Der Seher Johannes, der auf der Insel Patmos gefangen ist, schreibt:
„Danach sah ich, und siehe, eine große Schar, die niemand zählen konnte, aus allen Nationen und Stämmen und Völkern und Sprachen; die standen vor dem Thron und vor dem Lamm, angetan mit weißen Kleidern und mit Palmzweigen in ihren Händen, und riefen mit großer Stimme: Das Heil ist bei unserm Gott, der auf dem Thron sitzt, und bei dem Lamm! Und alle Engel standen rings um den Thron und um die Ältesten und um die vier Wesen und fielen nieder vor dem Thron auf ihr Angesicht und beteten Gott an und sprachen: Amen, Lob und Ehre und Weisheit und Dank und Preis und Kraft und Stärke sei unserm Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.“
1.
Liebe Schwestern und Brüder,
in diesem Fall gleichen sich Himmel und der Erde: Zu besonderen Anlässen wie Weihnachten versammelt sich eine große Menge - von Menschen oder Engel. Der Seher Johannes von Patmos flüstert das Stichwort von der „große[n] Schar, die niemand zählen konnte“, ins Ohr.
Auf dem Weg vom Ohr zum geistigen Auge gleiten Erinnerungsbilder von riesigen Menschenmengen ins Bewußtsein. Verschwommen sehe ich zuerst Tausende von Fußballfans auf der Südtribüne des Dortmunder Stadions. Gemeinsam schwenken die Gruppen Fahnen in den Vereinsfarben Schwarz-Gelb. Sie strecken ihre Schals in die Höhe, und wedeln damit im Rhythmus des Klatschens. Ich sehe auch das riesige Feld auf den Elbwiesen bei Wittenberg. Dort trafen sich im Mai Zehntausende von Kirchentagsbesuchern zum Abschlußgottesdienst und feierten singend und betend die Erinnerung an die Reformation. Ich sehe als nächstes das Feld vor dem Kapitol in Washington, D.C., wo sich im Januar 2017 die Anhänger des neuen amerikanischen Präsidenten in kleinen Gruppen drängten. Sie verfolgten, wie er den Amtseid ablegte und bejubelten seine Einführung. Ich erinner die wie immer übervollen Christvespern und -metten am Heiligen Abend, als sich die Menschen auch in dieser Kirche drängten und wie jedes Jahr nach dem Segen stehend „Oh du fröhliche“ sangen. Ich erinnere mich, wie nach der Weihnachtsgeschichte (Lk 2) auf den Feldern bei Bethlehem Hirten und Engel gemeinsam eine „große Schar“ bildeten und den Frieden auf Erden besangen, bevor sie zur Krippe aufbrachen, um kniend und staunend das Baby von Maria und Joseph zu bewundern. Und ich höre von Johannes von Patmos, daß sich auch vor dem Thron Gottes einmal in ferner Zukunft eine große Schar aus Engeln und Glaubenden versammeln wird. Und wer kann die Teilnehmerzahl angeben?
Manchmal kann man über Teilnehmerzahlen streiten. Vom Berliner Kirchentag haben viele Besucher den Weg auf die schattenlose Wiese an der Elbe bei Wittenberg nicht gefunden. Es sangen und beteten viel weniger Teilnehmer als die Veranstalter geplant hatten. Noch schlimmer war es in Washington. Aus der Luft aufgenommene Fotos bewiesen, daß an der Einführung des Milliardärs als Präsident viel weniger Anhänger teilnahmen, als das bei seinem Vorgänger der Fall war. Trotzdem jubelten die Marketingleute des Präsidenten über dessen triumphale Einführung und sprachen von „alternativen Fakten“, auf die sich Fernsehzuschauer und Zeitungsleser genauso verlassen könnten. Je mehr Teilnehmer, desto mehr Zustimmung, Gemeinschaftsgefühl und Erinnerung. Bei Fußballfans, Politfans, Hirten, Engeln und Glaubenden entscheidet die Menge, die Anzahl: Alle zusammen können lauter singen, inbrünstiger jubeln, besser applaudieren, für dieses Wir-Gefühl sorgen, das Fans, Anhänger und Hirten nicht vermissen wollen. Das ist so wichtig, daß die Marketingstrategen der Politik die Zahl der Teilnehmer verschönern und vergrößern müssen.
Johannes von Patmos schreibt auf, was ihm als Vision erschien. Er muß nicht die faktische Zahl der Glaubenden vor dem Thron angeben. Wie er schreibt, versammeln sich vor dem Thron Gottes 144000 Glaubende. Das sind zwölf Mal zwölftausend Menschen, die Zahl der Stämme Israels in Potenz. Keine fake news, sondern eine symbolische Zahl. Vor dem Thron stehen die Menschen von Gottes Wohlgefallen. Von ihnen singen am Heiligen Abend die Engel.
