Entdeckerfreude -Predigt zu Römer 15,7 von Claudia Krüger
15,7

Entdeckerfreude

„Nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes.“

„Alle sind weg, keiner hat für mich Zeit,  und aussehen tu´ ich schrecklich, schau´ mich mal an! Am Ende werde ich noch ein MOF!“ Sie erntete für diese Klage nichts als Heiterkeit und musste dann selbst mitlachen, denn dieses aufgeweckte hübsche kontaktfreudige junge Mädchen wird niemals Gefahr laufen, ein „MOF“ zu werden.  Es ist schon einige Jahre her, seit ich diesen schrecklichen Begriff zum ersten Mal von meiner Tochter gehört habe: „MOF!“ Das bedeutet nichts anderes als „Mensch ohne Freunde.“

Und die gibt es ja leider häufig. Ganz schnell wird da jemand in der Schulklasse zum Außenseiter, mit dem keiner sich abgibt und erst recht keiner sich in der Freizeit verabreden will. Einen Grund für unser ausgrenzendes Verhalten finden wir schnell - sei es das Aussehen, sei es die vermeintliche Eitelkeit oder die fremde Herkunft – ganz schnell wird jemand ins Abseits befördert, denn viel rascher finden wir an Menschen etwas Negatives, als dass wir liebevoll nach dem Liebenswerten unseres Gegenübers forschten!

Auch hier in unserer Gemeinschaft im Pflegeheim (in der Gemeinde) gibt es Menschen, die überaus beliebt sind, die man wertschätzt, mit denen man gerne am Tisch sitzt und sich angeregt unterhält. Und es gibt andere, die man lieber meidet – aus vielerlei Gründen, meistens jedoch ganz banalen.

Lebt ein Mensch gar mit Behinderungen, so ist es, wie ich jüngst der Zeitung entnommen habe, immer noch die Regel, dass Betriebe sich von der Verpflichtung freikaufen, ihnen einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen, der ihnen von Rechts wegen zusteht.

Auch in der Gemeinde in Rom war es nicht anders. Streit gab es dort, der sich an harmlosen Fragen entzündet hatte. Darf man aufgrund der Speisevorschriften ein bestimmtes Fleisch essen oder nicht? Darf man Wein trinken oder nicht, oder muss man bestimmte Festtage einhalten? „Streitet nicht über Meinungen!“, mahnt der Apostel seine Gemeinde. „Lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander.“ Denn es geht doch um viel wesentlichere Dinge, nämlich um das, was Gott selbst wichtig ist und das Handeln der Menschen bestimmen soll: „Im Reich Gottes zählt nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im dem Heiligen Geist.“

Und so mahnt er im Blick auf das angemessene Verhalten der Menschen in der Gemeinde, sie sollten das Unvermögen der Anderen mittragen und nicht Gefallen an sich selbst haben, vielmehr: „Jeder (und jede) von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Erbauung.“

 „Denn auch Christus hatte nicht Gefallen an sich selbst“, sondern er hat Demütigungen auf sich genommen. Ihm gemäß sollen die Menschen leben, wozu uns Gott Geduld und Trost geben möge, zum Lobe Gottes.

„Darum nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes.“

Schauen wir uns einmal vorsichtig um, dann fällt uns das gar nicht so leicht, wenn wir ehrlich sind. Schon die Wahl des Sitzplatzes verrät ja mitunter viel über unsere Sympathie oder Antipathie. Manch eine würden wir gerne zum Kaffee einladen und finden stets ein freundliches Wort und einen wertschätzenden Blick,  mit anderen aber wollen wir eigentlich nichts zu tun haben. Zu fremd, zu eingebildet, zu merkwürdig, zu schwach, zu unangenehm, zu…- erschreckend, wie viele Gründe wir sofort finden!

Nein, es ist nicht so einfach, eine wertschätzende tolerante Gemeinschaft zu leben, auch nicht in der Gemeinschaft der Christen!

Und auch in der eigenen Familie fällt das mitunter schwer, denken wir nur an die Spannungen zurück, die sich in den meisten Familien um die Weihnachtstage verdichten. Familie pur, mit all den mehr oder weniger erfreulichen Eigenschaften und Verhaltensweisen, die die Versammelten so mit sich bringen: Ecken und Kanten, Schrulliges und Exzentrisches, Langweiliges aber Gottseidank auch enorm Liebenswertes, Geduld, Großzügigkeit, Humor, Versöhnliches, Charmantes und Verbindendes.

Die Jahreslosung für dieses neue Jahr ist in meinen Augen eine enorme Herausforderung an unsere Toleranz und unsere Menschenliebe. Sie fordert uns heraus, die Augen füreinander zu öffnen, ohne dass uns ständig unsere Vorurteile in den Blick geraten. Sie will uns dazu herausfordern, mit hell wachem Verstand nach dem Willen unseres Gottes zu fragen.

Und der ist hier ja verblüffend eindeutig!

