie sich lagern, zur Ruhe kommen und spüren: Hier sind wir richtig. Hier kümmert man sich um uns. Und die Geschichte, dass die Hungrigen gespeist werden, beginnt. Gott hat dabei unsichtbar seine Hand im Spiel. Hat er doch seine Erde so geschaffen, dass für alle genug da ist und noch mehr. Die ungerechte Verteilung ist das Problem. Und alle, die dagegen angehen, setzen die Speisungsgeschichte fort.
Und das Modell für die gerechte Verteilung ist das, was die christliche Gemeinde damals wie heute kennt und feiert: „Da nahm er das Brot, dankte, brachs und gab ihnen das.“ Das sind die Worte aus der Abendmahlsliturgie, wie die ersten Gemeinden sie auch schon kannten. Hier wird es mit Händen zu greifen, wie diese Geschichte in Bewegung ist, wie sie auf uns zielt, die wir mit der Abendmahlsfeier vertraut sind: Seht, hier wird nicht nur Christus unter uns gegenwärtig. Hier geschieht mehr. Er bezieht uns mit ein in die Speisung der Hungernden in der Welt. Das Abendmahl drängt hinaus über den Kreis der Feiernden. Es will sich bewähren in unserem Leben als als Privatpersonen, als Gemeinde und als Bürger eines Staates, der so lange vom ungerechten Weltwirtschaftssystem profitiert hat.
Als Fernsehzuschauer haben wir die Not der ganzen Welt vor Augen. Da liegt es nahe zu resignieren. Die unendliche Geschichte aber begann damit, dass Jesus angesichts einer hoffnungslos erscheinenden Lage begonnen hat, mit dem, was da war. Und sie setzt sich fort, wo immer Menschen beginnen mit dem, was jetzt dran ist. Einschränken und Verzichten ist jetzt dran, ist unausweichlich, wenn für die nächsten Generationen noch viel übrigbleiben soll. Mit dem beherzten Einschränken und Verzichten auf klimaschädliches Reisen und klimaschädlichen Konsum nimmt die Speisungsgeschichte ihren Fortgang. Sie erhält aber eine Vollbremsung, wenn die Rüstungsausgaben verdoppelt werden. Das mag politisch opportun erscheinen. Im Sinne Jesu Christi ist es in keinem Fall. Auf ihn gilt es zu hören, damit die unendliche Geschichte weitergehen kann. Amen.
1. Welche Predigtsituation steht Ihnen vor Augen?
Ich habe Menschen vor Augen, die im Internet auf diese Predigt gestoßen sind und sie lesen möchten. Unter ihnen sind vielleicht Kolleginnen und Kollegen, die auf der Suche nach Impulsen für ihre eigene Predigt sind.
2. Was hat Sie bei der Predigtvorbereitung beflügelt?
Zum einen die Entdeckung, dass das Essen auch bei Jesus vor der Moral, die Diakonie vor der Verkündigung steht. Zum andern, dass die fünf Brote und zwei Fische bei einem Knaben zu finden sind und seine Unbekümmertheit ein Schlüssel für das Verständnis der Perikope ist.
3. Welche Entdeckung wird Sie weiter begleiten?
Die Speisungsgeschichte verbindet sich mit der Abendmahlsfeier, findet hier ihr fortdauerndes Modell, wirkt über diese hinaus weiter und wird zur unendlichen Geschichte.
4. Was verdankt diese Predigt der abschließenden Bearbeitung?
Eine bessere Lesbarkeit, weil komplizierte Sätze aufgelöst wurden und der Gedankengang stringenter hervortritt. Ich bin konkreter geworden mit den Beispielen der Hildesheier Blindenmission, Greta Thunberg und den Hinweisen darauf, wie die Geschichte durch uns weitergehen kann.