2.
Als Johannes auf Patmos aufschreibt, was ihm von seinen Visionen in Erinnerung geblieben ist, sehen sich die kleinen urchristlichen Gemeinden im römischen Imperium heftigen Verfolgungen ausgesetzt. Römische Spitzel, Polizisten und Soldaten suchen Christen zu entlarven, bloßzustellen und zu verhaften. Wer nicht auf den göttlichen Kaiser in Rom schwört, wird ohne Gnade hingerichtet. So viele Christen kommen ums Leben, daß der Bestand der Gemeinden gefährdet ist. Der Glaube droht wieder unterzugehen. Die, die noch glauben und den Verfolgern bisher entkommen sind, retten sich in Visionen, die in ihnen Funken von Hoffnung am Leben erhalten. In vielen Teilen der Welt werde noch heute Christen verfolgt: Die koptischen Christen in Ägypten, die zehn Prozent der Bevölkerung des Landes ausmachen, feiern Weihnachts- und Ostergottesdienste seit dem letzten Jahr nur unter starken Sicherheitsvorkehrungen. Bischöfe, Pfarrer und Gemeindeglieder haben bis heute Angst vor Anschlägen. Bei Attentaten und Bombenanschlägen während der Gottesdienste kamen in den letzten beiden Jahren Dutzende von Christen ums Leben.
Manchmal hält die Hoffnung der Wirklichkeit nicht stand. Trotzdem haben die christlichen Gemeinden im ersten Jahrhundert die Verfolgungen des Kaisers Domitian überlebt. Und die koptischen Christen feiern weiter Weihnachts- wie Ostergottesdienste. Die ersten Christen wie die Kopten haben ihre Glaubenshoffnung nicht aufgegeben. Visionen sind Hoffnungen, die zu eindringlichen Bildern geronnen sind. Glaube kann ohne Hoffnung nicht auskommen, auch dort, wo Christen nicht der Verfolgung ausgesetzt sind, auch dort, wo Glaube immer mehr verloren zu gehen droht.
Wer in einen Gottesdienst kommt, der setzt sich mit der Frage nach der Gegenwart Gottes auseinander. Wo läßt er sich finden - in einer Welt, die von Zahlen und Summen, Geldwert und Aktiendepots, Sachzwängen und Einschaltquoten bestimmt wird? Die Hirten staunten über das Baby, die Glaubenden in Johannes‘ Vision danken begeistert für Gottes Thron.
Viele Menschen der Gegenwart zählen ihr Lohnsteueraufkommen, ihre Follower auf Instagram und die Freunde auf facebook. Gott verschwindet irgendwo hinter den Statistiken. Entsprechend kleiner gestalten sich die Hoffnungen, welche Menschen bewegen: Kurzurlaube, Shoppingerlebnisse und Wellness-Wochenenden. In der Politik ist Jamaica gescheitert. An seiner Stelle drohen das Gespenst von Neuwahlen und langwierige Verhandlungen über die Wiederauflage einer Großen Koalition. Wer das Leben mit Zahlen erklärt, macht sich nur noch Hoffnungen auf Wachstumsraten. Aber das Leben geht nicht in Wachstumsraten auf; Geburt, Liebe, Alter und Sterben lassen sich nicht in den Algorithmen des berechneten Lebens einschließen. Der berechnete Mensch erniedrigt sich selbst zum lieblosen und also liebesbedürftigen Menschen. Und diese Menschen ohne Liebe sehnen sich nach Gott, wenn sie ihn denn nur finden würden in der Gegenwart von Warenströmen und Einkaufsräuschen.
An dieser Stelle öffnet sich der schmale Pfad des Glaubens doch noch einmal. Wer sich die Hoffnung auf die Gegenwart Gottes nicht nehmen läßt, der singt von der Weihnachtskrippe und macht sich Gedanken über den Thron.
3.
Hirten knien und Engel schweben staunend vor dem Stall und bewundern das schlafende Baby. Bei Johannes von Patmos stehen die Hundertvierundvierzigtausend vor dem Thron Gottes. Die Vision, die Johannes von der Zukunft des Glaubens entwirft, geht auf die Propheten zurück. Bei Jesaja sitzt Gott im Himmel auf einem Thron, und bei Hesekiel kommen schon die vier „Wesen“ vor, von denen Johannes auch spricht: Engel, Löwe, Stier und Adler. Bei näherem Hinsehen hat sich Johannes von Patmos die Bilder seiner Visionen aus der hebräischen Bibel geborgt. In der erhofften Zukunft erkennen die Glaubenden bewährte biblische Vergangenheit. Ein Thron gehört zur Innenarchitektur eines Palastes: Der König darf als einziger sitzen, während Lakaien, Bedienstete und Höflinge ihm ergeben stehend seine Aufwartung machen. Und Gott wird zum unnahbaren, absoluten Herrscher mit Zepter, Krone und Reichsapfel. Niemand darf ihn anschauen. Niemand darf ihn ansprechen. Niemand darf ihn berühren. Es genügt für die Glaubenden, seine Gegenwart zu spüren. Oder doch nicht?