Liebe Gemeinde, das neue Jahr könnte ein Jahr des unermüdlichen Einübens von Toleranz und Großzügigkeit werden!

Nun heißt das freilich nicht, dass wir duldsam alles ertragen und widerspruchslos hinnehmen sollen, oder womöglich Unrecht ertragen müssten. Da gilt es weiterhin vehement zu widersprechen und dem Unrecht zu wehren.

Aber den Menschen als Menschen sollen wir annehmen und als geliebtes Geschöpf Gottes, als Ebenbild Gottes erkennen, „zur Ehre Gottes“. Denn hinter der Ehre Gottes, der Doxa, die wir einem Menschen entgegenbringen sollten, verbirgt sich ja auch die Herrlichkeit Gottes, von deren Glanz der Mensch wiederum ein Bild und Abglanz ist.

Christus, der Gottessohn, war sich nicht zu schade, auf seine Hoheit zu verzichten, ja, er kam ganz herab in unsere irdische, allzu irdische Welt. Er wurde Mensch, uns Menschen zugute- die ärmliche Krippe im Stall wurde zum Zeichen seiner Gottheit. Mit äußerster Hingabe und Liebe wandte er sich den Menschen zu, kam zu uns bis auf Augenhöhe von Hirten und kleinen Frauen.

Auch dem erwachsenen Christus war keiner je zu gering, zu eigensinnig, zu unwürdig, bei keinem gab er jemals die Hoffnung auf.

Er suchte den skrupellosen Betrüger auf und setzte sich zu ihm an seinen Tisch. Er gab ihm Würde zurück und die Fähigkeit, seine Fehler zu erkennen und einen neuen ehrlichen Weg einzuschlagen.

Er liebte die schwarzen Schafe und auch die schrägen Vögel, die Engstirnigen und die Anstrengenden.  Bei den Trauernden war er zu Gast und tröstete sie.

Dem Petrus, dem Fels, der sich hoffnungslos in seiner Treue überschätzt hatte, gab er einen neuen verantwortungsvollen Auftrag: „Weide meine Schafe!“

Den Besessenen und Kranken brachte er Heilung, den Verlorenen ging er so lange nach mit äußerster Hingabe, bis sie in seinen Armen Geborgenheit fanden und aus dieser Geborgenheit heraus wieder frei und hoffnungsvoll leben konnten.

Christus ging in seiner Hingabe bis zum Äußersten. Auf dass wir Menschen niemals verloren gehen und auch die letzte Finsternis nicht ohne Licht bleibt.

Liebe Gemeinde,

je mehr wir uns selbst als Geschöpfe Gottes erfahren, voller Würde und unendlich geliebt, umso mehr können wir unsere eigenen Begabungen entdecken und entfalten.

Und umso mehr können wir auch anderen Menschen mit Liebe und Wertschätzung begegnen und uns erfreuen an ihren vielfältigen Begabungen und liebenswerten Eigenwilligkeiten.

Vielleicht können wir uns sogar als die Gemeinschaft der von Gott Geliebten und Tolerierten, ja manchmal auch mühsam von Gott Ertragenen erkennen!

Wer sich wirklich zutiefst geliebt fühlt, der braucht sich nicht in großem Geltungsbedürfnis permanent hervor tun und muss auch nicht immer im Lampenlicht stehen, sondern der-  oder diejenige strahlt aus sich selbst! Und wie! Wahre Größe muss sich nicht krampfhaft recken und strecken, sondern erweist sich einfach als großartig und übrigens auch als großzügig!

Früher war ich häufig mit meiner Familie zum Wandern unterwegs. Gelegentlich entdeckten wir wunderbare Versteinerungen dort oben in der kargen Gegend der Schwäbischen Alb, inmitten von grau-beigen Steinen. Mit der Zeit wurde der Blick schärfer, so dass wir immer mehr dieser faszinierenden Fossilien entdeckten: Kleine Schnecken der Vorzeit, versteinerte Seeigel, Haifischzähne. Und wenn man besonders geduldig suchte, dann fand man mitunter einen zunächst unscheinbaren Stein, der sich aber beim Umdrehen glänzend präsentierte – eine Steindruse, deren Inneres nur so glitzerte und funkelte. Hielt man sie ans Licht, so entfaltete sie eine einzigartige Schönheit.

So muss auch mancher Zeitgenosse behutsam entdeckt werden und zeigt vielleicht erst einmal nur ein graues Gesicht. Wird er oder sie aber nicht achtlos weggekickt, sondern ganz geduldig mit Liebe gehalten, so kann er oder sie mit einem Mal eine unglaubliche Schönheit entwickeln.

Erst vor kurzem habe ich in einer Radiosendung zur Hirnforschung erfahren, dass bei einem anderen Menschen Endorphine ausgeschüttet werden, wenn man ihm mit Lächeln und Freundlichkeit begegnet.

Solch liebevolles Entdecken des anderen Menschen, mit großer Neugier, Ausdauer, Idealismus und Entdeckerfreude, gibt Gott, dem Schöpfer allen Lebens die Ehre!