Die beiden Weihnachtsszenen – Hirten und Engel auf dem Feld bei den Schafen und die knienden Hirten auf dem Feld – verwandeln auch dieses Gottesbild eines absoluten Monarchen. Das göttliche Baby löst eine große Verwandlung aus. Unnahbarkeit verwandelt sich in Nähe. Majestät verwandelt sich in Zärtlichkeit. Verbote verwandeln sich in Glauben. Aus „Nicht ansprechen! Nicht anschauen! Nicht berühren!“ wird „Schaue hin! Laß dich anrühren! Staune!“ Am Heiligen Abend hat sich Gott in einer Weise verändert, die sich zuvor niemand auch nur vorstellen konnte. Aus dem unnahbar thronenden Kaiser ist ein kleines, anrührendes Kind geworden. Gott schreit. Gott trinkt Milch. Gott wird in Windeln gewickelt. Gott schläft. Gott öffnet die kleinen, vom Schlaf verklebten Augen.
Dieser Gott, liebe Schwestern und Brüder, kümmert sich um die Menschen, nicht um die Statistiken. Und auch das hat Johannes von Patmos gewußt, denn er nennt den schreienden, in Windeln gewickelten Gott: das Lamm. Das Lamm und das in Windeln gewickelte Christkind haben gemeinsam, daß sie gerade erst geboren, unschuldig, noch nicht richtig auf die Welt vorbereitet sind, dabei zart, zerbrechlich und schutzbedürftig. Und genau dann, wenn wir dieser Spur folgen, die Johannes von Patmos in seiner Vision legt, entdecken wir Gott.
4.
Und nun kommt die „große Schar“ ein zweites Mal ins Spiel. Denn vor dem Thron des Lammes und auf der Südtribüne des Dortmunder Fußballstadions schweigen die Menschenmengen ja nicht, sondern sie jubeln begeistert. Sie singen. Sie klatschen. Selbstverständlich unterscheiden sich die gegrölten und manchmal vom Alkohol aufgeputschten Fangesänge von den Melodien der himmlischen Heerscharen. Aber beides lebt doch von der ungebändigten Freude, dem großen Enthusiasmus und der spontanen Begeisterung. Torjubel ist der ungebändigte kleine Bruder des Gotteslobs.
Und das jubelnde Gotteslob läßt an die riesigen Posaunenchöre des Kirchentags denken, an alle geistlichen Konzerte und die Gospelaufführungen von Kinderchor, Kammerchor und Kantorei. Das gemeinsame Singen vergrößert die großen Scharen noch, die sich zum Lob Gottes versammelt haben: Jauchzet, frohlocket! Auf preiset die Tage!
Wer Gott nicht mehr findet in der Welt von Terabytes, Milliardensubventionen und Facebookfreunden, der rennt an eine Mauer aus Statistiken und verzweifelt. Wer sich einmal umdreht und der Blickrichtung folgt, die das Kind in der Krippe an Weihnachten vorgibt, der entdeckt Glauben und Enthusiasmus, Freude und Fröhlichsein. Es tut gut, sich an Weihnachten daran zu erinnern, daß genau darin die Zukunft des Glaubens besteht. Kein Kollegium aus klerikalen Funktionären wird diesen Glauben kaputtmachen können. Übrigens auch kein Familienstreit an Weihnachten und keine verbrannte Weihnachtsgans oder ein Christbaum, der vor lauter Vorbereitungsstreß in Flammen aufgegangen ist.
Wer von und über Weihnachten singt, der singt zugleich über die Hoffnungen des Glaubens, über den Frieden Gottes, der jede Statistik umkehrt und jedes harte Kosten-Nutzen-Denken in Liebe und Zärtlichkeit auflöst. Liebe Schwestern und Brüder, wir kommen vom Kind in der Krippe, das wir am Heiligen Abend bestaunt haben. Wir hoffen auf den himmlischen Thronsaal, wo uns das Kind in Gestalt des Lammes wiederbegegnen wird. Das ist Grund genug, auch jetzt gemeinsam zu singen. Und ich bitte Sie, daß wir aufstehen: O du fröhliche, o du selige…
Amen.