Nicht nur die Prachtvollen, Intelligentesten und Schönsten dieser Zeit sind von Gott geliebt, sondern auch und gerade die, die sich erst unter einem zweiten liebevollen Blick in ihrer Schönheit entfalten. Dann aber wird möglich, was Eugen Drewermann einmal als das Wichtigste im Leben bezeichnet hat:

Es ist das Wichtigste, was wir im Leben lernen können:
Das eigene Wesen zu finden und ihm treu zu bleiben.
Allein darauf kommt es an,
und nur auf diese Weise dienen wir Gott ganz:
dass wir begreifen, wer wir selber sind,
und den Mut gewinnen, uns selber zu leben.
Denn es gibt Melodien,
es gibt Worte, es gibt Bilder, es gibt Gesänge,
die nur in uns, in unserer Seele schlummern,
und es bildet die zentrale Aufgabe unseres Lebens,
sie auszusagen und auszusingen.
Einzig zu diesem Zwecke sind wir gemacht,
und keine Aufgabe ist wichtiger, als herauszufinden,
welch ein Reichtum in uns liegt.
Erst dann wird unser Herz ganz,
erst dann wird unsere Seele weit,
erst dann wird unser Denken stark.
Und erst mit allen Kräften, die in uns angelegt sind,
dienen und preisen wir unseren Schöpfer,
wie er es verdient.    

Vielleicht könnten wir unsere Verschiedenheit als große Bereicherung erfahren, wie das ja auch in zahlreichen Bildern zur Jahreslosung zum Ausdruck kommt.

So hat die Künstlerin, Stefanie Bahlinger, das Motiv eines bunten Flickenteppichs gewählt. Ganz unterschiedliche kleine Flicken sind da großzügig aneinander genäht – Schriften in unterschiedlichen Sprachen neben Melodien und unzähligen bunten Farben und fantasievollen Mustern. Sie alle zusammen bilden ein großes wunderbares Kunstwerk.

Auf einem anderen Bild fassen sich die unterschiedlichsten Menschen an den Händen und betrachten gemeinsam einen strahlenden rot und gelb leuchtenden Horizont.

  „Darum nehmt einander an wie Christus euch angenommen hat zur Ehre Gottes.“

Würden wir also in der Vielfalt der Menschen die Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen erkennen und würden wir uns darüber von Herzen freuen, dann würde das

wahrhaftig Gott zur Ehre gereichen!

Das wäre das überschwänglichste Lob, das wir ihm entgegenbringen könnten!

Dem, dem wir doch in Wirklichkeit alles zu verdanken haben, auch unser eigenes Dasein und Sosein.

Wenn alle das übten, ein ganzes Jahr lang und darüber hinaus, mit unermüdlichem Fleiß und Idealismus, dann sähe die Welt im neuen Jahr freundlicher aus!

Übrigens: wir müssen es ja nicht allein aus unserer eigenen Kraft schaffen, sondern dürfen uns inspirieren lassen vom Heiligen Geist, der uns umweht und begleitet und uns mitunter auch kräftig vorantreiben kann!

So möchte ich Ihnen zuletzt und zu diesem neuen Jahr noch einen Anstoß mitgeben, den „Anstoß zum Frieden“ von Hanns Dieter Hüsch:

ANSTOSS ZUM FRIEDEN
Stellt die Meinungen ein
Dass die Liebe gedeiht
Lasst die Liebe blühen
Dass der Frieden wächst
Lasst den Frieden in Euer Herz
Dass die Menschen erlöster aussehen
Befreit den Menschen
Damit er von den Ansichten lässt
Und die Meinungen einstellt
Und sagen kann
Ich bin für Dich
Und nicht gegen Dich
Ich bin mit Dir
Und nicht vor Dir oder nach Dir
Ich bin neben Dir und nicht über Dir
Ich bin bei Dir
Auch wenn Du gegen mich bist
Lasst uns Gottes versammelte Großzügigkeiten werden
Und seine Artisten sein
Die Welt überwinden
Nicht mit Leichtigkeit gewiss
Aber mit Zuversicht
Geduld und Freundlichkeit
Lasst uns Nachsicht üben
Wo andere den Schlussstrich ziehen
Lasst uns spielerisch auftreten
Wo andere mit dem Fuß aufstampfen
Lasst uns Feinde in Freunde verwandeln

Viele sagen
Das sei ihnen unmöglich
Andre sagen
Das entspräche nicht ihrem gesunden Menschenverstand
Es kann auch nicht unserem Verstande entsprechen
Es kann nur der Liebe Gottes entsprungen sein
Und ist ein Geschenk außerhalb unserer Reichweite,
Außerhalb der Geschichte
Öffnen wir unsere Augen und unsere Herzen und
nehmen wir endlich das Geschenk an
Es ist dies unsere einzige Chance Weltfrieden zu machen
und allen Menschen ein Wohlgefallen zu bereiten

Amen.

 

Perikope
01.01.2015
15,7